Massaker von Piaśnica

Massaker von Piaśnica
Gedenkstätte auf einem ehemaligem Massengrab im Wald von Piaśnica.

Die Massaker von Piaśnica gelten als erste systematisch durchgeführte Mordaktion der Nationalsozialisten im deutsch besetzten Europa.
Kurz nach Beginn des Zweiten Weltkrieges, zwischen September und Dezember 1939, ermordeten Angehörige der SS und des „Volksdeutschen Selbstschutzes“ in den Wäldern um Piaśnica mehrere tausend Menschen. Ein zwölf Meter hohes Denkmal an der Hauptstraße zwischen Wejherowo und Krokowa soll an das Geschehen erinnern.

Inhaltsverzeichnis

Vorgeschichte

Unmittelbar mit dem Überfall auf Polen am 1. September 1939 erfolgte unter Bruch des Versailler Vertrages die Eingliederung der Freien Stadt Danzig in deutsches Reichsgebiet. Adolf Hitler ernannte Danzigs NSDAP-Gauleiter Albert Forster zum Chef der Zivilverwaltung und später zum Reichsstatthalter. Forster, Bankkaufmann, und seit 1923 Mitglied der NSDAP, gilt als einer der Hauptverantwortlichen für die Massaker, denen nach Historikerschätzung etwa 10.000 bis 13.000 Menschen zum Opfer fielen. Er galt als ehrgeizig und bestrebt, Hitler seinen Gau als erster Gauleiter nicht nur „judenfrei“, sondern auch „polenfrei“ melden zu können.[1]

Opfer

Gedenktafel für die Feuerwehrmänner aus Wejherowo, die den Massakern zum Opfer fielen.

Das Chaos der ersten Kriegstage nutzten die Nationalsozialisten für eine Reihe systematisch geplanter Vernichtungsaktionen im Wald von Piaśnica. Unter den Opfern befanden sich neben Angehörigen der polnischen und kaschubischen Intelligenz auch Patienten deutscher und polnischer Psychiatriekliniken sowie Deportierte aus dem Reichsgebiet.[1]

Vernichtung der Intelligenz

Siehe auch: „Intelligenzaktion“; Unternehmen Tannenberg

Polen und Kaschuben gehörten zu den ersten Opfern des deutschen Überfalls. Der polnische Historiker Piotr M. Majewski schätzt, dass etwa 2.000 der im Wald von Piaśnica Ermordeten der ethnischen Minderheit der Kaschuben angehörten. Fanatisierte Volksdeutsche, die sich im „Volksdeutschen Selbstschutz“ paramilitärisch organisiert hatten, führten bereits vor Kriegsbeginn Namenslisten ihrer polnischen und kaschubischen Nachbarn, Lehrer, Pfarrer, Bürgermeister, Kaufleute, Richter, Künstler, etc., die sie Anfang September 1939 Gestapo und SS übergaben. Unmittelbar nach dem Eintreffen der Wehrmacht wurden die betreffenden Männer und Frauen im Kreis Wejherowo, in Gdynia und Danzig verhaftet und zunächst im Gefängnis von Wejherowo gesammelt, von wo aus sie die SS in geschlossenen LKW in den Wald von Piaśnica transportierte und dort ermordete.[1]

Euthanasiemorde

Siehe auch:Aktion T4

Im Wald von Szpegawsk, bei Starogard Gdański, südlich von Danzig, ermordete die SS etwa 2.000 polnische Patienten der „Irrenanstalt Konradstein“. Weitere „Geisteskranke“ aus den deutschen Heil- und Pflegeanstalten Stralsund, Stettin-Kückenmühle, Treptow an der Rega, Ueckermünde, Lauenburg in Pommern und Meseritz-Obrawalde wurden im Wald von Piaśnica ermordet. Die Patienten wurden bei Kriegsbeginn von der SS in der Heilanstalt Stralsund zusammengeführt und in November und Dezember deportiert. Nachweislich wurden 1.285 Patienten aus mindestens zehn Transporten kurz nach ihrer Ankunft am Bahnhof von Wejherowo im Wald von Piaśnica durch Angehörige des SS-Wachsturmbanns Eimann erschossen. Kurt Eimann, einer der Hauptverantwortlichen, schilderte den Hergang:

„Die Kranken wurden [am Bahnhof] durch SS-Männer auf Lastwagen geladen, die meiner Truppe zur Verfügung standen. Die LKW fuhren dann bis auf 50 Meter an die Erschießungsstelle heran. Dort ließ ich die Kranken einzeln aussteigen. Jeweils zwei SS-Männer führten den Geisteskranken bis an den Rand der Grube, ein dritter SS-Mann folgte mit einer Pistole 08. Am Grubenrand schoss der dritte SS-Mann den Kranken mit der Pistole in das Genick, sodass er in die Grube fiel. Dieser Vorgang wiederholte sich einzeln hintereinander bei sämtlichen Kranken des Transportes.[2]

Polnische Kriegsgefangene aus dem KZ Stutthof mussten die Leichen verscharren und wurden im Anschluss daran auf Weisung Eimanns ebenfalls erschossen.[1]

Deportierte aus dem Reichsgebiet

Die Deportierten aus dem Reichsgebiet, Antifaschisten, Juden, Deutsche polnischer und tschechischer Herkunft, sowie Polen, die in der Zwischenkriegszeit als Landarbeiter in Deutschland gelebt hatten, bilden mit 8.000 bis 10.000 Menschen die größte Opfergruppe. Direkt am Bahnhof mussten sie ihre Koffer abgeben, bevor sie von der SS auf Lastwagen der Wehrmacht verladen, und zur Erschießung in die Wälder von Piaśnica transportiert wurden. Größere Kinder wurden noch in Wejherowo von ihren Familien getrennt, „Das Geschrei der verzweifelten Mütter war auf den Straßen der Stadt zu hören. Sie durften nur die Säuglinge bei sich behalten“, so die polnische Historikerin Barbara Bojarska.[1]

Beseitigung der Spuren

Insgesamt wird die Anzahl der bei den Massakern von Piaśnica Ermordeten auf 10.000 bis 13.000 geschätzt, die exakte Zahl ist nur noch sehr schwer ermittelbar. Beim Näherrücken der Roten Armee, Ende August 1944, zwangen die Deutschen 36 KZ-Häftlinge aus dem KZ Stutthof die Leichen auszugraben und zu verbrennen. Nach knapp sieben Wochen wurden diese Gefangenen dann selbst getötet. Dieser Versuch, die Spuren der Verbrechen zu verwischen, misslang. Eine Kommission, die den Ort im Herbst 1946 untersuchte, stieß auf die Überreste von 30 Massengräbern, zwei davon mit unverbrannten Leichen. Bis heute wurden über 500 der Opfer identifiziert.[1]

Täter

Albert Forster im August 1939

Der Historiker Piotr M. Majewski schätzt, dass an den einzelnen Mordaktionen jeweils 40 bis 50 Personen beteiligt waren, Danziger SS-Angehörige und Volksdeutscher Selbstschutz, also ortsansässige Deutsche. Beim Danziger Prozess gegen Albert Forster berichteten Augenzeugen von betrunkenen Gestapobeamten, die auf Priester schossen, die sie zuvor „in die Bäume gehängt“ hatten, sowie von halb-tot verscharrten Opfern, die versucht hatten sich auszugraben. Allein am 11. November 1939 ermordeten die deutschen Besatzer 300 Menschen. Forster wurde im April 1948 vom Obersten Polnischen Nationalen Gerichtshof zum Tod durch den Strang verurteilt und nach einem abgewiesenen Gnadengesuch im Februar 1952 hingerichtet.[1]

Ludolf-Hermann von Alvensleben, vom 9. September bis zum 22. November 1939 Leiter des „Volksdeutschen Selbstschutzes“ in Westpreußen, gelang die Flucht aus britischer Kriegsgefangenschaft. Er setzte sich nach Argentinien ab und entging so einer Strafverfolgung.

Kurt Eimann, der gerne das erste Opfer persönlich erschoss, um „seinen Männern ein Vorbild zu sein“, wurde am 20. Dezember 1968 vom Landgericht Hannover wegen gemeinschaftlichen Mordes an mindestens 1.200 Menschen zu vier Jahren Haft verurteilt, von denen er zwei Jahre verbüßte.[1]

Der kaschubische Fotograf und Heimatforscher Edmund Kaminski, der die Massaker von Piaśnica akribisch dokumentiert hat, gibt an, dass die Namen der ortsansässigen Täter bekannt seien, „von denen einige nach Deutschland geflohen sind. Aber keinem wurde dort der Prozess gemacht“.[1]

Historische Aufarbeitung

Die Massaker von Piaśnica sind in Deutschland, aber, wie Piotr M. Majewski in der Zeit betont, auch in der polnischen Öffentlichkeit relativ unbekannt. Majewski führt dies unter anderem darauf zurück, dass Piaśnica ein kaschubischer Ort ist: „Das kommunistische Regime hatte kein Interesse daran, dass darüber gesprochen wird. Weil zu den Opfern von Piaśnica mehrheitlich Deutsche und Kaschuben gehörten, war es der kommunistischen Geschichtsschreibung nicht wichtig, daran zu erinnern.“ Barbara Bojarska, die in den 1970ern zu dem Thema forschte, wurde von der Stasi angehalten, ihre Arbeit nicht zu publizieren.[1]

Literatur

  • Barbara Bojarska: Piaśnica. Miejsce martyrologii i pamięci: z badań nad zbrodniami hitlerowskimi na Pomorzu [Piasnitz. Ort des Martyriums und des Gedenkens. Aus den Forschungen über die Naziverbrechen in Westpreußen], 4. erweiterte und überarbeitete Aufl., Wejherowo 2009, ISBN 978-83-927383-8-1 (Deutschsprachige Zusammenfassung und Quellen im Anhang).

Weblinks

  • Thomas Grasberger: Der Totenwald, in: Die Zeit, 20. Januar 2011, S. 18.

Einzelnachweise

  1. a b c d e f g h i j Vgl. Thomas Grasberger: Der Totenwald; Die Zeit, 20. Januar 2011, S. 18.
  2. Zitiert nach Thomas Grasberger

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