Morphologie (Linguistik)

Morphologie (Linguistik)

Unter Morphologie (auch: Morphematik oder Morphemik) versteht man in der Sprachwissenschaft ein Teilgebiet der Grammatik. Die Morphologie befasst sich mit der inneren Struktur von Wörtern und widmet sich der Erforschung der kleinsten bedeutungs- und/oder funktionstragenden Elemente einer Sprache, der Morpheme. Diesbezüglich wird die Morphologie – in Anlehnung an den Terminus „Satzgrammatik“ für die Syntax – auch als „Wortgrammatik“ bezeichnet. Der Grenzbereich zwischen Morphologie und Syntax ist die „Morphosyntax“ und erforscht die gegenseitigen Beeinflussungen von morphologischen und syntaktischen Prozessen. Die gegenseitigen Abhängigkeiten zwischen morphologischen und phonologischen Prozessen, also Vorgängen betreffend die Sprachlaute, behandelt die Morphonologie.

In der traditionellen Schulgrammatik ist Morphologie gleichbedeutend mit Formenlehre, die, vom Wort ausgehend, die Analyse der Flexionsformen und der Wortarten umfasst und auch die Wortbildung einbeziehen kann.

Inhaltsverzeichnis

Begriffsherkunft

Der Begriff Morphologie wurde im 19. Jahrhundert von den Sprachwissenschaftlern aus einer anderen wissenschaftlichen Disziplin übernommen, um typische Wortbildungsmuster zu beschreiben. Ursprünglich stammt der Ausdruck von Johann Wolfgang von Goethe, der ihn für die Lehre von den Formen, besonders in der Botanik, eingeführt hat. August Schleicher übernahm ihn 1860 für die Sprachwissenschaft, verwendete ihn allerdings nur in einer Überschrift, und der Terminus wurde zunächst wenig beachtet. Den Begriff Morphem verwendet Leonard Bloomfield bereits in seinem Aufsatz „A set of postulates for the science of language“ (1926): „A minimum form is a morpheme; its meaning a sememe“.[1]

Forschungsfelder und Forschungsinhalte

Die Morphologie ist mit ihren Analysemethoden und Begriffen ganz wesentlich durch den amerikanischen Strukturalismus geprägt; Bloomfield (1933) [2] und Zellig S. Harris (1951)[3] widmen ihr in ihren grundlegenden Werken eigene Kapitel.

Abgrenzungsprobleme

Der Status der Morphologie hat sich immer wieder geändert, sowohl bei der Frage, welche Bereiche der Sprachbeschreibung ihr zuzurechnen sind, als auch hinsichtlich ihrer Einbettung in die Regelsysteme der verschiedenen Grammatikmodelle.

Morphologie als Untersuchung der Wortstruktur generell umfasst in der Regel Wortbildung und Flexion. Einige Schulen betrachten Wortbildung aber als eigene Disziplin.

Der Unterschied zwischen Flexion und Wortbildung besteht im Wesentlichen darin, dass durch Wortbildung neue Wörter entstehen, während die Flexion die grammatischen Funktionen der Wörter im Satz zum Ausdruck bringt. So wird aus dem Substantiv „(die) Tat“ durch Wortbildung, beispielsweise durch Ableitung mit dem Präfix „un-“, das neue Wort „Untat“. Durch Flexion aber entsteht aus „Tat“ in einem Satz wie „Die Taten müssen bestraft werden“ kein neues Wort, sondern „Tat“ ist mit dem Verb „müssen“ eben mittels der Form „Taten“ in Übereinstimmung (Kongruenz) zu bringen, wobei gleichzeitig auch Plural angezeigt wird. „Tat“ und „Untat“ sind demnach zwei verschiedene Wörter, während „Tat“ und „Taten“ zwei Formen desselben Wortes darstellen. Der gleiche Fall liegt etwa bei „schreiben“ und „beschreiben“ bzw. „schreiben“ und „schreibst“ vor. Zugleich trägt die Flexion aber auch zur Bedeutung der Wörter bei. So hat etwa „Taten“ einen anderen, weiteren Bedeutungsumfang als „Tat“.

Abgrenzungschwierigkeiten zwischen Wortbildung und Flexion können dann auftreten, wenn in Flexion und Wortbildung die gleichen grammatischen/semantischen Funktionen zum Ausdruck kommen. Im Deutschen ist das grammatikalische Geschlecht (Genus) eine solche Kategorie: Einerseits gibt es eine Genusflexion bei Artikeln, Adjektiven und Pronomen, das heißt Wörter werden je nach grammatikalischem Geschlecht unterschiedlich flektiert bzw. „der“, „die“ und „das“ sind flektierte Formen des bestimmten Artikels; andererseits existiert bei Substantiven auch eine Genusableitung: aus „Löwe“ wird durch Wortbildung mit dem Suffix-in“ die weibliche Form „Löwin“. Der Unterschied zwischen Flexion und Wortbildung liegt im weitreichenderen Charakter der Flexion: Ein Artikel muss immer flektiert werden, wenn er in einem Satz verwendet wird; im Regelfall kann man aber nur wenige Substantive durch Genusableitung verändern, und zwar nur diejenigen, die Menschen und einige uns nahestehende Tiere bezeichnen. Ausnahmen davon – wie etwa im Fall „Die Rättin“, dem Namen eines Romans von Günther Grass – sind zwar verständlich, aber in unterschiedlicher Weise markiert.

Die Bezeichnung der Grundeinheit „Morphem“ als kleinste bedeutungs- oder funktionstragende Einheit der Sprache bietet ebenfalls eine Untergliederungsmöglichkeit innerhalb des Gebiets der Morphologie und hat zu Forschungsdebatten geführt (vgl. etwa die Diskussion über die Regeln der Verwendung und des Bedeutungsinhalts von Fugenelementen und die daraus resultierende Vielzahl an Bezeichnungen).

Morph, Allomorph und Morphem

Die Termini „Morph“, „Allomorph“ und „Morphem“ sind Bezeichnungen für die kleinsten bedeutungs- oder funktionstragenden Bestandteile eines Wortes. Als Morphe bezeichnet man die hinsichtlich ihres Typs noch nicht klassifizierten Einheiten. Beispielsweise liegen in den Wörtern „Lehr-er“, „Kind-er“ und „größ-er“ drei -er-Morphe vor. Erst nach Eruierung ihrer Funktion und Bedeutung kann man sie bestimmten Morphemen zuordnen: Das -er in „Lehrer“ wird zur Bildung des maskulinen „Nomina agentis“ benutzt, -er in „Kinder“ zur Bildung des Plurals und -er in „größer“ zur Bildung eines Komparativs.

Haben Morphe mit unterschiedlicher Form dieselbe Funktion, handelt es sich um sogenannte Allomorphe eines bestimmten Morphems. So kodieren beispielsweise die Affixe -er in „Kinder“, -e in „Hunde“, -(e)n in Fragen, -s in „Autos“, aber auch das Nullmorphem, wie in „der/die Wagen“, an deutsche Nomen angehängt jeweils Plural; sie sind somit Allomorphe des Pluralmorphems. Haben verschiedene Morpheme dieselbe Form, so handelt es sich um einen Fall von Synkretismus.

Regeln der Flexion und Wortbildung

Es lassen sich verschiedene Verfahren oder Regeln unterscheiden, die bei der Flexion und der Wortbildung zu beobachten sind.

Flexion (Beugung)

Hauptartikel: Flexion

Zur Flexion zählen Konjugation und Deklination. Viele Autoren zählen auch die Steigerung, Komparation zur Flexion.

Beispiel: Ich brauche Trinkwasser.

An das Grundmorphem brauch- wird e als Flexionsmorphem für 1. Person Singular Präsens Indikativ Aktiv angehängt.

In neueren Analysen wird die Flexion allerdings nicht mehr der Morphologie zugeordnet, da sie allein auf der syntaktischen Ebene eine Rolle spiele. Dagegen lässt sich einwenden, dass Plural fast immer und Genus oft auch auf der semantischen Ebene eine Rolle spielen.

Derivation (Wortableitung)

Hauptartikel: Derivation (Linguistik)

Derivation bezeichnet Wortbildung durch Kombination von Grundmorphemen und Affixen.

Beispiel: Gesund-heit, Freund-schaft, Mann-schaft

An das Grundmorphem Gesund wird heit angehängt, ein Derivationsmorphem, um Adjektive in Substantive zu überführen.

Komposition (Wortzusammensetzung)

Hauptartikel: Komposition (Grammatik)

Komposition bedeutet die Bildung von Wörtern aus mindestens zwei Grundmorphemen, Wörtern; sie können aber beliebig viele Ableitungselemente enthalten.

Beispiele: Sprach-wissenschaft, Schiff-fahrt-s-gesellschaft, Schul-hof, Rot-verschiebung

Durch Kombination des Grundmorphems Sprach(e) mit dem aus Derivation entstandenen Wort Wissenschaft (Ableitung von Wissen, dies gebildet aus wiss+en) entsteht ein Kompositum. Im Falle des Dreifachkompositums Schifffahrtsgesellschaft ist zwischen dem Kompositum Schifffahrt und dem Simplex Gesellschaft das Fugenelement -s- eingefügt. Ein anderes Fugenelement ist etwa -e- wie in Schwein-e-braten (vorwiegend in Deutschland, dagegen Schwein-s-braten vorwiegend in Österreich). In den Fällen Sprachwissenschaft und Schulhof wird bei den ersten Grundmorphemen Sprache und Schule der Auslaut getilgt.

Kürzungen

Hier unterscheidet man in:

- die Abkürzung, bei der man die Anfangsbuchstaben der einzelnen Morpheme, aus denen sich das Wort zusammensetzt, einzeln ausspricht

Beispiel: Wintersemester → WS

- das Akronym, das denselben Regeln wie die Abkürzung folgt, wobei hier jedoch ein neues phonetisches Wort entsteht

Beispiel: Deutsches Institut für Normung → DIN

- die Kürzung, bei der Wortmaterial gelöscht wird, um ein weniger kompliziertes Wort zu erstellen

Beispiel: Universität → Uni

Konversion

Hauptartikel: Konversion (Linguistik)

Nicht alle Wissenschaftler zählen auch die Konversion zur Wortbildung. Konversionen sind z. B. Verben, die ohne Morphem nur durch Verwendung und (im Deutschen) durch Großschreibung in Substantive überführt werden.

Beispiel: denken → das Denken

Ein weiteres Beispiel für Konversion ist die Pluralbildung von (das) Kissen zu (die) Kissen. Hier ist gar keine Formänderung sichtbar. Diese Konversion kann als Anwendung eines nicht mit Form behafteten Morphems auf das Wort (das) Kissen angesehen werden. Dieses Morphem wird „Nullmorphem“ oder „Zero-Morphem“ genannt und vielfach in der Form „Ø-Morphem“ geschrieben. Viele Autoren unterscheiden aber Konversion als Verfahren der Wortbildung von Pluralbildung als Verfahren der Flexion.

Eine andere Definition von Konversion besagt, dass es sich hierbei um eine geringe Änderung des Morphems handelt und schließt somit die Flexion mit ein. Die vorher erwähnte Form der Konversion wird in diesem Zusammenhang „Null-Ableitung“ genannt.


Viele morphologische Phänomene lassen sich formal mit regulären Ausdrücken beschreiben, besonders wenn sie rein aus Affigierungen ohne weitere Veränderungen des Materials bestehen. Einige Phänomene allerdings, so die arabische Derivationsmorphologie, sind mit regulären Sprachen nicht zu erfassen.

Literatur

  • Henning Bergenholtz, Joachim Mugdan: Einführung in die Morphologie. Kohlhammer, Mainz u.a. 1979. ISBN 3-17-005095-8.
  • Christa Bhatt: Einführung in die Morphologie, Gabel, Hürth-Efferen, 1991, ISBN 3-921527-21-X.
  • Joan L. Bybee: Morphology. A Study of the Relation between Meaning and Form. John Benjamins, Amsterdam/Philadelphia 1985. ISBN 90-272-2877-9.
  • Elke Donalies: Basiswissen Deutsche Wortbildung, Francke, Tübingen/Basel 2007, ISBN 978-3-7720-8204-7.
  • P. H. Matthews: Morphology. Second Edition, Cambridge University Press 1991, ISBN 0-521-41043-6.
  • Christine Römer: Morphologie der deutschen Sprache. Francke, Tübingen/Basel 2006. ISBN 3-8252-2811-8.
  • Hans-Jörg Schmid: Englische Morphologie und Wortbildung, Eine Einführung, Erich Schmidt Verlag, Berlin 2005. ISBN 978-3-503-07931-5.

Einzelnachweise

  1. Leonard Bloomfield: A set of postulates for the science of language. In: Language 2, 1926, S. 153-164. Wieder abgedruckt in: Martin Joos (editor): Readings in Linguistics I. The Development of Descriptive Linguistics in America 1925-1956. Fourth Edition. The University of Chicago Press, Chicago and London 1957, S. 26-31. Unterstrichen: „morpheme“ und „sememe“.
  2. Leonard Bloomfield: Language. Holt, New York 1933; dt.: Die Sprache, Edition Praesens, Wien 2001, ISBN 3-7069-1001-2.
  3. Zellig S. Harris: Structural Linguistics. University of Chicago Press, Chicago/ London 1951.

Weblinks

Wiktionary Wiktionary: Morphologie – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

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