Absolutes Gehör

Absolutes Gehör

Als absolutes Gehör oder Tonhöhengedächtnis bezeichnet man die meist angeborene, aber auch erlernbare Fähigkeit eines Menschen, die Höhe eines beliebigen gehörten Tons zu bestimmen, d. h. ihn innerhalb eines Tonsystems exakt einzuordnen. Weitgehend ungeklärt ist, welche neuronalen Zusammenhänge für das absolute Gehör verantwortlich sind und welche Funktionen im Gehirn und Hörnerv dazu benötigt werden.

Inhaltsverzeichnis

Ursprung

Medizinische Untersuchungen lassen den Schluss zu, dass fast allen Menschen die Fähigkeit, ein absolutes Gehör zu entwickeln, angeboren ist. So hören Neugeborene und Kleinkinder sehr häufig absolut. Die meisten Menschen verlieren diese Fähigkeit aber im Laufe ihres Lebens, weil sie nicht benutzt wird. Viele Komponisten und Musiker besitzen das absolute Gehör. So wird beispielsweise Mozart, Bach, Händel, Chopin und Beethoven in jüngeren Jahren diese Fähigkeit nachgesagt. Es wird angenommen, dass sie das absolute Gehör durch frühkindlichen Kontakt mit Musik im Elternhaus erlangt haben. Ein Kind, dem eine bestimmte Melodie stets in der gleichen Tonart zu Gehör gebracht wird, kann eher ein absolutes Gehör entwickeln, als wenn ihm eine Melodie immer wieder in einer anderen Tonart zu Gehör gebracht wird. Drei- bis Vierjährige sind eher als ältere Kinder dazu in der Lage, eine Melodie, die sie eine Woche zuvor gelernt haben, in der richtigen Tonlage nachzusingen – wenn auch häufig mit falschen Tonrelationen. In diesem Alter konzentrieren sich Kinder mehr auf die Tonhöhe der Musik, während ältere Kinder eher auf harmonische, melodische und rhythmische Aspekte achten. Deshalb kann die frühzeitige und intensive Beschäftigung mit Musikinstrumenten mit fester Tonhöhe die Entwicklung eines absoluten Gehörs fördern: Kinder, die im Alter von drei Jahren bereits ein Instrument spielen gelernt haben, hören sehr viel häufiger absolut.[1]

Verbreitung

Das absolute Gehör ist sehr selten.[2] Es soll etwa bei jedem neun- bis zehntausendsten Deutschen vorliegen. Diese Zahl erscheint allerdings zweifelhaft, denn allein schon unter den Berufsmusikern sollen 10 Prozent Absoluthörer sein. Noch häufiger ist die Fähigkeit des absoluten Hörens bei Personen zu finden, die von Geburt an blind sind: Jede zweite von ihnen verfügt über diese Fähigkeit [3].

Die Musikpsychologin Diana Deutsch konnte zeigen, dass die Sprecher von Tonsprachen sehr viel häufiger ein absolutes Gehör besitzen: So zeigt eine Untersuchung in den USA, dass 52 Prozent der chinesischen Musikstudenten „absolut“ hören.[4] Die Ursache liegt vermutlich in den dortigen Landessprachen begründet. In der chinesischen Standardsprache Mandarin variiert die inhaltliche Bedeutung eines Wortes mit der Tonhöhe, in der es ausgesprochen wird. Auf diese Weise wird gleichzeitig mit dem Erlernen der Sprache auch die Erkennung von Tonhöhen trainiert. Diese Beobachtung spricht dafür, dass das absolute Gehör wohl eher angelernt ist und nicht so sehr durch genetische Faktoren bestimmt wird.

Genauigkeit des absoluten Gehörs

Bei der Entscheidung, ob ein Mensch absolut hört, spielt die geforderte Genauigkeit der absoluten Hörfähigkeit eine Rolle. So können manche Absoluthörer den richtigen Ton auf wenige Cents genau vorhersagen, während andere lediglich auf einen Halbton (hundert Cents) genau hören. Diese Genauigkeit kann auch durch Training verbessert werden oder sich durch Entwöhnung verschlechtern. In dieser Formulierung verliert streng genommen ein Mensch die Fähigkeit des absoluten Gehörs also nicht, sondern lässt sie lediglich sehr ungenau werden, so dass sie keine musikalische Relevanz mehr besitzt.

Genetische Vorteile beim Erwerb eines absoluten Gehörs

Im Juni 2009 fand Elisabeth Theusch einen Zusammenhang zwischen absolutem Gehör und Genen auf Chromosom 8 bei Europäern, beziehungsweise Chromosom 7 bei Asiaten. Es ist nicht klar, ob diese Gene eine notwendige Voraussetzung für den Erwerb des absoluten Gehörs sind oder lediglich seine Entstehung begünstigen.[5]

Bedeutung

Die weit verbreitete Ansicht, ein absolutes Gehör sei für eine erfolgreiche Musikerkarriere erforderlich, ist ein Vorurteil. Im Gegenteil ist es manchmal der Fall, dass Musiker mit dieser Fähigkeit bei transponierten Musikstücken oder der Verwendung verschiedener Stimmungen Schwierigkeiten haben: Die geschriebenen Noten entsprechen nicht den erfahrungsgemäßen Tonhöhen und müssen demzufolge ständig transponiert, d. h. „umgerechnet“ werden. Während einige Musiker dies als Selbstverständlichkeit hinnehmen, empfinden andere eine solche Situation sogar als sehr unangenehm.

Mit einem absoluten Gehör kann jemand wahrnehmen, wenn ein Musikstück in einer anderen Tonart vorgetragen wird als in der originalen. Auch Menschen ohne professionelle musikalische Ausbildung singen ein bekanntes Stück von sich aus immer in der Originaltonart.

Varianten

Es wird unterschieden zwischen dem passiven (die Höhe gehörter Töne kann exakt angegeben werden) und dem aktiven absoluten Gehör (gewünschte Töne können aus dem Stegreif angesungen werden), wobei das aktive absolute Gehör das passive beinhaltet. Das aktive absolute Gehör setzt zusätzlich eine ausgeprägte musikalische Vorstellungskraft voraus.

Eine unter Sängern stärker verbreitete Eigenschaft ist, unbewusst absolut zu hören: Sie können zum Beispiel den Anfangston einer Melodie richtig singen, ohne ihn benennen zu können. Von Instrumentalisten ist ferner bekannt, dass sie den Stimmton, z. B. das a, durch jahrelange Übung ohne Stimmgabel in exakter Tonhöhe einstimmen oder singen können.

Durch Übung kann eine „schwächere“ Form des absoluten Hörens zum aktiven absoluten Gehör verbessert werden.

Die Gabe zur Ton-Farb-Synästhesie ist im Grunde keine absolute Gehörfähigkeit. Sie kann aber dem passiven Absoluthören entsprechen.

Relatives Gehör

Die meisten Menschen können Tonhöhen nur relativ unterscheiden, das heißt ihnen vorgespielte Töne nach Tonhöhe ordnen, jedoch nicht die absolute Tonhöhe erkennen. Sie können also die Intervallfolgen eines Liedes korrekt singen, die Wahl der Tonart findet aber mehr oder weniger zufällig statt. Relativhörer können im Rahmen der Gehörbildung lernen, durch Memorieren eines gegebenen Referenztones (z. B. von einer Stimmgabel) wie ein Absoluthörer Töne zu bestimmen und anzugeben. Der Unterschied zu einem erlernten absoluten Gehör ist insofern graduell.

Trivia

Einzelnachweise

  1. 90% von mehr als 1000 befragten Berufmusikern, die in diesem Alter zu musizieren begannen, haben ein absolutes Gehör, während von denjenigen, die erst im Grundschulalter mit musizieren begannen, nur 42% ein absolutes Gehör haben. Sergeant, D. & Roche, S., „Perceptual Shifts in the Auditory Information Processing of Young Children“ in: Psychology of Music I, o.O., 1973, S.39-48. Zitiert nach: Behne, K.E., Kötter, E. & Meißner, R. „Begabung – Lernen – Entwicklung“ in: Dahlhaus, C. & Motte-Haber, H. de la (Hg.) „Neues Handbuch der Musikwissenschaft“ Bd.10: Systematische Musikwissenschaft, Wiesbaden, 1982, S.290
  2. Hörgeräte Seifert, Frühjahr 2009, S. 4, Das absolute Gehör – Genialität oder Lerneffekt
  3. Oliver Sacks on Earworms, Stevie Wonder and the View From Mescaline Mountain in WIRED MAGAZINE – ISSUE 15.10
  4. HörWelt, Hörgeräte Seifert, Frühjahr 2009, S. 5, Das absolute Gehör – Genialität oder Lerneffekt
  5. Theusch, E. et al.: Genome-wide Study of Families with Absolute Pitch Reveals Linkage to 8q24.21 and Locus Heterogeneity. In: American Journal of Human Genetics 10.1016/j.ajhg.2009.06.010, 2009.

Literatur

  • Eva-Marie Heyde: Was ist absolutes Hören? – eine musikpsychologische Untersuchung. München 1987, ISBN 3-89019-172-X
  • Diemut A. Köhler: Gehörbildung für Absoluthörer – musikpsychologische Grundlagen und Lehrkonzept. Frankfurt/M 2001, ISBN 3-631-37638-3
  • Oliver Sacks: Musicophilia: Tales of Music and the Brain. Knopf 2007
  • Albert Wellek: Das absolute Gehör und seine Typen. Bern 1970

Weblinks


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