Rainer Müller (Historiker)

Rainer Müller (Historiker)

Rainer Rudolf Müller (* 26. September 1966 in Borna) ist ein deutscher Historiker und Bürgerrechtler. Er gehörte in den 1980er-Jahren zur Opposition in der DDR. In Leipzig arbeitete er in verschiedenen Bürgerrechtsgruppen mit, die mit öffentlichen Aktionen zur Initiierung der Massenproteste von 1989 gegen die SED-Herrschaft wesentlich beigetragen haben.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Rainer Müller durfte trotz seiner sehr guten schulischen Leistungen kein Abitur ablegen, weil er als junger Christ der obligaten Jugendweihe ferngeblieben und wegen seines Kleidungs-Aufnähers Schwerter zu Pflugscharen mit Repressionsorganen der SED-Diktatur in Konflikt geraten war.[1] Er absolvierte eine Maurerlehre, fand wegen seiner ablehnenden Haltung zum SED-Staat jedoch nur in kirchlichen Einrichtungen eine Anstellung als Betriebshandwerker.[2] Wegen seiner Wehrpflichtverweigerung bei der NVA[3] erhielt er keine Studienzulassung, obwohl er 1986 die Sonderreifeprüfung für Theologiestudenten an der Leipziger Karl-Marx-Universität bestanden hatte. Im folgenden Jahr begann er am Theologischen Seminar Leipzig zu studieren. Wegen seiner Kritik, die er im Rahmen der Friedensgebete in der Leipziger Nikolaikirche am SED-freundlichen Kirchenkurs übte, wurde er 1988 von dieser kirchlichen Einrichtung exmatrikuliert.

Seit 1985 hatte Müller sein oppositionelles Engagement ausgeweitet. Er gab eine Samisdat-Zeitschrift heraus, engagierte sich in der Initiative Frieden und Menschenrechte, im Arbeitskreis Solidarische Kirche und in der Umweltgruppe Borna. Von 1987 an arbeitete er in der Arbeitsgruppe Menschenrechte um Pfarrer Christoph Wonneberger mit, war einer der Sprecher der unabhängigen Oppositionsgruppe Arbeitskreis Gerechtigkeit und gestaltete die montäglichen Friedensgebete in der Nikolaikirche mit. Nachdem es im Januar 1988 in Ost-Berlin zu Verhaftungen Oppositioneller im Zusammenhang mit der Luxemburg-Liebknecht-Demonstration gekommen war, gründete er den Sonnabendskreis, der sich um die Vernetzung der Oppositionsgruppen in der DDR bemühte und aus dem die überregionale Arbeitsgruppe zur Situation der Menschenrechte in der DDR entstand.

Im Vorfeld der Leipziger Luxemburg-Liebknecht-Demonstration im Januar 1989 wurde Rainer Müller wegen angeblich geplanter oppositioneller Aktivitäten verhaftet. Die Stasi führte den Operativen Vorgang „Märtyrer“ gegen ihn. Mehrfach wurde er bei Demonstrationen festgenommen, mit Aufenthaltsverboten oder Geldstrafen belegt. Die Mariannenstraße 46 im zerfallenden Altbauviertel des Leipziger Ostens, die er gemeinsam mit anderen Oppositionellen bewohnte, wurde rund um die Uhr wahrnehmbar observiert. Als im Sommer 1988 die Kirchenleitung beschloss, einige oppositionelle Gruppen von der Gestaltung der Friedensgebete auszuschließen, verteilte Rainer Müller Tücher mit der Aufschrift „Redeverbot“, die sich einige vor den Mund banden. Zusammen mit anderen Mitgliedern des Arbeitskreises Gerechtigkeit machten sie künftig den Vorplatz der Nikolaikirche zu ihrem Podium, verlasen Informationen und kündigten Veranstaltungen an. Damit hatte der Protest den kirchlichen Schutzraum verlassen.

Zum Abschluss des Sächsischen Kirchentags im Juli 1989 fertigte Müller ein Transparent an, auf dem in chinesischen Schriftzeichen "Demokratie" geschrieben stand, und führte mit anderen Oppositionellen einen Demonstrationszug in die Leipziger Innenstadt an: gegen das von der SED begrüßte Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking und für demokratische Veränderungen in der DDR.[4]

Nachdem es bei den Montagsdemonstrationen in Leipzig im September sowie am 7. und 8. Oktober 1989 auch in anderen DDR-Städten zu brutalen Übergriffen auf festgenommene Demonstranten gekommen war, verfasste Rainer Müller zusammen mit anderen einen Aufruf gegen Gewalt: „Reagiert auf Friedfertigkeit nicht mit Gewalt! Wir sind ein Volk!“[5][6], den sie auf etwa 20.000 Flugblättern in Leipzig verteilten. Es war der Vorabend der entscheidenden Montagsdemonstration am 9. Oktober 1989, die mit rund 70.000 Teilnehmern erstmals friedlich verlief.[7]

1990 gehörte Müller dem DDR-Sprecherrat der Initiative Frieden und Menschenrechte (IFM) an, die 1991 im Bündnis 90 aufging. 1993 trat er zum Neuen Forum über, in dem er noch heute aktiv ist.

In den 1990er-Jahren studierte Müller in Leipzig Mittelalterliche und Neuzeitliche Geschichte. Er ist weiterhin in verschiedenen gesellschaftspolitischen Gruppen engagiert, arbeitet ehrenamtlich im Archiv Bürgerbewegung Leipzig e. V. mit, das zur Erforschung der Geschichte des Widerstands gegen die SED-Diktatur beiträgt, und bietet Stadtführungen zu Stätten der Friedlichen Revolution in Leipzig an.

Literatur

  • Gerold Hildebrand: Rainer Müller, in: Ilko-Sascha Kowalczuk / Tom Sello (Hrsg.): Für ein freies Land mit freien Menschen. Opposition und Widerstand in Biographien und Fotos. Robert-Havemann-Gesellschaft in Verbindung mit der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Berlin 2006. ISBN 3938857021, S. 329-332.
  • Rainer Müller: Ethisch-moralische Prinzipien führten zu meiner Gewissensentscheidung, in: Museum Borna und Geschichtsverein Borna e. V. (Hrsg.): Bausoldaten aus Borna und der Region. Erinnerungen von Zeitzeugen. (Schriftenreihe des Museums Borna und des Geschichtsvereins Borna e. V. Bd. 5, 76 Seiten) 2010, S. 47-58.
  • Thomas Mayer: Im Vollzeit-Widerstand. Nicht Jugendspaß, sondern Lebensernst - Rainer Müller und sein konsequentes Handeln, in: ders.: Helden der friedlichen Revolution. 18 Porträts von Wegbereitern aus Leipzig. (Schriftenreihe des Sächsischen Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen Bd. 10) Leipzig, Evang. Verlagsanstalt, 2009, ISBN 978-3-374-02712-5, S. 72-79.
  • Christian Dietrich/ Uwe Schwabe (Hg.): Freunde und Feinde. Dokumente zu den Friedensgebete in Leipzig zwischen 1981 und dem 9. Oktober 1989. Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 1994. ISBN 978-3-374-01551-1. S. 142, 148, 157, 172 f., 190 f., 197-200, 205, 209, 235 f., 431. im Netz, gesichtet am 16. August 2010
  • Ehrhart Neubert: Geschichte der Opposition in der DDR 1949-1989. Ch. Links Verlag, Berlin 1997, 2. Auflage Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2000, ISBN 3861531631. S. 725 und 786.
  • Hermann Geyer: Nikolaikirche, montags um fünf: die politischen Gottesdienste der Wendezeit in Leipzig. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 2007 (Universität Leipzig, Habil.-Schr. 2006), ISBN 978-3-534-18482-8, Inhaltsverzeichnis.
  • Katja Naumann/ Christian Lotz/ Thomas Klemm: Eine Zweite Öffentlichkeit? Zur Verbreitung von Untergrundliteratur während der 80er Jahre in Leipzig. Edition Leipziger Kreis, Leipzig 2001. ISBN 3000076085.
  • Trendela Braun: Das Portrait. Ein Gespräch mit Rainer Müller, in: 3VIERTEL, Januar 2011, Ausgabe 5, S. 12.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Gerold Hildebrand: Rainer Müller, in: Ilko-Sascha Kowalczuk / Tom Sello (Hrsg.): Für ein freies Land mit freien Menschen. Opposition und Widerstand in Biographien und Fotos. Robert-Havemann-Gesellschaft in Verbindung mit der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Berlin 2006. ISBN 3938857021, S. 329.
  2. Biografie Rainer Müller auf jugendopposition.de, gesichtet am 16. August 2010
  3. Rainer Müller über seine Waffendienst- und Totalverweigerung auf jugendopposition.de, gesichtet am 16. August 2010
  4. Rainer Müller auf jugendopposition.de, gesichtet am 16. August 2010
  5. Appell des organisierten Widerstandes zur Gewaltlosigkeit am 9. Oktober 1989
  6. Appell dreier Leipziger Oppositionsgruppen auf jugendopposition.de, gesichtet am 16. August 2010
  7. Rainer Müller auf jugendopposition.de, gesichtet am 16. August 2010

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