Volkszählung 1939

Volkszählung 1939

Die Volkszählung 1939 war ein im Deutschen Reich durchgeführter Zensus. Ursprünglich für das Jahr 1938 geplant, wurde sie jedoch wegen des „Anschlusses Österreichs“ auf den 17. Mai 1939 verschoben. Der Sicherheitsdienst des Reichsführers SS und die Geheime Staatspolizei hofften, bei dieser Gelegenheit Datenmaterial für eine Judenkartei zu erhalten.

Inhaltsverzeichnis

Vorhergehende Volkszählungen

Die erste Volkszählung zur Zeit der Weimarer Republik fand 1919 statt und enthielt keine Frage zur Religionszugehörigkeit. 1925 erfolgte eine kombinierte Volks-, Berufs- und Betriebszählung. Die nächste Volkszählung war für 1930 geplant, wurde aber wegen der desolaten finanziellen Lage mehrfach verschoben und erst am 16. Juni 1933 durchgeführt. Die Volks-, Berufs- und Betriebszählung erfragte auch die Religionszugehörigkeit; auf nachdrücklichen Wunsch Achim Gerckes vom nachmaligen Reichssippenamt wurde auch der Geburtsort „zwecks Untersuchung volksbiologischer Fragen“ abgefragt.[1] Die Auswertung aller Daten wurde erst 1936 abgeschlossen.

Vorbereitung

Bereits im Frühjahr 1936 warb das Statistische Reichsamt für eine weitere kombinierte Volks-, Berufs- und Betriebszählung im Jahre 1938 und begründete dies damit, dass die Ergebnisse der früheren Zählung durch die Aufbauarbeit und Neuordnung der Wirtschaft überholt seien und neue Daten für die Wehrwirtschaft und Wehrkraft erhoben werden müssten. Das Reichsamt ging auf die „Judenfrage“ nur knapp ein und hinterfragte, ob „die Erfassung des gesamten Judentums und der Judenmischlinge, auch soweit sie der mosaischen Religion nicht angehören, noch erforderlich“ sei.[2]

Am 12. Juli 1937 fand im Beisein Adolf Eichmanns eine Besprechung statt von „Sicherheitsdienst des Reichsführers SS“ und Geheimer Staatspolizei über die Zusammenarbeit von Dienststellen der Partei und des Staates bei der Aufstellung einer umfassenden Judenkartei.[3] Man forderte „Ergänzungskarten“[4] für die geplante Volkszählung. Dort sollte die Religionszugehörigkeit aller vier Großeltern angegeben werden, wodurch die „Rassezugehörigkeit“ ermittelt werden könnte. Für falsche Angaben sollten Gefängnisstrafen angedroht werden. Damit konnten alle in der Ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz definierten „Volljuden“, „Geltungsjuden“ und Jüdische Mischlinge erfasst werden. Um Doppelarbeit zu vermeiden, sei die Erarbeitung einer umfassenden Judenkartei bis zur Volkszählung zurückzustellen.

Wegen der Annexion Österreichs wurde die Volkszählung auf 1939 verschoben.[5] Die Auswertung der erhobenen Daten dauerte noch bis zum März 1941.

Wesentliche Ergebnisse

Einstufung Deutsches Reich (in den Grenzen vom 1. Januar 1938, ohne Ostmark, sudetendeutsche Gebiete und Memelland)[6]
Gesamtbevölkerung „Altes Reichsgebiet“ 69.316.526[7]
„Volljuden“ 233.846
davon „Glaubensjuden“ 213.930
„Geltungsjuden“ ca. 8.500[8]
„Mischlinge 1. Grades“ 52.005
„Mischlinge 2. Grades“ 32.669
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Einstufung Österreich[9] Wien österr. Bundesländer
Gesamtbevölkerung der „Ostmark“ 6.650.306
„Volljuden“ 94.530 91.530 3.000
davon „Glaubensjuden” 81.943 79.919 2.024
„Geltungsjuden“ 1.512 1.452 60
Summe der „Juden“ (im Sinne der 1. VO des Reichsbürgergesetzes) 96.042 92.982 3.060
„Mischlinge 1. Grades“ 16.938 14.858 2.080
„Mischlinge 2. Grades“ 7.391 5.955 1.537
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Kontroverse Deutungen

Umstritten ist die Frage, ob und wann das vor 1933 praktizierte und heute gesetzlich festgeschriebene Statistikgeheimnis in der Zeit des Nationalsozialismus durchbrochen wurde und das Statistikamt in die Judenverfolgung verstrickt sei. Die „Ergänzungskarte“ mit personenbezogenen Daten zur „blutmäßigen Abstammung“ war in verschlossenem Umschlag abzuliefern, der laut Aufschrift nur vom Statistischen Amt geöffnet werden durfte.[10]

Kurt Horstmann, seinerzeit Abteilungsleiter im Statistischen Bundesamt, hielt es für unwahrscheinlich, dass diese Angaben vor Ende 1941 in die Hände der Gestapo gelangt sein könnten: Vielmehr habe der Sicherheitsdienst sich entsprechende Daten leicht anderweitig über Meldekarteien, Standesamtsregister, Lohnsteuerkarteien etc. verschaffen können.[11]

Götz Aly zeigte sich hingegen überzeugt, diese im „vorgeblichen Schutz des Statistikgeheimnisses gemachten und mit Strafandrohung beförderten Angaben über die Religionszugehörigkeit der vier Großeltern übertrugen deutsche Beamte […] sofort in die Spalte ‚Abstammung’ der polizeilichen Melderegister.“[12] Nach Saul Friedländers Darstellung „sorgte die örtliche Polizei dafür, daß die Volkszählungskarten von Juden und Mischlingen den Buchstaben ‚J’ trugen; Kopien aller örtlichen Volkszählungslisten sollten an den SD gesandt und an II 112 weitergeleitet werden.“[13]

Jutta Wietog weist in ihrer Dissertation diese Darstellung zurück und vermutet eine Verwechslung mit der kurze Zeit später eingerichteten „Volkskartei“.[14] Die Auswertung der Ergänzungskarten dauerte bis zum März 1941; vorher erteilte das Statistische Reichsamt nur punktuelle Auskünfte. Ab April 1941 wurden die Ergänzungskarten den Meldebehörden übersandt, ab Ende 1941 gingen sie dann weiter an das Reichssippenamt.[15] Wietog hält es deshalb für unwahrscheinlich, dass die bei der Volkszählung erhobenen Daten in großem Umfang für die Transportlisten bei der Deportation deutscher Juden genutzt wurden. Der Vorwurf, durch einen Melderegisterabgleich seien die personenbezogenen Daten der Volksbefragung missbraucht worden, ist damit nicht ausgeräumt und gilt als nicht hinreichend geklärt.[16] Für die damalige „Ostmark“ kann jedoch mit sehr großer Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass die Daten der Volkszählung nicht für „Transportlisten“ der Vernichtungslager missbraucht wurden, da im Herbst 1939 die Israelitische Kultusgemeinde in Wien vermutlich durch Adolf Eichmann gezwungen wurde, alle „Glaubensjuden“ mit Wohnadresse, Geburtsdatum und Namen zu registrieren und auch eine weitere „Sonderzählung“ der so genannten „Nichtglaubensjuden“ stattfand.[17]

Einzelnachweise

  1. Jutta Wietog: Volkszählungen…, S. 40 u. 246
  2. Jutta Wietog: Volkszählungen…, S. 82
  3. Dokument 288. In: Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945. Bd. 1: 1933–1937, München 2008, S. 680 f., ISBN 978-3-486-58480-6
  4. Abbildung einer Ergänzungskarte pdf
  5. Gesetzliche Grundlagen: 1937 RGBl. I, 1053 / 1938 RGBl. I, 796 / 1939 RGBl. I, 281 / VO vom 21. Januar 1939 im Reichsminsterialblatt – abgedruckt in Statistik des Deutschen Reiches, NF Bd. 552,1 Nachdr. Osnabrück 1975
  6. Jutta Wietog: Volkszählungen…, S. 157
  7. Statistik des Deutschen Reiches, NF Bd. 552,1
  8. Errechnet nach Angaben bei Beate Meyer: Jüdische Mischlinge. Rassepoltik und Verfolgungserfahrung 1933–1945. Hamburg 1999, S. 162, ISBN 3-933374-22-7
  9. Gudrun Exner; Peter Schimany: Die Volkszählung in Österreich…, S. 142
  10. Abbildung bei Jutta Wietog: Volkszählungen…, S. 274
  11. Jutta Wietog: Volkszählungen…, S. 13
  12. Götz Aly; Karl Heinz Roth: Die restlose Erfassung. Frankfurt am Main 2005, S. 7, ISBN 3-596-14767-0
  13. Saul Friedländer: Das Dritte Reich und die Juden. (Sonderausgabe) München 2007, S. 218, ISBN 978-3-406-56681-3
  14. Jutta Wietog: Volkszählungen…, S. 14
  15. Jutta Wietog: Volkszählungen… S. 276
  16. Gudrun Exner, Peter Schimany: Die Volkszählung in Österreich…, S. 154
  17. Gudrun Exner; Peter Schimany: Die Volkszählung in Österreich…, S. 148–151

Literatur

  • Gudrun Exner; Peter Schimany: Die Volkszählung in Österreich und die Erfassung der österreichischen Juden. In: Rainer Mackensen (Hrsg.): Bevölkerungsforschung und Politik in Deutschland im 20. Jahrhundert. Wiesbaden 2006, ISBN 3-531-15121-5
  • Jutta Wietog: Volkszählungen unter dem Nationalsozialismus. Eine Dokumentation zur Bevölkerungsstatistik im Dritten Reich. Berlin 2001, ISBN 3-428-10384-X
  • Die Juden und jüdischen Mischlinge im Deutschen Reich. In: Volkszählung. Die Bevölkerung des Deutschen Reiches nach den Ergebnissen der Volkszählung 1939. Statistik des Deutschen Reiches, Bd. 552, H. 4, Berlin 1944

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