- Volkszählung in Deutschland
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Die erste Volkszählung im heutigen Deutschland fand 1816 im Königreich Preußen statt. Zwischen 1834 bis 1867 führte der Deutsche Zollverein regelmäßig alle drei Jahre Volkszählungen in den Mitgliedsländern durch. Ermittelt wurde die sogenannte „Zollabrechnungsbevölkerung“. Als Zeit der Volkszählung wurde eine solche gewählt, zu welcher sich der größte Teil der Bevölkerung zu Hause aufhielt. Der Zollverein legte den 3. Dezember als Datum fest. Die ursprünglich für 1870 geplante Zählung musste aufgrund des Deutsch-Französischen Krieges verschoben werden.
Inhaltsverzeichnis
Vorgeschichte bis 1834
Preußen
Nach der territorialen Neuordnung Deutschlands im Wiener Kongress und der Gründung des Deutschen Bundes wurde 1816 im Königreich Preußen die erste Volkszählung durchgeführt.
Sachsen
Nachdem bereits auf der Grundlage zweier Generalverordnungen vom 23. Juli 1790 und 19. August 1791 jährlich sogenannte Konsumentenverzeichnisse an die sächsische Regierung einzureichen waren, fand am 3. Juli 1832 die erste Volkszählung im Königreich Sachsen statt.
Zählungen 1834–1925
Von 1834 bis 1867 führte der Deutsche Zollverein regelmäßig alle drei Jahre Volkszählungen in den Mitgliedsländern durch. Diese waren notwendig, da die Einnahmen des Zollvereins in Bezug zur Einwohnerzahl verteilt wurden. Im Deutschen Reich fanden Zählungen 1871 und von 1875 bis 1910 alle fünf Jahre statt. Am 1. Dezember 1900 ermittelte eine Volkszählung im Deutschen Reich 56.345.014 Einwohner; das entsprach einem Bevölkerungszuwachs von insgesamt 7,78 Prozent in den letzten fünf Jahren. Die letzte Zählung vor dem Ersten Weltkrieg fand am 1. Dezember 1910 statt. Danach wurde nur noch in unregelmäßigen Abständen gezählt. Nach zwei Kriegsvolkszählungen jeweils am 5. Dezember 1916 und 1917 zum Zweck der Lebensmittelverteilung wurden am 8. Oktober 1919 und 16. Juni 1925 wieder reguläre Volkszählungen durchgeführt.
Zensus während des Dritten Reichs
Die Zählungen von 1933 und 1939 während der Zeit des Nationalsozialismus waren gleichzeitig Volks-, Berufs- und Betriebszählungen und wurden wie die von 1925 von dem Bevölkerungswissenschaftler Friedrich Burgdörfer geleitet. Bereits in der Zählung vom 16. Juni 1933 wurden etwa eine halbe Million „Glaubensjuden“ erfasst. Mit der Zählung 1939 wurde für alle Juden, „Mischlinge“ und Ausländer eine „Ergänzungskarte“ ausgefüllt, die als Grundlage für die Reichskartei der Juden und „jüdischen Mischlinge“ im Sinne der NS-Rassengesetzgebung diente. Diese enthielt Namen, Geburtsnamen, Wohnung, Geschlecht, Geburtstag, Religion, Muttersprache, Volkszugehörigkeit, Beruf und Kinderzahl unter 14 Jahren des jeweiligen Haushalts. Die Ergebnisse beider Volkszählungen bildeten die wichtigste Voraussetzung zur Festlegung der zur späteren Deportation vorgesehenen Bevölkerung.
Das Statistische Reichsamt erstellte daraus auf Anordnung des Reichsinnenministers Wilhelm Frick vom 17. Mai 1939 eine „Volkstumskartei“, die, so der Historiker Götz Aly, der „Schlußstein in der Erfassung der Juden“ und die bürokratische Voraussetzung ihrer Deportation und Vernichtung wurde.[1] Dass es sich dabei um keinen Missbrauch, sondern um von Anfang an gewollte Ergebnisse handelte, erläuterte die „Statistik des Deutschen Reiches“ 1936, die Sonderzählung erfolge, um
„einen Überblick über die biologischen und sozialen Verhältnisse des Judentums im Deutschen Reich [zu bekommen] im Hinblick auf die grundsätzliche Umgestaltung, die in der Stellung des Judentums zu seinem deutschen Wirtsvolk durch die nationalsozialistische Regierung herbeigeführt worden ist“
– .zitiert nach Götz Aly[2]
Zählungen im geteilten Deutschland
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden im Dezember 1945 in der Sowjetischen Besatzungszone, im Januar 1946 in der Französischen Besatzungszone und im Oktober 1946 in allen vier Besatzungszonen Deutschlands unter Verantwortung der Besatzungsmächte Volks- und Berufszählungen durchgeführt. Dies geschah insbesondere, um die Kriegsverluste und die zahlreichen Ströme von Flüchtlingen, Umsiedlern und Heimatvertriebenen zu erfassen. Nach Gründung der beiden deutschen Staaten 1949 fanden dort mehrere Volkszählungen statt.
In der DDR erfolgten die Zählungen von 1950 und 1964 als Volks- und Berufszählungen. Die Ergebnisse von 1950 wurden aus politischen Gründen nicht veröffentlicht. Die Zählungen von 1971 und 1981 fanden in der DDR als komplexe Volks-, Berufs-, Wohnraum- und Gebäudezählungen statt. Die Daten von 1964 wurden von der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik umfassend veröffentlicht, die Ergebnisse der Zählungen von 1971 und 1981 dagegen nur teilweise freigegeben.
Die in der Bundesrepublik 1950 und 1987 durchgeführten Zählungen waren gleichzeitig Volks-, Berufs-, Gebäude-, Wohnungs- und Arbeitsstättenzählungen, die Zählungen von 1961 und 1970 erfolgten als Volks-, Berufs- und Arbeitsstättenzählungen. Während der Gebäude- und Wohnungszählung von 1956 wurde auch die Wohnbevölkerung in der Bundesrepublik gezählt („kleine Volkszählung“). Die Veröffentlichung der Daten aller Zählungen in der Bundesrepublik Deutschland, ab 1994 auch der Ergebnisse der Volkszählungen in der DDR, erfolgte vom Statistischen Bundesamt.
Die Volkszählung von 1987
Vorgeschichte
Die Volkszählung in der Bundesrepublik Deutschland war vom Bund ursprünglich bereits für das Jahr 1981 geplant. Sie war in den Augen der Bundesbehörden neben anderen Gründen notwendig geworden, um die Infrastruktur einem veränderten sozialen Gefüge anzupassen und entsprechend neue Maßnahmen einzuleiten. Dies galt für Verkehrsplanung ebenso wie für die soziale Versorgung und anderes. Kritiker wandten dagegen ein, dass Volkszählungen lediglich den Status Quo wiedergäben, nicht aber Versorgungsmängel, wenn beispielsweise eine befragte Person mangels vorhandener öffentlicher Verkehrsmittel das widerwillig benutzte Auto als Verkehrsmittel zur Arbeitsstätte angeben müsse, und formulierten „Misstrauen gegen Planungsunwilligkeit und Planungsunfähigkeit“ der Verantwortlichen.[3]
Wegen eines Streits um die Höhe des Bundeszuschusses zur Volkszählung verzögerte sich die Verabschiedung des Gesetzes bis 1982 und damit der geplante Zähltermin auf 1983.[4]
Die 1983 gegen den Widerstand breiter Bevölkerungskreise durchgesetzte Stationierung von Mittelstreckenraketen, die Atompolitik sowie Großprojekte wie die „Startbahn West“ des Frankfurter Flughafens oder der Rhein-Main-Donau-Kanal trugen mit dazu bei, dass sich innerhalb weniger Wochen nach Bekanntgabe der Fragebögen bereits hunderte von Bürgerinitiativen gebildet hatten, die zum Boykott der Volkszählung aufriefen. Auch Prominente wie Günter Grass, der ehemalige Richter am Bundesverfassungsgericht Helmut Simon sowie Manfred Güllner, Gründer des Forsa-Instituts, unterstützten die Kritik, die weit über die Fragen des Datenschutzes hinausging. Der zentrale Punkt der Kritiker war die Absicht, die in der Volkszählung erhobenen Daten für eine Korrektur der Meldedaten zu verwenden. Ein besonders brisanter Punkt war die vorgesehene zusätzliche Aufwandsentschädigung für das Erfassen nicht im Melderegister geführter Personen. Für jeden auf diese Weise gefundenen Deutschen sollte es 2,50 DM, für jeden Ausländer 5,00 DM Entschädigung geben.[5]
Die Zählung, die für den 27. April 1983 geplant war, wurde zunächst bis zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Dezember 1983 ausgesetzt, dann schließlich laut Urteil untersagt. Die erfolgreichen Kläger hatten beanstandet, dass die Ausführlichkeit der Fragen in den entsprechenden Volkszählungsbögen bei ihrer Beantwortung Rückschlüsse auf die Identität der Befragten zulasse und somit den Datenschutz unterlaufe, damit folglich gegen das Grundgesetz verstoße. Im Hintergrund stand die Befürchtung des so genannten Gläsernen Bürgers. Teilweise wurde die Volkszählung als Schritt in Richtung Überwachungsstaat gesehen.
Mit dem historisch bedeutsamen Volkszählungsurteil vom 15. Dezember 1983 formulierte das Bundesverfassungsgericht das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, das sich aus der Menschenwürde (Artikel 1 Grundgesetz) und dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Artikel 2 Absatz 1 Grundgesetz) ableitet.[6]
Volkszählungsboykott
Für den Zensus 1987 musste in Folge des Urteils von 1983 des Bundesverfassungsgerichts die Befragung teilweise neu konzipiert werden, indem personenbezogene Angaben von den Fragebögen getrennt und die Fragebögen selbst überarbeitet wurden, um die Anonymität der Befragten besser zu gewährleisten.[7] Bereits ein Dreivierteljahr vor dem Stichtag 25. Mai 1987 wurde eine Akzeptanzkampagne „Zehn Minuten, die allen helfen“ gestartet, die 46 Millionen DM kostete, aber so wenig überzeugte, wie etwa die Gesetzesbegründung, aufgrund der Volkszählung könnten „gezielte Maßnahmen zum Abbau der Benachteiligung der Frau am Arbeitsplatz und zur Verbesserung ihrer Berufschancen getroffen“ werden. Angesichts einer Politik, die zeitgleich auf Eigeninitiative, Rückbau des Sozialstaates und Privatisierung setzte, geriet die Behauptung der Werbung, die Volkszählung trage zur „Sicherung der Renten“ oder „Schaffung von Arbeitsplätzen“ bei, in eine Glaubwürdigkeitsfalle, die die Kritiker erfolgreich nutzten. So ermittelte das Emnid-Institut im Dezember 1987 an vierter Stelle der Befürchtungen von Bundesbürgern die Bedrohung durch Datenmissbrauch hinter Kriegsgefahr, Arbeitslosigkeit und Umweltzerstörung.[8]
Anders als 1983 richtete sich die Kritik der Volkszählungsgegner weniger auf Gefahren etwa von Deanonymisierung von Erhebungsdaten als vielmehr gegen eine „schleichende Einschränkung von Bürgerrechten“, und sie verstanden den Boykottaufruf als „zivilen Ungehorsam für mehr Demokratie“[9]. Die Akteure thematisierten den ihrer Meinung nach immer stärkeren Datenaustausch von Polizei und Geheimdiensten ebenso wie die Datensammlungen der Wirtschaft im Fortschreiten der Computerisierung. Sie warfen den Initiatoren der Volkszählung vor, sie förderten technokratische Politik und setzten ihre Forderung nach mehr demokratischer Mitgestaltung durch die Bürger dagegen. Statt „gläsernen Bürgern“ forderten sie den „gläsernen Staat“, etwa ein Informationsfreiheitsgesetz nach amerikanischem Vorbild und mehr direkte Demokratie.
Der Boykott wurde von einem breiten Bündnis verschiedener sozialer und politischer Gruppen getragen und vom „Koordinierungsbüro gegen den Überwachungsstaat“ im Bonner Büro der Jungdemokraten, der ehemaligen Jugendorganisation der FDP, organisiert. Auch die damalige Partei „Die Grünen“, zu der Zeit seit etwa vier Jahren im Bundestag vertreten, gehörte zu den Kritikern der Volkszählung und beteiligte sich mit vielen ihrer Mitglieder an der Kampagne. Aber auch Teile der Gewerkschaften GEW, ÖTV und IG Druck, der Jugendtag der Evangelischen Kirche Hessen-Nassau oder der 11. Strafverteidigertag nahmen gegen die Volkszählung Stellung. Selbst Kommunen wie Freiburg und Wülfrath verabschiedeten Resolutionen gegen die Volkszählung oder mussten gar wie Lübeck und Essen auf dem Verwaltungs- und Gerichtsweg zur Durchführung des Zensus angewiesen werden.
Die Kritiker sahen sich durch die staatliche Reaktion auf Boykottaufrufe bestärkt. Volkszählungskritikern wurde „Rechtsbruch“ (Friedrich Zimmermann) unterstellt, der Verfassungsschutz Niedersachsen beobachtete Jungdemokraten, Jusos und die Bürgerrechtsorganisation Humanistische Union. Obwohl bundesweit über 100 Haussuchungen bei Volkszählungsgegnern einschließlich der SPD-Parteizentrale wegen angeblicher „Sachbeschädigung“, – dem Aufruf zum Abschnippeln der Kontrollnummer auf den Erhebungsbögen – durchgeführt wurden, stieg die Zahl von Bürgerinitiativen laut Berliner tageszeitung von 350 im Herbst 1986 auf über 1.100 im April 1987 an. Die persönlichen Daten von über 900 Volkszählungsgegnern wanderten in die „APIS“-Dateien des Bundeskriminalamts und allein in Baden-Württemberg wurden 653 Personen im „polizeilichen Meldedienst“ gespeichert, was die Datenschutzbeauftragte des Landes als „maßlose Überreaktion“ beurteilte.[10] Die überwiegende Mehrzahl der Strafverfahren wurde zwar 1988 eingestellt, aber die staatliche Reaktion hatte insgesamt die Argumente der Volkszählungsgegner geradezu bestärkt.
Die Durchführung des Zensus geriet zu einem publizistischen Wettstreit um den jeweiligen Erfolg. Während Bundesinnenminister Zimmermann das Scheitern des Boykotts verkündete, präsentierten „alternative Sammelstellen“ im Herbst 1987 1,1 Millionen unausgefüllte Erhebungsbögen. In Hamburg wurde der Chef des Statistischen Landesamtes im März 1988 abgelöst, weil er zunächst die Probleme mit der Volkszählung heruntergespielt hatte, dann öffentlich bekennen musste, dass 248.000 Fragebögen, etwa 13 % fehlten.[11] In Köln schloss die Erhebungsstelle 1988 mit offiziell bestätigten 5 % Boykott ab, in Wiesbaden bestätigte der Erhebungsstellenleiter noch im September 1987 über 15 % fehlende Antworten, weitere 10 % der Bürger hätten überhaupt noch keinen Erhebungsbogen bekommen.[12]
Aber auch die Boykotteure hatten ihre „Sorgen“: So beklagte das „Koordinierungsbüro“ im Sommer 1987, die Initiativen überprüften die angelieferten Personenbögen so genau darauf, dass auch wirklich die jeweilige Anzahl Boykotteure dahinterstehe und dass dies zu erheblichen Zeitverzögerungen führe. Auf beiden Seiten wurde aber auch phantasievoll agiert: So prangte vor einem wichtigen Bundesligaspiel der Spruch „Boykottiert und sabotiert die Volkszählung“ auf dem Dortmunder Stadionrasen und widersetzte sich allen Löschversuchen, woraufhin mit Zustimmung Richard v. Weizsäckers für das Fernsehpublikum ein „Der Bundespräsident:“ davor und ein „nicht!“ angefügt wurden. NRW-Innenminister Herbert Schnoor wiederum schickte den vom Bundesjugendministerium finanziell disziplinierten Jungdemokraten einen Scheck über 100 DM mit der Bemerkung, trotz unterschiedlicher Meinung in der Sache sei er gegen jegliche Zensurversuche.
Ergebnisse
Die ermittelten Ergebnisse besaßen nach Angaben der statistischen Ämter eine insgesamt gute Qualität. Obwohl viele den Boykottaufruf trotz drohender Bußgeldverfahren befolgten und die Bögen nicht ausfüllten (manche füllten sie auch bewusst falsch aus), war der Rücklauf der in einem Ankreuz-Verfahren ausgefüllten Bögen, die an jeden Haushalt verteilt worden waren, groß genug für eine aussagekräftige Auswertung; die Frage nach der Qualität der Daten und dem Einfluss von Verfälschungseffekten war allerdings umstritten. So bezeichnete etwa der Informatiker Klaus Brunnstein die Ergebnisse als „Daten-GAU“ wegen der Unterschiedlichkeit der Rücklaufquoten und diagnostizierte einen Anfangsfehler der Daten nach über einem Jahr von bis zu 25 %[13]. Andererseits ist bis heute von Verfälschungseffekten nichts bekannt geworden. Auch die wissenschaftliche Begleitforschung des Kölner Soziologen Erwin K. Scheuch hilft bei der Beantwortung der Frage nicht weiter, da diese weder nach der Qualität der ermittelten Daten fragte, noch etwa Methodenvergleiche zur Genauigkeit anderer statistischer Erhebungen wie freiwilliger Umfragen anstellte, sondern lediglich die Einstellungen der Befragten erforschte.
Das statistische Bundesamt verweist auf die erfolgten Korrekturen zwischen Zählergebnissen und alten, fortgeschriebenen Bevölkerungsdaten. Inwieweit jedoch die ermittelten Volkszählungsergebnisse ein reales Abbild der gesellschaftlichen Wirklichkeit bieten können, ist damit nicht beantwortet. So stellt jede Volkszählung nur eine näherungsweise Abbildung zum Stichtag dar. Allein die Migrationszahlen nach Deutschland 1989: 872.000 Einwanderer incl. Asylsuchende, 1990: 590.000 und 1991: 477.000 und aus Deutschland: 1989: 422.000, 1990: 545.000 und 1991: 580.000 (alle Zahlen: Jahrbücher des Statistischen Bundesamtes) verdeutlichen die Schwierigkeit, eine scheinbar exakte Einwohnerzahl zu einem Stichtag zu ermitteln.
Da die Volkszählung die Grundlage für die Fortschreibungsergebnisse des Statistischen Bundesamtes und der Statistischen Landesämter bildet, entstanden auf Grund des langen Zeitraumes (17 Jahre) zur letzten Volkszählung von 1970 immer größere Fehler in den Berechnungen der Statistischen Ämter. So ergab die Volkszählung vom 25. Mai 1987 beispielsweise für West-Berlin eine Einwohnerzahl von 2.014.121. Das Ergebnis der Fortschreibung vom Statistischen Landesamt für den 24. Mai 1987 lag – auf Basis der Zählung von 1970 – damit um 133.062 Personen, das sind gute sieben Prozent, zu niedrig. Für München dagegen wurden 89.647 Personen, also 7,0 % zu viel, fortgeschrieben. Für Roth (bei Nürnberg) lag die Abweichung des Fortschreibungsergebnisses des Statistischen Landesamtes sogar bei 18 Prozent, das waren im Vergleich zum Volkszählungsergebnis 4343 Personen zu viel. Für Göttingen wurden 14,5 Prozent (19.519 Personen) zu viel fortgeschrieben. Die Fehlerquoten der Fortschreibungsergebnisse der Statistischen Landesämter lagen bei den Gemeinden mit mehr als 200.000 Einwohnern im Durchschnitt bei 1,0 bis 1,6 Prozent, bei den Gemeinden mit 10.000 bis unter 200.000 Einwohnern im Vergleich zu den Volkszählungsergebnissen bei durchschnittlich 0,3 bis 0,7 Prozent.
Insgesamt musste auf Grund der ermittelten Einwohnerdaten die Summe im Länderfinanzausgleich um etwa 935 Millionen DM (etwa 478 Millionen Euro) berichtigt, die Summe im kommunalen Finanzausgleich der Großstädte um rund 700 Millionen DM (etwa 358 Millionen Euro) korrigiert werden. Die fortgeschriebene Zahl der Erwerbstätigen lag im Vergleich zu den Ergebnissen der Volkszählung um eine Million (3,6 Prozent) zu niedrig, die Anzahl der Ausländer um fast 600.000 (12,0 Prozent), die Zahl der Wohnungen (25,9 Millionen) um rund eine Million (3,8 Prozent) zu hoch. Die Anzahl der Erwerbstätigen musste auf Grund der Volkszählungsergebnisse um eine Million nach oben korrigiert werden, die Arbeitslosenquoten in etwa einem Drittel der Arbeitsamtsbezirke um rund 20 Prozent nach unten angepasst werden.[14]
Nach der Wiedervereinigung
Die ursprünglich für 1991 in der Bundesrepublik und der DDR geplanten Volkszählungen wurden nicht mehr durchgeführt.[15] So fanden seit 1987 in der Bundesrepublik keine Volkszählungen mehr statt – auch nicht nach der Wiedervereinigung von 1990, nachdem die ostdeutschen Länder der Bundesrepublik beigetreten waren und damit etwa 16 Millionen weitere Bürger mit anderen infrastrukturellen Voraussetzungen zum Staatsgebiet der Bundesrepublik Deutschland hinzu kamen. Dies geschah überwiegend aus finanziellen Gründen – die letzte Volkszählung 1987 hatte umgerechnet rund 500 Millionen Euro gekostet –, aber auch wegen fehlender Akzeptanz in der Bevölkerung und der skeptischen Grundhaltung zahlreicher Politiker in allen Parteien.
Da in Deutschland auch die jährlichen Zu- und Abwanderungen in das Ausland im Gegensatz zu den Geburten und Sterbefällen nicht vollständig registriert werden, gibt es gegenwärtig keine genauen Angaben über die Zusammensetzung der Bevölkerung. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes haben sich schätzungsweise 1,6 Millionen Menschen bei der Ausreise aus Deutschland in ihrem Wohnort nicht abgemeldet. Die Anzahl der in Deutschland nicht registriert lebenden Personen beträgt etwa 500.000 bis eine Million. Die Einwohnerzahlen der Gemeinden beruhen alle auf den beiden letzten Volkszählungen in Deutschland (1981 in Ost- und 1987 in Westdeutschland). Da sich viele Menschen bei der Ein- und Ausreise nicht korrekt an- und abmelden, steigt die Fehlerquote in den Berechnungen der Statistischen Ämter mit den Jahren, deren Ausmaß naturgemäß unbekannt ist.
Allerdings wurden Anfang Juli 2007 sämtliche Melderegisterdaten aller Einwohner zur Vergabe einer einheitlichen Steuernummer an das Bundesamt für Steuern geliefert, das daraus bis zum Jahresende 2007 eine 11-stellige Steuernummer für jeden einzelnen Einwohner generiert. Diese werden mit den Melderegistern abgeglichen, Zweifelsfälle bereinigt. Damit entsteht ein verfassungsrechtlich umstrittenes Zentralregister, das natürlich auch nicht für statistische Zwecke zur Verfügung steht. Aber als Nebeneffekt ist davon auszugehen, dass die Melderegisterdaten nach dieser „Erhebung“ weitaus exakter sein werden, als bisher.
Literatur
- Roland Appel,Dieter Hummel (Hg.): Vorsicht Volkszählung – erfasst vernetzt und ausgezählt. 4. Auflage, Kölner Volksblatt Verlag, Köln 1987, ISBN 3-923243-31-6.
- Jürgen Arnold, Jutta Schneider (Hg.): Volkszählung verzählt. Verlag Zweitausendundeins, Frankfurt September 1988.
- Nicole Bergmann: Volkszählung und Datenschutz. Proteste zur Volkszählung 1983 und 1987 in der Bundesrepublik Deutschland. Hamburg 2009, ISBN 3-8366-7388-6.
- Klaus Brunnstein et al.: in: Vorgänge, Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik, Bd. 91, Januar 1988 ISBN 3-925763-91-0.
- Helmut Köhler: Bildungsstatistische Ergebnisse der Volkszählungen der DDR 1950 bis 1981. Dokumentation der Auswertungstabellen und Analysen zur Bildungsentwicklung. Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin 2001, ISBN 3-87985-085-2.
- Harald Michel: Volkszählungen in Deutschland. Die Erfassung des Bevölkerungsstandes von 1816 bis 1933. In: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1985/2, Akademie Verlag, Berlin 1985, S. 79-91 (Digitalisat)
- Jürgen Taeger (Hrsg.): Die Volkszählung. Rowohlt, Reinbek 1983, ISBN 3-499-15245-2.
Weblinks
- Beiträge zum Thema Zensus aus der wissenschaftlichen Zeitschrift Wirtschaft und Statistik des Statistischen Bundesamtes
Einzelnachweise
- ↑ Götz Aly in: Appel/Hummel Hg. Vorsicht Volkszählung, Köln 1987, 163 ff.
- ↑ Band 415/5 1936. Götz Aly In: Appel/Hummel Hg. Vorsicht Volkszählung, Köln 1987
- ↑ Freimut Duve in: Taeger, Volkszählung, S.25 ff.
- ↑ Stürmer/Würzberger in: Taeger, Volkszählung, S.167ff.
- ↑ Dokumentiert in Taeger 1983, 267-269.
- ↑ Art. 2 Abs. 1
- ↑ Statistische Ämter des Bundes und der Länder: Erhebungsbogen der Volkszählung 1987 (pdf, 1.6 MB)
- ↑ Sylvio Dahl: „Die Predigt wurde nicht verstanden“, Die Zeit Nr. 49/1987 vom 27. November 1987
- ↑ Roland Appel in: Vorsicht Volkszählung S. 32ff.
- ↑ 7. Bericht der Landesbeauftragten für den Datenschutz, Ruth Leuze, Januar 1988
- ↑ Volkszählung – Verzählt S. 77f.
- ↑ Wiesbadener Tageblatt v. 16. September 1987
- ↑ Brunnstein in: Vorgänge Bd. 91, Januar 1988, S.72
- ↑ Statistisches Bundesamt: Was hat die Volkszählung 1987 gebracht, wie wurden ihre Ergebnisse verwendet?
- ↑ Heise.de: Vor 20 Jahren: 10 Minuten, die allen helfen, vom 25. Mai 2007
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