Götz Aly

Götz Aly

Götz Haydar Aly (* 3. Mai 1947 in Heidelberg) ist ein deutscher Historiker und Journalist mit den Themenschwerpunkten Euthanasie, Holocaust und Wirtschaftspolitik der nationalsozialistischen Diktatur.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Aly ist ein Nachkomme des königlich-preußischen Kammertürken Friedrich Aly († 1716), der 1686 nach Berlin verbracht worden war und dort Christ wurde.

Aly besuchte Volksschule und Gymnasium in Heidelberg (1954–1956), Leonberg (1956–1962) und München (1962–1967), wo er am Kurt-Huber-Gymnasium 1967 das Abitur machte. 1967 und 1968 besuchte er die Deutsche Journalistenschule in München. Anschließend studierte er bis 1971 Geschichte und Politische Wissenschaft in Berlin und schloss mit der Diplomprüfung ab.

Nach seinem Studium arbeitete er ab 1973 als Heimleiter einer Kinder- und Jugendfreizeiteinrichtung in Berlin-Spandau, wurde aber 1976 wegen seiner 68er-typischen linken politischen Einstellungen – er war Mitglied der Roten Hilfe – infolge des Radikalenerlasses für ein Jahr suspendiert. Am 13. Juli 1978 promovierte er über diese Erfahrungen im Fach Politikwissenschaft und schied aus dem Staatsdienst aus. Kurze Zeit später wurde er als Journalist einer der ersten Mitarbeiter der neu gegründeten Tageszeitung taz. Von 1997 bis 2001 war er Redakteur bei der Berliner Zeitung und schrieb ebenfalls für die Frankfurter Allgemeine Zeitung.

1994 habilitierte er sich am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin. Von 2004 bis 2006 hatte er die auf vier Semester angelegte Gastprofessur für interdisziplinäre Holocaustforschung am Fritz Bauer Institut in Frankfurt am Main inne. 2006 wurde er von Bundespräsident Köhler als Nachfolger von Alexander Gauland für fünf Jahre in den Stiftungsrat des Berliner Jüdischen Museums berufen. Am 9. Februar 2011 lehnte es das Otto-Suhr-Institut ab, Aly die Würde eines außerordentlichen Professors zu verleihen.[1]

Werk und wissenschaftliches Wirken

NS-Forschung

Hauptthema von Alys wissenschaftlicher Arbeit ist die Geschichte des Holocausts, die er weitgehend außerhalb des etablierten Wissenschaftsbetriebs erforscht. Auslöser für die Beschäftigung mit dem Thema war das bis dahin umfangreichste Ermittlungsverfahren zur Euthanasie während des Dritten Reichs, das 1981 in Hamburg durchgeführt wurde. Aly zieht zu dessen Erklärung weniger das ideologische Moment (Rassenwahn, Antisemitismus) als vielmehr rationale Gründe heran. Hierfür zentral ist das 1991 mit Susanne Heim veröffentlichte Buch Vordenker der Vernichtung, in dem die Autoren pointiert wirtschaftliche und bevölkerungspolitische Motive in der Genese des Holocausts hervorheben. Um dieses Buch entbrannte eine wissenschaftliche Debatte, die sich insbesondere im von Wolfgang Schneider herausgegebenen Sammelband „Vernichtungspolitik“ (ebenfalls 1991) widerspiegelt. Einige Autoren äußerten sich kritisch zu Alys und Heims Thesen und zu ihrer Methodik, insbesondere Forscher wie Ulrich Herbert oder Norbert Frei.

Mit seinem Werk Endlösung (1995), das den Holocaust in die Umsiedlungspolitik der Nationalsozialisten einordnet und etliche neue Quellen auswertet, stieß Aly hingegen überwiegend auf Akzeptanz, so von Hans Mommsen und Raul Hilberg. Das 2005 erschienene Buch Hitlers Volksstaat löste in Fachkreisen dagegen wieder Kontroversen aus. Aly bezeichnete das NS-Regime als eine „Gefälligkeitsdiktatur“, von der die Deutschen seiner Ansicht nach unmittelbar profitierten und die durch soziale Fürsorge egalitäre Prinzipien zu verwirklichen suchte.

Aly ist seit 2007 Mitherausgeber einer auf 16 Bände angelegten Quellenedition zur Verfolgung der Juden in Deutschland während der Zeit des Nationalsozialismus, in der private Stimmen ebenso dokumentiert werden sollen wie auch staatliche und parteidienstliche Stellen sowie Verfolgte oder Augenzeugen. Das Langzeitprojekt wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft mit rund 250.000 Euro pro Band finanziert und ist damit zurzeit das aufwendigste geisteswissenschaftliche Projekt der DFG.[2] Inzwischen ist Aly von der Mitherausgeberschaft der Quellenedition zurückgetreten.[3]

Für Widerspruch sorgten Äußerungen Alys während einer Pressekonferenz anlässlich der umstrittenen Berliner Kolonialismus-Ausstellung „Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg“, die die Leistungen der „Kolonialvölker“ für die Befreiung Deutschlands im Zweiten Weltkrieg würdigen sollte. Aly kritisierte den angeblich verharmlosenden Umgang der Ausstellungsmacher mit dem Thema der nazifreundlichen Kollaborateure. Mahatma Gandhi sei „einer der größten Freunde“ der Nazis gewesen, die farbigen Soldaten „unfreie Befreier“, die eigentlich ein Interesse an der Niederlage ihrer Kolonialherren gehabt haben müssten. Im übrigen könne „jedes Dorf in Südwestdeutschland von Vergewaltigungen durch schwarze Soldaten“ berichten, die „nicht anders als die Russen“ gehaust hätten. [4] Die Behauptungen Alys wurden von dem britischen Veteranenvertreter Dennis Goodwin in der Tageszeitung Daily Telegraph als haltlos zurückgewiesen.[5]

Kritik an 1968

In seinem 2008 erschienenen Buch Unser Kampf 1968 – ein irritierter Blick zurück[6] analysiert Aly die Reaktion der Gegenseite auf die deutsche Studentenbewegung der 1960er Jahre. Er greift dabei auf Akten deutscher Behörden und zeitgenössische Reaktionen, unter anderem von Joseph Ratzinger, Ernst Fraenkel und Richard Löwenthal zurück. Aly kommt zu dem Schluss, dass die 68er ihren Eltern – der nationalsozialistisch geprägten „Generation von 1933“ – weitaus ähnlicher gewesen seien, als sie dies selbst wahrnehmen wollten.

Als Indizien für seine These benennt Aly den anti-bürgerlichen Impetus, die Gewaltbereitschaft, den Antiamerikanismus, den latenten Antisemitismus, das Ausblenden von Kritik an linken Despoten. Die 1968er seien als „Spätausläufer” nicht die Lösung des Totalitarismus-Problems, sondern ein Teil des Problems selbst. Auch bei der Liberalisierung der Moral und Sitten seien die 68er nicht die Auslöser, sondern lediglich Nutznießer eines Prozesses gewesen, der schon in den 1950er Jahren begonnen habe. „Es ist schwer, den eigenen Töchtern und Söhnen zu erklären, was einen damals trieb“,[7] so Aly angesichts seiner eigenen Biographie.

Alys Buch über die politische Generation der 68er führte zu einer lebhaften Diskussion der Grundlagen der 68er-Bewegung.[8] Der Historiker Norbert Frei erklärte zu Alys Vergleich zwischen der „Generation von 1933“ und den 68ern: „Ich meine, hier hat sich einer um des medialen Knalleffekts willen zu einer historiographisch völlig überzogenen Darstellung hinreißen lassen.“ Der 68er-Generation eine 33er an die Seite zu stellen, dient nach Freis Auffassung „allein der Provokation, nicht der historischen Erkenntnis“.[9]

Auszeichnungen

Für seine Arbeit ist Aly mehrfach ausgezeichnet worden. 2002 erhielt er den Heinrich-Mann-Preis der Akademie der Künste in Berlin und 2003 den Marion-Samuel-Preis der „Stiftung Erinnerung Lindau“ der Eheleute Walther Seinsch. Daraufhin recherchierte Aly über die Namensgeberin des Preises und legte 2004 die Biografie Im Tunnel. Das kurze Leben der Marion Samuel 1931–1943 vor.

2007 wurde ihm das Bundesverdienstkreuz am Bande verliehen.

Werke

  • Unser Kampf. 1968 – ein irritierter Blick zurück, 2008, ISBN 978-3-10-000421-5 (Interview)
  • Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933 - 1945, Bd. 1: Deutsches Reich 1933-1937, Hrsg.: Götz Aly, Wolf Gruner, Susanne Heim, Ulrich Herbert, Hans Dieter Kreikamp, Horst Möller, Dieter Pohl, Hartmut Weber; Oldenbourg Verlag, München 2007, 811 S., Gebunden, ISBN 3-486-58480-4, Rezensionen im Perlentaucher
  • Mit Michael Sontheimer: Fromms – Wie der jüdische Kondomfabrikant Julius F. unter die deutschen Räuber fiel. S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2007, 220 S., ISBN 3-10-000422-1
  • Als Hrsg.: Volkes Stimme. Skepsis und Führervertrauen im Nationalsozialismus. Fischer TB Verlag, Frankfurt a. M. 2006; 224 Seiten, ISBN 3-596-16881-3 (Rezension von Harald Welzer in: Die Zeit, Nr. 48, 23. November 2006)
  • Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, 2005, ISBN 3-89331-607-8 (Bundeszentrale für Politische Bildung), ISBN 3-10-000420-5 (Fischer)
  • Im Tunnel. Das kurze Leben der Marion Samuel 1931–1943, 2004, ISBN 3-596-16364-1
  • Mit Christian Gerlach: Das letzte Kapitel. Der Mord an den ungarischen Juden, 2004, ISBN 3-596-15772-2 (Rezensionen)
  • Rasse und Klasse. Nachforschungen zum deutschen Wesen, 2003, ISBN 3-10-000419-1
  • Macht, Geist, Wahn. Kontinuitäten deutschen Denkens, 1999 (zuerst 1997), ISBN 3-596-13991-0
  • „Endlösung“. Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden, 1999 (zuerst 1995), ISBN 3-596-50231-4
  • Mit Susanne Heim: Das Zentrale Staatsarchiv in Moskau („Sonderarchiv“). Rekonstruktion und Bestandsverzeichnis verschollen geglaubten Schriftguts aus der NS-Zeit, Düsseldorf 1992
  • Demontage…: Revolutionärer oder restaurativer Bildersturm?, 1992, ISBN 3-87956-183-4
  • Mit Susanne Heim: Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung, 2004 (zuerst 1991), ISBN 3-596-11268-0
  • Mit Monika Aly, Morlind Tumler: Kopfkorrektur oder Der Zwang gesund zu sein, 1991, ISBN 3-88022-063-8
  • Aktion T4 1939–1945. Die „Euthanasie“-Zentrale in der Tiergartenstraße 4, 1989, ISBN 3-926175-66-4
  • Mit Peter Chroust und Hans-Dieter Heilmann Biedermann und Schreibtischtäter. Materialien zur deutschen Täter- Biographie, 1987, ISBN 3-88022-953-8
  • Mit Karl Heinz Roth: Die restlose Erfassung. Volkszählen, Identifizieren, Aussondern im Nationalsozialismus, 2000 (zuerst 1984), ISBN 3-596-14767-0
  • Warum die Deutschen? Warum die Juden? -Gleichheit, Neid und Rassenhass 1800 - 1933. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011. ISBN 978-3-10-000426-0.

Literatur

  • Wolfgang Schneider (Hrsg.): „Vernichtungspolitik“. Eine Debatte über den Zusammenhang von Sozialpolitik und Genozid im nationalsozialistischen Deutschland, Junius Verlag, Hamburg 1991, ISBN 3-88506-187-2
  • Aly, Götz, in: Munzinger, Internationales Biographisches Archiv, 43/2003 vom 13. Oktober 2003 (sh)
  • Per Leo: Der Narr von eigenen Gnaden. Götz Aly und die deutsche Geschichtswissenschaft, in: Ästhetik und Kommunikation 36 (2005), H. 129/130, S. 184-194.

Weblinks

Zur Diskussion 2008:

Artikel von Aly

Einzelnachweise

  1. http://www.welt.de/print/die_welt/kultur/article12914846/Goetz-Aly-und-die-Intoleranz.html
  2. „Alltag der Entrechtung“, Tagesspiegel, 25. Januar 2008
  3. Auskunft von Susanne Heim und Ulrich Herbert am 9. Juni 2010 im Kolloquium des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte der Universität Freiburg.
  4. Götz Aly platzt im Faschismus-Streit der Kragen in der Welt von 4. September 2009, abgerufen am 6. Juni 2011.
  5. „Mahatma Gandhi was one of Nazis greatest friends“, Daily Telegraph, 4. September 2009, abgerufen am 11. September 2009.
  6. Götz Aly, 2008: Unser Kampf. 1968., S. Fischer-Verlag, Frankfurt 2008, ISBN 978-3-10-000421-5. Leseproben bei Perlentaucher.
  7. Zitiert nach Fischerverlag
  8. Pressestimmen beim Fischerverlag und bei Perlentaucher.
  9. Der Sündenstolz auf die eigene Geschichte, Interview mit Norbert Frei, Freitag, 20. März 2008.

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