Walter Kuhn (Volkskundler)

Walter Kuhn (Volkskundler)

Walter Kuhn (* 27. September 1903 in Bielitz, Oberschlesien; † 5. August 1983 in Salzburg) war ein deutscher Volkskundler und Siedlungshistoriker.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Bielitz gehörte seit 1920 zu Polen. Die Bevölkerung war mehrheitlich deutsch. Walter Kuhn charakterisierte seinen Vater, Direktor der deutschen Gewerbeschule, als alldeutsch.[1] Nach dem Abitur 1921 studierte er an der Technischen Universität Wien und der Technischen Universität Graz. Nach dem dort 1927 abgelegten Ingenieursexamen ermöglichte ihm die „Studienstiftung des deutschen Volkes“ ein Zweitstudium in Volkskunde und Geschichte in Wien, das er 1931 mit der Promotion abschloss (Titel der Dissertation: „Eine Jugend für die Sprachinselforschung“). Parallel zu seinem Technikstudium war er nämlich in den Semesterferien als Wandervogel mit elf Freunden 1926 in Wolhynien und Galizien unterwegs und hatte dabei bei den dort heimischen deutschen Minderheiten vor allem sprachliche Studien getrieben, die Kurt Lück im September 1926 auf anderer Ebene fortsetzte.[2] Der Ethnozentrismus führte bei Walter Kuhn zu einer pejorativen Bewertung der Osteuropäer, während Kurt Lück auf die kulturelle „Aufwertung“ der Volksdeutschen setzte.[3] Ab 1932 war er Mitarbeiter beim Kattowitzer „Deutschen Kulturbund“, bis er 1936 von Hermann Aubin in Absprache mit Albert Brackmann nach Breslau geholt wurde, wo er ohne Habilitation außerordentlicher Professor für „Deutsche Volkskunde und ostdeutsches Volkstum“ wurde.[4]

Am 29. September 1939 trat er mit Theodor Schieder in Verbindung und schickte ihm eine Denkschrift über deutschen Volksboden in Zentralpolen, der bereits früher von deutschen Bauern für die Zivilisation gewonnen worden sei: „Deutsche Dörfer in Mittelpolen unmittelbar jenseits der alten Reichsgrenze. (Geheim!)[5] Am 11. Oktober war er neben Hermann Aubin, Albert Brackmann, Theodor Schieder und anderen Mitverfasser einer Denkschrift der von Albert Brackmann geleiteten Publikationsstelle Berlin-Dahlem zur „Eindeutschung Posens und Westpreußens“ und der sofortigen „Umsiedlung“ von zunächst 2,9 Millionen Polen und Juden.[6] Kuhn trat 1940 der NSDAP bei.[7] Im selben Jahr verfasste er für den Chef der Sicherheitspolizei und der SD-Einwandererzentrale Nord-Ost Lodsch die Denkschrift „Stammesgruppen, Bodenverhältnisse, Anbaufrüchte usw. in Galizien und Wolhynien und die sich daraus für die Umsiedlung ergebenden Gesichtspunkte“.[8] 1943 wurde er zur Wehrmacht eingezogen und geriet in Frankreich in britische Gefangenschaft.

1947 erhielt er einen von Hermann Aubin vermittelten Lehrauftrag für Volkskunde an der Universität in Hamburg.[9] 1955 bekam er die Professur für „Siedlungsgeschichte und Volkstumsforschung namentlich Ostdeutschlands“ am Hamburger Historischen Seminar, konnte aber erst kurz vor seiner Emeritierung (1968) Hauptseminare abhalten und Staatsprüfungen abnehmen. Er beschäftigte sich jetzt schwerpunktmäßig mit der Geschichte der deutschen Ostsiedlung, („Siedlungsgeschichte Oberschlesiens“, 1954, und „Geschichte der deutschen Ostsiedlung in der Neuzeit“, 2 Bände, 1955/57).[10]

Urteile

Norbert Angermann nennt ihn in der „Ostdeutschen Biographie“ den „bedeutendsten Historiker der deutschen Ostsiedlung“, dessen emotionales Interesse an seinen Themen aus der „Liebe zu unserem Volk“ gespeist worden sei. Hitlers Umsiedlungspolitik habe er abgelehnt.

Beim Oldenburger Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa (BKGE) heißt es über ihn in einer von Prof. Dr. Matthias Weber, Dr. Kurt Dröge und Prof. Dr. Hans Henning Hahn gezeichneten Einschätzung: „Eine Forschungsrichtung war ganz besonders geeignet, imperialistische Aggressionen und Expansionen zu unterstützen: die so genannte Sprachinsel-Volkskunde des Breslauer Volkskundlers Walter Kuhn. Sie beschäftigte sich mit deutschen Minderheitengruppen in Ost- und Südosteuropa, die in kulturellen Rückzugsgebieten zahlreiche Relikte alten Traditionsguts bewahrt hatten und nun dazu benutzt wurden, einen Herrschaftsanspruch auf Grund kultureller Überlieferungen zu konstruieren.“[11]

Literatur

  • Hugo Weczerka: Verzeichnis der Veröffentlichungen Walter Kuhns 1923-1978, in Zeitschrift für Ostforschung 27 (1978), S. 532-554.
  • Hugo Weczerka: Verzeichnis der Veröffentlichungen Walter Kuhns seit 1979, in: Zeitschrift für Ostforschung 32 (1983), S. 169-172.
  • Gotthold Rhode in Zusammenarbeit mit Hugo Weczerka: Zum Tode von Walter Kuhn (1903-1983), in: Zeitschrift für Ostforschung 32 (1983), S. 161-168.
  • Michael Burleigh: Germany Turns Eastwards. A Study of Ostforschung in the Third Reich, London 2002 (zuerst 1988), S. 91-94, 156-158 und öfter. ISBN 0-330-48840-6.
  • Brigitte Bönisch-Brednich: Volkskundliche Forschung in Schlesien. Eine Wissenschaftsgeschichte, Marburg 1994.
  • Jakob Michelsen: Von Breslau nach Hamburg. Ostforscher am Historischen Seminar der Universität Hamburg nach 1945, in: Rainer Hering/Rainer Nikolaysen (Hrsg.): Lebendige Sozialgeschichte. Gedenkschrift für Peter Borowsky, Wiesbaden 2003, S. 659-681.
  • Alexander Pinwinkler: Walter Kuhn (1903-1983) und der Bielitzer „Wandervogel e.V.“. Historisch-volkskundliche „Sprachinselforschung“ zwischen völkischem Pathos und politischer Indienstnahme, S. 29-52. In: Zeitschrift für Volkskunde, 105. Jahrgang 2009, I. Halbjahresband, Waxmann Verlag: Münster.

Einzelnachweise

  1. Michael Burleigh, Germany Turns Eastwards. A Study of Ostforschung in the Third Reich, London 2002 (zuerst 1988), S. 91.
  2. Michael Burleigh (2002), S. 92-94.
  3. Vgl. Michael Fahlbusch: Rezension zu: Fielitz, Wilhelm: Das Stereotyp des Wolhyniendeutschen Umsiedlers. Popularisierungen zwischen Sprachinselforschung und nationalsozialistischer Propaganda. Marburg 2000, in: H-Soz-u-Kult, 15. April 2002, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/NS-2002-012>.
  4. Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf“ im Osten, Vandenhoeck & Ruprecht: Göttingen 2000, S. 276.
  5. Michael Burleigh (2002), S. 156.
  6. Ingo Haar (2000), S. 11.
  7. Eduard Mühle: Für Volk und deutschen Osten. Der Historiker Hermann Aubin und die deutsche Ostforschung. Düsseldorf 2005, S. 265.
  8. Michael Burleigh (2002), S. 325 f. (Anm. 80).
  9. Vgl. zur Teilrekonstruktion alter Strukturen von Göttingen aus, die von Hermann Aubin und Erich Keyser geleitet wurde: Kai Arne Linnemann, Das Erbe der Ostforschung. Zur Rolle Göttingens in der Geschichtswissenschaft der Nachkriegszeit; Tectum Verlag: Marburg 2002; ISBN 978-3-8288-8397-0.
  10. Vgl. Norbert Angermann in der Ostdeutschen Biographie zu W. Kuhn.
  11. Vgl. Bundesinstitut für ostdeutsche Kultur und Geschichte (BoKG)

Weblinks


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