- Abwehrmechanismus
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Abwehrmechanismus ist ein Begriff aus der Psychoanalyse. Mit ihm werden psychische Vorgänge bezeichnet, die den Zweck haben, miteinander in Konflikt stehende psychische Tendenzen (Triebe, Wünsche, Motive, Werte) mental so zu bewältigen bzw. zu kompensieren, dass die resultierende seelische Verfassung konfliktfreier ist. Dies erfolgt meist unbewusst.
Inhaltsverzeichnis
Instanz, Gegenstand und Funktion der Abwehr
In der Theoriesprache der freudschen Psychoanalyse bezeichnet der Begriff weitgehend unbewusst ablaufende Reaktionen, die das Ich zur Abwehr unerwünschter Triebimpulse des Es oder unangenehmer Affekte entwickelt. Die Abwehr gehört im psychoanalytischen Modell zu den Ich-Funktionen.[1] Abwehrmechanismen werden in reifere (z. B. Verdrängung) und unreifere (z. B. Spaltung) unterteilt und sind die Voraussetzung zur Bewältigung unbewusster psychischer Konflikte und damit Grundlage der Fähigkeit zur Selbststeuerung. Sie werden der bewussten Problembewältigung bzw. Konfliktverarbeitung gegenübergestellt, die als Bewältigungsstrategie (englisch coping) bezeichnet wird.
Abwehrvorgänge sind nicht als solche dysfunktional, sondern müssen immer im Gesamtzusammenhang der psychischen Struktur der jeweiligen Person gesehen werden. Meistens sind sie Bestandteil der bestmöglichen inneren Konfliktlösungen, die ein Individuum im Laufe seiner psychischen Entwicklung erreichen konnte. Dysfunktional sind insbesondere sogenannte primäre oder unreife Abwehrmechanismen wie Spaltung und Verleugnung, außerdem interpersonale Abwehrmechanismen, die andere Menschen in die Stabilisierung des eigenen psychischen Gleichgewichts einbeziehen und die betreffenden Beziehungen daher in der Regel belasten, wie z. B. bei der projektiven Identifizierung.
In Psychotherapien sind Abwehrvorgänge nicht nur als Widerstand zu verstehen, sondern dienen auch dem Schutz des psychischen Gleichgewichts des Analysanden. Die Geschwindigkeit des therapeutischen Prozesses muss sich weitgehend nach den Möglichkeiten des Patienten richten, Veränderungen und Entwicklungen zuzulassen.
Liste bekannter Abwehrmechanismen
Diese Auflistung folgt Anna Freud und der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik (OPD).[2]
- Unterdrückung/Verdrängung: Verdrängung ist ein Abwehrmechanismus, der vor allem die Aufgabe hat, das Ich vor einem bedrohlichen Einfluss zu schützen. Wie die Dissoziation radiert auch die Verdrängung keine Erinnerungen aus, sie erschwert nur die bewusste Erinnerung an ein Erlebnis. Unerwünschte Es-Impulse, die ein Gefühl von Schuld, Scham oder das Herabsetzen des Selbstwertgefühls hervorrufen, werden durch Ich und Über-Ich in das Unbewusste verdrängt. Von dort aus können sie allerdings in Träumen oder als unbewusste Ersatzhandlungen wieder zutage treten. Freuds Begriff der Repression muss vom Begriff der Unterdrückung (Suppression) unterschieden werden, denn wenn wir bestimmte Gedanken, Handlungen und Wünsche unterdrücken, sind wir uns ihrer die ganze Zeit über bewusst.
- Reaktionsbildung: Gefühle oder Motive werden durch entgegengesetzte Gefühle/Motive niedergehalten (z. B. Mitleid statt aggressiver Impulse oder Hassgefühle, wenn Liebesgefühle gefährlich erscheinen). Dies muss abgegrenzt werden zu einer bewusst ablaufenden Unterdrückung (z. B. wenn ein Arzt eine attraktive Patientin körperlich untersucht).
- Regression: Es erfolgt ein überwiegend unbewusster Rückzug auf eine frühere Entwicklungsstufe der Ich-Funktion, in der ein niedrigeres organisiertes Verhalten noch funktioniert hat (Trotzverhalten, Fresslust, Suche nach Versorgung). Probleme mit regressivem Verhalten werden ebenfalls durch andere Mechanismen abgewehrt.
- Verleugnung: Im Unterschied zur Verdrängung wird nicht ein konfliktreicher innerer Wunsch abgewehrt, sondern ein äußerer Realitätsausschnitt verleugnet, also in seiner Bedeutung nicht anerkannt. Beispielsweise werden Veränderungen in der Umgebung zwar wahrgenommen, aber ihre reale Bedeutung wird emotional nicht erlebt und rational nicht anerkannt.
- Vermeidung: Triebregungen werden umgangen, indem Schlüsselreize vermieden werden.
- Verschiebung: Phantasien und Impulse werden von einer Person, der sie ursprünglich gelten, auf eine andere verschoben, so dass die ursprünglich gemeinte Person unberührt bleibt (z. B. Aggression gegen eine tadelnde Autoritätsperson wird in Form von Beschimpfungen oder Tritten als Aggressionsverschiebung an einem Hund ausgelassen), oder ursprünglich vorhandene Zusammenhänge werden ausgeblendet und neue hergestellt. Dieser Vorgang ist insbesondere am Phänomen der Tierquälerei beteiligt.
- Spaltung: Inkompatible Inhalte werden auf mehrere Objekte verteilt. Sowohl die Objekte als auch das Selbst werden in „gut“ und „böse“ oder „schlecht“ aufgeteilt. „Gute“ Anteile werden idealisiert, „böse“ oder „schlechte“ werden entwertet, verdammt oder dämonisiert.
- Verneinung: Negierung eines Sachverhalts. Im Gegensatz zur Reaktionsbildung wird ein Gefühl oder eine Einstellung nicht durch deren Gegenteil ersetzt, sondern nur deren Vorhandensein verneint („Ich empfinde überhaupt nichts für XXX“).
- Ungeschehenmachen: Einsatz faktisch unwirksamer Handlungen und Rituale (z. B. auf Holz klopfen), denen eine symbolische Kraft zugeschrieben wird, mit dem Ziel, Strafe bei Verbots- und Gebotsübertretungen abzuwenden.
- Projektion: Eigene psychische Inhalte und Selbstanteile (vor allem Affekte, Stimmungen, Absichten und Bewertungen) werden anderen Personen zugeschrieben. Der Triebimpuls wird auf ein Objekt projiziert wie bei einer optischen Projektion.
- Projektive Identifizierung: Kombination von innerpsychischen und interpersonellen Vorgängen, bei dem das Gegenüber (unbewusst) so beeinflusst wird, dass es bestimmte Erwartungen erfüllt. Negative Selbstanteile (in der Regel Aggressionen) werden erst abgespalten, dann auf das Gegenüber projiziert – wenn das Gegenüber sich unbewusst mit den abgespaltenen, projizierten Anteilen identifiziert und so handelt, wie es der Erwartung entspricht (z. B. aggressiv) werden durch diese Externalisierung unangenehmer oder unerträglicher Selbstanteile so innere Konflikte in der Außenwelt inszeniert, um das innerpsychische Gleichgewicht aufrechtzuerhalten, was jedoch die Beziehungen zu anderen stark belasten kann. Es handelt sich um einen für sogenannte Borderline-Störungen typischen Abwehrmechanismus, der die Schwierigkeiten, sich der Psychodynamik der Betroffenen gegenüber abzugrenzen, besser verständlich macht.
- Introjektion und Identifikation: Wehrt Angst vor Bedrohungen von außen ab. Durch das Einverleiben äußerer Werte wie bestimmtes Verhalten, Anschauungen, Normen oder Werte einer anderen Person in die Ich-Struktur, sodass das Individuum sie nicht mehr als Drohungen von außen erleben muss.
- Identifikation mit dem Aggressor: Bei einem gewaltsamen Übergriff bzw. einer psychischen Grenzüberschreitung wird die Verantwortung für das Geschehen sich selbst zugeschrieben und/oder die Einstellung oder das Verhalten eines Angreifers übernommen. Beides dient der Abwehr unerträglicher Angst- und Hilflosigkeitsgefühle und einer symbolischen Rückerlangung von Kontrolle.
- Surrogierende Abwehrmechanismen
- Intellektualisierung: Entfernung vom unmittelbaren konfliktuösen Erleben durch Abstraktionsbildung und theoretisches Analysieren (z. B. abstrakte Gespräche über das Wesen der Liebe; Fachsimpeln unter Ärzten oder Therapeuten über schwierige Patienten oder solche, die in ihrem Leid als psychische Belastung erlebt werden), Philosophieren über Dinge, die eine verborgene emotionale Bedeutung für die Person haben.
- Rationalisierung: Rational-logische Handlungsmotive werden als alleinige Beweggründe für Handlungen angegeben oder vorgeschoben. Gefühlshafte Anteile an Entscheidungen werden ignoriert oder unterbewertet.
- Sublimierung oder Sublimation: Nicht erfüllte Triebwünsche werden durch gesellschaftlich höher bewertete Ersatzhandlungen ersetzt und damit befriedigt (Kunst, Wissenschaft, Musik, Sport, exzessive Arbeit). Typischerweise eignen sich für bestimmte Wünsche bestimmte Sublimationstechniken besonders gut. So werden aggressive Triebe oft durch Sport sublimiert, sexuelle Wünsche durch Beschäftigung mit schönen Künsten oder kindliche Neugierde durch wissenschaftliche Forschertätigkeit. Sublimierungen erfüllen die Befriedigung der Triebwünsche oft gut und werden dann nicht als psychopathologisch angesehen. Nach Freud ist die Sublimierung ein wichtiger Motor für die Kulturentwicklung.
- Abwehr unter Beteiligung körperlicher Symptome
- Somatisierung: Nicht-Wahrnehmen eines Konflikts in seiner eigentlichen Gestalt, sondern in Form körperlicher Beschwerden. Diese haben jedoch keinen Symbolgehalt.
- Konversion: Umlagern eines psychischen Konflikts auf somatische Symptome, die eine symbolische Beziehung zum Konflikt haben. Entspricht dem früheren Hysteriebegriff (hysterische Blindheit, Lähmung).
- Abwehrmechanismen des Affekts
- Affektualisierung: Ein Ereignis oder Verhalten wird dramatisiert.
- Entwertung/Idealisierung: Objekte werden unbewusst entwertet oder überhöht.
- Affektisolierung: Fehlen oder Dämpfung eines normalerweise spontan auftretenden Gefühls in einer bestimmten Situation. Der Nachweis eines isolierten Affektes dient therapeutisch auch der Bewusstmachung und rationalen Betrachtung bestimmter gefühlsintensiver Reaktionen.
- Aggressive Abwehrmechanismen
- Autoaggression: Aggressive Impulse werden gegen die eigene Person gerichtet und treffen so nicht die Person, der sie ursprünglich galten, um die Beziehung zu dieser Person nicht zu gefährden. Das interpersonelle Feld wird so von Störungen freigehalten, ein interpersoneller Konflikt wird zulasten eines intrapsychischen Konflikts vermieden.
- Isolierung: Ein unerfüllbarer Wunsch wird dadurch bewältigt, daß er in entstellter Form befriedigt wird, wobei er als fremd, nicht der eigenen Person zugehörig, erlebt wird. Isolierung tritt häufig bei Zwangsneurosen auf, wo zum Beispiel die Zwangsvorstellung, andere Leute könnten auf der Straße tot umfallen, an die Stelle eines vom Ich nicht annehmbaren Todeswunsches gegen den Vater tritt.
Abwehrmechanismen in Abhängigkeit vom Strukturniveau
Bestimmte Abwehrmechanismen treten in der Praxis nur bei gewissen mindestens vorhandenen Strukturniveaus auf und können deshalb innerhalb der Therapie ein Hinweis auf ein vorhandenes Strukturniveau beim Klienten sein.
Eine zweiklassige Einteilung der Abwehrmechanismen ist:[3]
- Primäre Ichabwehr:
- Verleugnung und Permanenz einer Bindung,
- Verdrängung,
- Löschen subjektiven Erlebens (Abspaltung, Verschiebung, Depersonalifikation, Identifikation, Konversion),
- Somatische Konversion.
- Sekundäre Ichabwehr:
- Hemmung,
- Reaktionsbildung,
- Ungeschehenmachen,
- Isolierung des Affekts,
- Wendung gegen das eigene Selbst.
Eine dreiklassige Klassifizierung nach Strukturnivau ist:
- geringes oder niederes Strukturniveau:
- projektive Identifikation
- Verleugnung
- Spaltung
- Projektion
- (Aggressive Abwehrmechanismen wie z. B. Autoaggression)
- mäßiges oder mittleres Strukturniveau:
- Entwertung oder Idealisierung
- Reaktionsbildung
- Regression
- Verschiebung
- Verneinung
- Ungeschehenmachen
- Introjektion
- Konversion
- gutes, hohes oder reifes Strukturniveau:
Siehe auch
- Emotionsregulation
- Selbstregulation (Psychologie)
- Dissoziation (Psychologie)
- Grundkonflikt
- Intensive Psychodynamische Kurzzeittherapie (mit aktiver Aufdeckung von Abwehr)
Literatur
- Sigmund Freud: Die Abwehr-Neuropsychosen, Versuch einer psychologischen Theorie. 1894. In: Gesammelte Werke, Band I.
- Sigmund Freud: Die Verdrängung. 1915/1946. In: Gesammelte Werke, Band X.
- Anna Freud: Das Ich und seine Abwehrmechanismen. Kindler, München 1936/1964.
- Inez Gitzinger-Albrecht: Mehrebenendiagnostik von Abwehrprozessen als eine Strategie der Psychotherapieforschung. Peter Lang, Europaeische Hochschulschriften, Frankfurt 1993, ISBN 3-631-45624-7.
- Karl König: Abwehrmechanismen. Vanderhoeck und Ruprecht, Göttingen 1996.
- Phebe Cramer: Protecting the Self – Defense Mechanisms in Action. Guilford Press, 2006, ISBN 978-1-59385-298-6. Einleitung (engl.)
- R. L. Atkinson, E. E. Atkinson, D. J. Bem, E. Göttingen, R. Hildegard: Introduction to psychology. HBJ, Fort Worth 1990, S. 554–607.
Weblinks
- Abwehrmechanismen des Ichs. In: teachsam.de Psychologie.
Einzelnachweise
- ↑ „Man ist sich darüber einig, daß sich das Ich der Abwehrmechanismen bedient, aber die theoretische Frage bleibt offen, ob ihre Verwendung immer die Existenz eines organisierten Ichs als Basis voraussetzt.“ Abwehrmechanismen. In: Jean Laplanche/Jean-Bertrand Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse. 6. Aufl. Band 1. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1984, S. 30 ff.
- ↑ Falk Leichsenring (Hrsg.): Lehrbuch der Psychotherapie. Bd. 2: Psychoanalytische und tiefenpsychologisch fundierte Therapie. 2004, ISBN 3-932096-32-0.
- ↑ Nach John Bradshaw: Wenn Scham krank macht. Verstehen und Überwinden von Schamgefühlen. Aus dem Amerikanischen von Bringfried Schröder. Knaur-Taschenbuch-Verlag, München 2006, ISBN 3-426-87327-3.
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