Demarchie

Demarchie

Die Demarchie (Kunstwort aus dem altgriech. δῆμος demos „Volk“ und ἄρχειν archein „Erster sein, herrschen“) ist eine demokratische Herrschaftsform, in der Regierung und Volksvertreter durch das Los und nicht durch Wahlen bestimmt werden. Der Begriff wurde durch den australischen Philosophen John Burnheim bekannt gemacht.

In Buch 4 (1294b) der Politica schreibt Aristoteles:

Ich bin beispielsweise der Meinung, dass es als demokratisch anzusehen ist, wenn die Herrschenden durch das Los bestimmt werden, während Wahlen als oligarchisch betrachtet werden müssen.

Inhaltsverzeichnis

Demarchiecharakteristika

Es gab und gibt verschiedene Demarchien sowie sehr unterschiedliche utopische. Die Zufallsauswahl betrifft entweder die Volksvertreter in Entscheidungsgremien oder Amtsträger oder beides. Die Entscheidungsgremien können für eine Legislaturperiode oder nur für eine bestimmte Entscheidung zusammengestellt sein. Die auf Zeit gebildeten Gremien fungieren anstelle einer Volksvertretung oder es gibt je eines für einen Bereich (Bildung, Umwelt, Wirtschaft usw.). Ein weiterer Aspekt betrifft die Frage, ob es eine Pflicht zur Teilnahme gibt oder ob man sich auch dagegen entscheiden kann. Auch in der Auswahlbasis (Alter, Bildungsniveau, Interesse, Erfahrung usw.) gibt es Unterschiede.

Vergleich mit der repräsentativen Demokratie

Die Entwickler von Demarchiekonzepten versuchen das, was sie als Mängel der repräsentativen Demokratie ansehen, zu überwinden. Deshalb sind die von ihnen genannten Vorteile gleichzeitig eine Kritik an den realen Demokratieausgestaltungen.

Wahlen

Idealerweise wählt ein Wähler die Partei oder den Kandidaten, mit der oder mit dem die größte Übereinstimmung mit den eigenen Überzeugungen besteht bzw. er wählt die nicht, die nach seiner Meinung falsche Entscheidungen getroffen haben. Dies ist ein prinzipielles Dilemma, da der Wähler gezwungen wird, die politische Vielfalt in einer Stimmabgabe zusammenzufassen. Hinzu kommt, dass die meisten Wähler weder die Zeit noch das Interesse haben, sich umfassend mit den Programmen der Parteien oder ihrem Verhalten bzw. dem der Kandidaten zu beschäftigen (siehe Rationale Ignoranz). Infolgedessen wird viel Zeit und Geld darauf verwandt, für Parteien und Politiker zu werben. Die Wähler geben ihre Stimme dann entsprechend dem Eindruck, den sie durch die Werbung oder andere Einflüsse wie die Medien haben. In der Demarchie entfällt dieser Aufwand. Entscheidungen werden von Personen gefällt, die nicht versuchen mussten, sich in einer solchen Weise zu präsentieren.

Korruption

Zufällig ausgewählte Personen sind weit weniger abhängig. Sie müssen nicht auf eine Parteilinie, eine Parteikarriere, den Erhalt eines politischen Postens oder den Eindruck, den sie in der Öffentlichkeit machen, Rücksicht nehmen. Die Chancen sie zu korrumpieren sind wesentlich geringer als es bei den gewählten Vertretern in der repräsentativen Demokratie der Fall ist (siehe Nachteile der repräsentativen Demokratie), unter anderem auch deshalb, weil sie erst nach ihrer Ernennung bekannt werden (siehe auch Lobbyismus).

Zeitaufwand

Für Parlamentsabgeordnete und politische Amtsträger ist es typisch, dass sie einen wesentlichen Teil ihrer Zeit für die Pflege von Beziehungen und zur Erzielung publizistischer Aufmerksamkeit aufwenden. In der Demarchie entfällt ein solcher Aufwand für Volksvertreter und ist für Amtsträger mindestens wesentlich geringer.

Demarchie in der Praxis

Demarchie als staatliche Herrschaftsform gab es bisher nur selten. Derzeit findet man Demarchie in der Praxis in Geschworenengerichten, bei Bürgerbeteiligungsverfahren (wie zum Beispiel Bürgergutachten), in Beratungsgremien und in Organisationen.

Athenische Demokratie

Die Demarchie wurde teilweise im Rahmen der antiken Polis in Griechenland, vor allem in Athen, praktiziert, um Korruption oder Gewalttätigkeit bei Wahlkämpfen einzudämmen: Stadtverordnete, Richter und die meisten Ämter wurden durchs Los bestimmt. Allerdings waren Frauen, Sklaven und Einwohner auswärtiger Herkunft nicht als Kandidaten zugelassen. Die 200 Jahre, in denen in Athen diese Demokratie mit kurzen Unterbrechungen bestand, waren zugleich die Zeit seiner größten Machtentfaltung.

Geschworene

In vielen Ländern, insbesondere in den USA und Großbritannien, werden Geschworene per Zufallsauswahl berufen. Sie entscheiden in Strafverfahren über "schuldig" oder "nicht schuldig".

Citizens’ Assembly on Electoral Reform

Eine Form der Demarchie ist in der kanadischen Provinz British Columbia zu finden, wo die Mitglieder der Citizens’ Assembly on Electoral Reform durch Los bestimmt wurden. Diese Gruppe hatte die Aufgabe, Veränderungen am Wahlrecht vorzuschlagen. Dort wurden die Mitglieder der Gruppe gründlich und umfangreich mit Wahlsystemen aus der ganzen Welt vertraut gemacht, so dass sie in der Lage waren, angemessene Vorschläge zu finden und darzustellen.

Planungszelle

In Deutschland hat im Bereich von politischer Planung der Soziologe Peter Dienel das Konzept der Planungszelle entwickelt, bei der die Mitglieder eines beratenden Ausschusses nicht berufen, sondern aus den (z.B.) Einwohnern eines beplanten Gebietes erlost werden, was sich recht gut bewährt hat (von der kommunalen bis zur europäischen Ebene).[1] Ein ähnliches Verfahren ist von Ned Crosby in den USA unter dem Namen "Citizens' Jury" entwickelt worden; es lehnt sich an die Geschworenengerichte an.

Bürgerjury des ISF

Im Jahre 2000 beauftragte der Umweltminister des australischen Staates New South Wales das "Institute of Sustainable Futures" (ISF) in Sydney mit einer Studie zur Gesetzgebung für ein Pfand auf Getränkebehälter. In Zusammenhang mit dieser Aufgabe stellte das Institut per Zufallsauswahl eine Bürgerjury zusammen. Die Bürgerjury sollte die verschiedenen Möglichkeiten für ein Kreislaufsystem unter Berücksichtigung der Akzeptanz der Beteiligten gegeneinander abwägen. Die Jury ließ sich weder von der Industrie noch von Umweltverbänden beeinflussen. Die Teilnehmer zeigten, dass sie das Interesse der Allgemeinheit über ihr persönliches stellten.

Experiment zur Bürgerbeteiligung in Zeguo

An der chinesischen Ostküste in der Industriestadt Zeguo läuft (2009) ein politisches Experiment zur Beteiligung der Bürger an politischen Entscheidungen. Es wird im Auftrag der chinesischen Regierung von Bao Ganghe betreut, der in Australien Politik lehrt. In Zeguo werden 200 Einwohner nach reinem Zufallsprinzip ausgewählt, die den Finanzetat der Stadt für das kommende Jahr diskutieren.

Internet Engineering Task Force

Als Beispiel für Demarchie in einer Organisation sei die „Internet Engineering Task Force“ genannt. In dieser Organisation werden Delegierte per Zufallsauswahl nominiert, die dann den Vorstand wählen. Diese Organisation schlägt auch ein öffentlich überprüfbares Verfahren für eine Zufallsauswahl vor.

Unentschiedene Wahlergebnisse

Ein bestimmtes demarchisches Element findet sich freilich sehr häufig im Wahlrecht demokratischer Gebietskörperschaften[2] und kopfreicher Organisationen[3]: Wenn dort auf zwei (oder mehr) zu Wählende die gleiche Stimmzahl entfällt, so entscheidet zwischen ihnen das Los.

Utopische Demarchiemodelle

Demarchie als utopische Idee bezieht sich meist auf einen Staat oder gar auf ein weltweites Herrschaftssystem. Allerdings wird in vielen Darstellungen betont, dass das Modell auch für andere Gemeinschaften wie niedere Verwaltungsebenen, größere Wirtschaftsunternehmen oder Organisationen anwendbar sei.

Alternative gemäß John Burnheim

John Burnheim empfiehlt, Entscheidungsgremien und Verwaltungen in Politik, Staat und Wirtschaft durch ein demarchisches System zu ersetzen. Eine Möglichkeit wäre, für verschiedene Bereiche wie zum Beispiel Verkehr, Bibliothekswesen oder Bauvorschriften jeweils ein eigenes Entscheidungsgremium zu bilden. Die Mitglieder werden zufällig aus Freiwilligen ausgewählt, und zwar derart, dass die Zusammensetzung der der Bevölkerung nach Geschlecht, ethnischer Herkunft, Alter und dergleichen entspricht. In einem festgelegten Rhythmus werden die Mitglieder durch neue ersetzt. Die Beschlüsse eines Entscheidungsgremiums werden nicht administrativ umgesetzt, sondern die Mitglieder müssen die Bevölkerung von der Richtigkeit ihrer Beschlüsse überzeugen.

Lottokratie

L. León entwirft ein Gremium, das weltweit zuständig ist. Das Gremium soll beispielsweise aus tausend „Governors“ bestehen, die per Computer zufällig weltweit aus gewöhnlichen Bürgern eines Alters (z. B. 45 Jahre) ausgewählt werden. Es soll eine Pflicht zur Übernahme der Funktion für ein Jahr geben. Die Governors sollen sich nicht versammeln, sondern nur per Internet miteinander kommunizieren. Sie sollen sich in beliebiger Weise bei wissenschaftlichen Einrichtungen Informationen und Beratung einholen können.

Random-Demokratie

In der Random-Demokratie wird für jede neue politische Entscheidung einschließlich der Wahl von Amtsträgern ein neues Gremium zusammengestellt. Bei der Zufallsauswahl werden die Bewährung und die Interessengebiete der Kandidaten berücksichtigt. Es gibt eine spezielle Behörde für die Organisation und Betreuung von Entscheidungsverfahren. An diese Behörde kann sich auch jeder Bürger mit Anträgen wenden. Eine Entscheidung gilt erst dann als gefällt, wenn es eine Mehrheit von mindestens zehn Stimmen für oder gegen einen Antrag gibt. Für den staatlichen Bereich wird in diesem Modell eine weitgehende Transparenz und Leistungsorientierung gefordert.

US-Repräsentantenhaus gemäß Callenbach

In ihrem Buch „A Citizen Legislature“ beschreiben Ernest Callenbach und Michael Phillips, welche Vorteile es hätte, das US-Repräsentantenhaus per Zufallsauswahl zu bilden. Sie gehen davon aus, dass die Abgeordneten in überlappenden Zeiträumen für drei Jahre aus den Bürgern ausgewählt werden.

Anmerkungen

  1. Vgl. z. B. die Studie Bürgerkonzeptionierter Zivil- und Katastrophenschutz (Bonn: BZS 1992) der Katastrophenforschungsstelle der Universität Kiel.
  2. So bei bayerischen Bürgermeisterwahlen.
  3. So z. B. in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie.

Literatur

Weblinks


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