Der Aufbruch (Kafka)

Der Aufbruch (Kafka)

Der Aufbruch ist eine 1922[1] von Franz Kafka verfasste Parabel und wurde 1936 postum und zunächst gekürzt von seinem Freund Max Brod veröffentlicht.[2] Sie beschreibt den Ritt eines Ich-Erzählers, der seine Heimat mit ungewissem Ziel verlässt. Möglicherweise liegt dem Text eine ostjüdische Erzählung zu Grunde.[3]

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

Zu Anfang bereitet der Ich-Erzähler seinen Ausritt vor. Auf Anfrage seines verwunderten Dieners, wohin die Reise führen solle, antwortet der Protagonist mehrmals mit „nur weg von hier“ und legt „Weg-von-hier“ als seinen Zielort fest. Als der Diener wissen will, warum sein Herr denn keinerlei Proviant mitnehme, entgegnet der aufbrechende Protagonist, es sei eine so besonders lange Reise, dass er ohnehin verhungern müsste, falls er unterwegs nichts zu essen bekomme. Mit der Betonung, dass diese ungeheure Länge der Reise doch ein Glück sei, endet das kurze Gleichnis.

Formanalyse

Kafka benutzt in dieser Parabel die von ihm bekannte, eher schlichte Stilart [4]. Die Aussagen sind in kurze Hauptsätze gefasst, so stehen nur drei Nebensätze genau 36 Hauptsätzen gegenüber. Im Allgemeinen sind diese nicht besonders aufwändig geschmückt und ohne besondere Verknüpfungen einfach aneinandergereiht. Die simple Handlung entwickelt sich zunächst zu einer Wechselrede, es folgt dann der Einsatz der indirekten Rede, welche am Ende zur direkten Rede hinausläuft.

Deutungsansätze

In dieser Parabel spricht Kafka zuversichtlich (eine Besonderheit!) vom großen Wagnis eines Lebensaufbruchs, bei dem sich das Selbst erneuert. [5]. Der Protagonist reitet aus, ohne jedoch zu wissen, wohin er genau aufbrechen möchte. Dieser Ritt soll die Grenzen des offensichtlich ungeliebten Gewohnten durchbrechen, es erscheint fast wie eine Flucht. Sein Umfeld (in diesem Fall der Diener) versteht diesen Vorsatz nicht. Zur Verstärkung des Aufbruchsgefühl ertönt kurz nach der Ankündigung des Vorhabens ein Trompetenton, sodass seine innere Aufbruchbereitschaft und das äußere Signal gleichzeitig stattfinden. Diesen Weckruf hört jedoch nur er, da seinem Umfeld sein Drang, zu neuen Ufern auszubrechen, unverständlich bleibt [6].

Die Reise ist, wie er betont, lang und kann auch misslingen (Tod durch Verhungern). Eine Absicherung gegen Misserfolge, wie z.B. das Mitnehmen von Essensvorräten, läuft darauf hinaus, dass diese Reise –im Sinne einer Veränderung – wiederum misslingen würde, da es wieder in den Zustand des Gewohnten verkäme. So ernährt der Weg allein den Reisenden und nicht erst das Ziel sichert sein Überleben. In einer Umschreibung könnte man dies als „der Weg ist das Ziel“-Maxime deuten. Und deshalb ist es ja auch ein Glück, dass dieser Weg eine wahrhaft ungeheuere Reise darstellt. Jedoch spricht dem entgegen, dass die Reise doch ein Ende finden wird, da sie nicht unendlich ist, sondern nur „lang und ungeheuerlich“. Trotz dieser Strapazen ist der Protagonist bereit, sie auf sich zu nehmen, um das Alte zu durchbrechen und sich dem Neuen zu stellen – ein immerwährender Aufbruch.

Sudau (S. 126) : „Einfache Verhältnisse also, Grundsituationen, von Menschengedenken an wichtig und wiederkehrend. Nur die insgeheim vorgehenden Sinnverschiebungen - Reise als Lebensreise, Trompete als Wecksignal- , die von den leisen Irritationen - dem Nicht-Verstehen und Nicht-Hören des Dieners - ausgehen, sorgen dafür, dass die Banalität sich in Bedeutsamkeit wandelt...“[7]

Das Schreiben als Reise

Sabine Eickenrodt zeigt am Beispiel von Kafkas Erzählung Der plötzliche Spaziergang (1913), dass der plötzliche Aufbruch einen Topos, ein typisches Motiv, in Kafkas Erzählungen darstellt. [8] Jörg Wolfradt sieht in Kafkas Aufbruchstexten den „Sinnentzug als Strukturprinzip“[9] „Kafkas Texte ‚proben Anfänge‘. Sie operieren mit anfänglichen Sinnannahmen, um diese dann Stück für Stück zurückzunehmen.“[10] Kafkas Parabel „Der Aufbruch“ nehme „ein anfängliches stoffliches ‚Widerlager‘“[11] zum Ausgangspunkt. Die anfänglichen „Wirlichkeitsbezüge - Betreten des Stalls, Satteln des Pferdes, Ankommen beim Tor“[12] würden jedoch durch das anschließende Gespräch in Frage gestellt.

Diese Abkehr von konkreten Bezügen vollzieht sich nach Wolfradt in zwei Schritten: Aus der Angabe „Immerfort weg von hier ...“, die noch an den konkreten Ausgangspunkt der Reise, die alte Umgebung, anknüpfe, werde das imaginäre Ziel des „Weg-von-hier“.[13] Im Anschluss an Eberhard Frey interpretiert Wolfradt diesen Aufbruch als sprachlichen „Übergang vom Bekannten zum Unbekannten“.[14] Sehr weitgehend interpretiert Frey dieses Sprechen selbst als die Reise.[15] Das sprachliche Konstrukt des „Weg-von-hier“, das dem Diener unverständlich bleibt, bringt nach Wolfradt den „Text in Bewegung“.[16]

Dem Diener bleibe die Zielbeschreibung unverständlich, der Herr könne sie nicht verständlich in Worte fassen, „eine Explikation des Reiseziels scheitert an der allgemeinen Unordnung des Diskurses“.[17] Was bleibt, ist die Bewegung des Schreibens. Frey interpretiert, davon ausgehend die „Erzählung als Reise ... als die unaufhörliche Bewegung, die sich immer wieder neu vom eben erst gewonnenen Ziel abstößt und damit auch immer auf der Grenze zum Unbekannten bleibt.“[18]

Wolfradt weist darauf hin, dass das Reiten für Kafka in verschiedenen Texten als „Metapher für das Schreiben“ diene. „Der Ritt auf dem Pferde verkörpert das ‚Hineinreiten‘ ins Schreiben, das Hinfahren der Feder auf dem weißen Papier.“[19]

Biographische Deutung

Marie Haller-Nevermann stellt die Erzählung in einen biographischen Kontext. Kafka habe als „Lebenslösung“ in Tagebüchern und Texten immer wieder daran gedacht „wegzulaufen, wegzugehen, wegzuspringen“.[20] Die Parabel „Der Aufbruch“ sei Kulminationspunkt der literarischen Fassungen dieser Ausbruchsversuche, für die Kafka sowohl Reisen als auch Selbstmord durchdacht habe. „Eines der Vehikel, die dieser Utopie des Weggehens dienen, ist für den Reiter Kafka das Pferd.“[21] Die Zielformulierung „Weg-von-hier“ in der Parabel stehe für die Ablehnung seiner Lebenssituation, allerdings positiv gewendet: Es sei die „Aufforderung an sein Ich, selbst aktiv zu werden, sich zu befreien durch Negation“.[22]

Im gleichen Sinne stellt Peter-André Alt die Parabel in den biographischen Kontext von Kafkas Reise zu Dora Diamant nach Berlin 1923. „Die kurze Studie Der Aufbruch hatte im Februar 1922 mit dem antizipierenden Wissen der Literatur beschrieben, was hier geschah: ein Reiter unternimmt eine weite Reise, deren einziges Ziel es ist, ‚nur weg von hier‘ zu führen.“[23]

Weblink (Text des Gleichnisses)

Sekundärliteratur

  • Sabine Eickenrodt: Plötzlicher Spaziergang. Der Aufbruch als Topos einer literarischen Bewegungsform bei Kafka und Walser. In: Hans Richard Brittnacher; Magnus Klaue: Unterwegs. Zur Poetik des Vagabundentums im 20. Jahrhundert. Köln [u.a.] 2008, S. 43ff.
  • Eberhard Frey: Erzählen als Lebensform. Zu Kafkas Erzählung „Der Aufbruch“. In: Sprachkunst 13, 1982.
  • Ralf Sudau: Franz Kafka: Kurze Prosa/Erzählungen – 16 Interpretationen. Klett, Stuttgart 2007, ISBN 978-3-12-922637-7.
  • Jörg Wolfradt: Der Roman bin ich. Schreiben und Schrift in Kafkas „Der Verschollene“. Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft, Bd. 188, Königshausen & Neumann 1996.

Einzelnachweise

  1. Malcolm Pasley und Klaus Wagenbach datieren den in einem Quartheft überlieferten Text auf das Frühjahr 1922, Hartmut Binder gibt den Februar 1922 als Entstehungsdatum; Pasley; Wagenbach: Datierung sämtlicher Texte Franz Kafkas, zitiert nach: Jörg Wolfradt: Der Roman bin ich, a.a.O., S. 101
  2. Jörg Wolfradt: Der Roman bin ich, a.a.O., S. 104
  3. Hartmut Binder: Motiv und Gestaltung bei Franz Kafka. Bonn 1966, S. 55
  4. Ralf Sudau S. 126/127
  5. Ralf Sudau S. 125 f.)
  6. Ralf Sudau, a.a.O., S. 125 ff.
  7. Ralf Sudau, a.a.O., S. 126
  8. Sabine Eickenrodt: Plötzlicher Spaziergang : Der Aufbruch als Topos einer literarischen Bewegungsform bei Kafka und Walser, a.a.O., S. 43ff.
  9. Jörg Wolfradt: Der Roman bin ich, a.a.O., S. 101
  10. Jörg Wolfradt: Der Roman bin ich, a.a.O., S. 101
  11. Jörg Wolfradt: Der Roman bin ich, a.a.O., S. 101
  12. Jörg Wolfradt: Der Roman bin ich, a.a.O., S. 102
  13. Jörg Wolfradt: Der Roman bin ich, a.a.O., S. 102
  14. Eberhard Frey: Erzählen als Lebensform, zitiert nach: Jörg Wolfradt: Der Roman bin ich, a.a.O., S. 102
  15. vgl. Frey, a.a.O. S. 90, zitiert nach: Jörg Wolfradt: Der Roman bin ich, a.a.O., S. 102
  16. Jörg Wolfradt: Der Roman bin ich, a.a.O., S. 103
  17. Jörg Wolfradt: Der Roman bin ich, a.a.O., S. 103
  18. Frey, a.a.O., S. 90; zitiert nach: Jörg Wolfradt: Der Roman bin ich, a.a.O., S. 105
  19. Jörg Wolfradt: Der Roman bin ich, a.a.O., S. 105
  20. Marie Haller-Nevermann: Franz Kafka - Visionär der Moderne. Göttingen (Wallstein-Verlag) 2008, Genshagener Gespräche 11, S. 30
  21. Marie Haller-Nevermann: Franz Kafka - Visionär der Moderne, a.a.O., S. 31
  22. Marie Haller-Nevermann: Franz Kafka - Visionär der Moderne, a.a.O., S. 31
  23. Peter-André Alt: Franz Kafka : der ewige Sohn : eine Biographie. 2. Auflage, München (Beck) 2008, S. 667

Wikimedia Foundation.

Игры ⚽ Нужно сделать НИР?

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Der Aufbruch — Aufbruch steht für: Schacht (Bergbau), in der Bergmannssprache ein unter der Erdoberfläche endender, senkrechter Blindschacht Aufbruch (Zeitung), schweizerische Zeitung für Religion und Gesellschaft Aufbruch für Bürgerrechte, Freiheit und… …   Deutsch Wikipedia

  • Der Geier (Kafka) — Der Geier ist ein kleines parabelartiges Prosastück von Franz Kafka aus dem Jahr 1920. Ein Geier zerfleischt die Füße eines Menschen, ohne dass diesem geholfen wird. Schließlich mündet es in ein Blutgemetzel. Inhaltsverzeichnis 1 Entstehung 2… …   Deutsch Wikipedia

  • Der Riesenmaulwurf — Der Dorfschullehrer (anderer Titel von Max Brod: Der Riesenmaulwurf) ist eine Erzählung von Franz Kafka, die vom Dezember 1914 bis Januar 1915 entstand, nicht abgeschlossen wurde und postum veröffentlicht wurde. Ein Kaufmann und ein… …   Deutsch Wikipedia

  • Aufbruch — steht für: Aufbruch (Roman), ein Roman von Ulla Hahn Schacht (Bergbau), in der Bergmannssprache ein unter der Erdoberfläche endender, senkrechter Blindschacht Aufbruch (Zeitung), schweizerische Zeitung für Religion und Gesellschaft Aufbruch für… …   Deutsch Wikipedia

  • Kafka — Franz Kafka, um 1906 Franz Kafka (* 3. Juli 1883 in Prag, damals Österreich Ungarn; † 3. Juni 1924 in Kierling bei Klosterneuburg, Österreich; selten auch tschechisch František Kafka) war ein deutschsprachiger Schriftsteller, der au …   Deutsch Wikipedia

  • Der Proceß — Verlagseinband der Erstausgabe 1925 Der Process (auch Der Prozeß, Der Prozess und Der Proceß) ist neben Amerika und Das Schloss einer von drei unvollendeten und postum erschienenen Romanen von Franz Kafka. Inhaltsverzeichnis …   Deutsch Wikipedia

  • Der Prozess — Verlagseinband der Erstausgabe 1925 Der Process (auch Der Prozeß, Der Prozess und Der Proceß) ist neben Amerika und Das Schloss einer von drei unvollendeten und postum erschienenen Romanen von Franz Kafka. Inhaltsverzeichnis …   Deutsch Wikipedia

  • Der Prozeß — Verlagseinband der Erstausgabe 1925 Der Process (auch Der Prozeß, Der Prozess und Der Proceß) ist neben Amerika und Das Schloss einer von drei unvollendeten und postum erschienenen Romanen von Franz Kafka. Inhaltsverzeichnis …   Deutsch Wikipedia

  • Der Verschollene — ist neben Das Schloss und Der Process einer der drei unvollendeten Romane von Franz Kafka, entstanden zwischen 1911 und 1914 und 1927 von seinem Freund und Herausgeber Max Brod postum veröffentlicht. In den frühen Ausgaben wurde der Roman unter… …   Deutsch Wikipedia

  • Der Bau — ist eine 1923–1924 entstandene, unvollendete Erzählung von Franz Kafka, die postum erstmals 1928 in der Zeitschrift Witiko und 1931 von Max Brod [1] veröffentlicht wurde. Sie schildert den vergeblichen Kampf eines Tieres um die Perfektionierung… …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”