- Dreyfuß-Affäre
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Als Dreyfus-Affäre wurde der Fall des aus dem Elsass stammenden jüdischen Artilleriehauptmanns im französischen Generalstab Alfred Dreyfus (1859–1935) bekannt, der in der III. Französischen Republik Ende des 19. Jahrhunderts wegen angeblichen Landesverrats zu lebenslanger Verbannung und Haft verurteilt wurde. Die heftigen Debatten um seine Schuld oder Unschuld hatten weitreichende Auswirkungen auf die französische Innenpolitik und polarisierten mehrere Jahre lang die gesamte Gesellschaft und die junge französische Republik.
Inhaltsverzeichnis
Der Ablauf der Affäre
Die Verurteilung Dreyfus’
Ihren Anfang nahm die Affäre am 25. September 1894, nachdem angeblich eine französische Agentin, die als Putzfrau in der deutschen Botschaft in Paris tätig war, im Papierkorb des deutschen Militärattachés Maximilian von Schwartzkoppen Reste eines Briefes ohne Namen des Schreibers entdeckt hatte. In diesem Schriftstück, dem anschließend so genannten „Bordereau“, befand sich eine Liste geheimer französischer Dokumente, und das Angebot, eben diese zu übergeben.
Da das „Bordereau“ hauptsächlich Informationen über die Artillerie versprach, verdächtigte man im französischen Generalstab rasch den Artilleristen-Hauptmann Dreyfus, den seine Eigenschaft als quasi Deutschstämmiger und vor allem als Jude zum Verräter zu prädestinieren schien.
Am 15. Oktober wurde er verhaftet und in Rennes vor ein Militärgericht gestellt. Da es aus Sicht des Generalstabes kaum möglich war, das eigentliche Beweisstück zu veröffentlichen, ohne Deutschland gegenüber Spionage zugeben zu müssen, wurden bereits in diesem nichtöffentlichen Verfahren gefälschte Beweise verwendet und Beweisstücke der Anklage den Richtern lediglich gezeigt, nicht jedoch ausgehändigt und auch nicht der Verteidigung zugänglich gemacht. Außerdem wurden sowohl Richter und Verteidiger als auch die Öffentlichkeit über die Herkunft des im Detail unbekannten Beweisstückes im Dunkeln gelassen.
Für Dreyfus und seine Anwälte schien zunächst ein Freispruch sicher zu sein: Die Anklage konnte kein glaubwürdiges Motiv nachweisen. Ein vom angesehenen französischen Kriminalisten Alphonse Bertillon erstelltes Schriftgutachten war zwar zu Dreyfus’ Ungunsten ausgefallen, beruhte aber auf der Annahme, dass Dreyfus seine Handschrift willentlich verändert habe. Zudem lagen drei gegenteilige Gutachten vor, die Dreyfus entlasteten.
Für den Großteil der Öffentlichkeit allerdings stand Dreyfus von Anbeginn an als Schuldiger fest: Bereits die ersten Zeitungen, die in Frankreich über den Fall berichteten, betonten seine jüdische Herkunft und bedienten damit die in der Bevölkerung weit verbreiteten antisemitischen Klischees. Hinzu kamen die Aussagen des Kriegsministers General Mercier und anderer führender Militärs, die mit ihrer Autorität Dreyfus öffentlich für schuldig erklärten. So verkündete Mercier im Oktober 1894 in der Zeitung Le Figaro: „Die Schuld ist absolut erwiesen.“ Er widerrief auf Drängen des Ministerpräsidenten Dupuy diese Behauptung, was sie jedoch für viele nur glaubwürdiger machte.
Am 22. Dezember 1894 wurde Dreyfus mit einstimmigem Votum der Richter zu lebenslanger Verbannung und Haft auf der Teufelsinsel verurteilt.
Die öffentliche Reaktion auf das Urteil war überwiegend zustimmend: Dreyfus’ Schuld schien erwiesen und von den offensichtlichen Mängeln des Verfahrens hatten die wenigsten Franzosen Kenntnis erhalten. Am 5. Januar 1895 wurde Dreyfus in einer Zeremonie im Hof der École Militaire degradiert und traf im April auf der Teufelsinsel ein, wo er für die Dauer seines Aufenthaltes in Einzelhaft gehalten wurde.
Der Kampf um die Revision
Um die Wiederaufnahme des Prozesses bemühten sich anfangs vor allem Familienangehörige Dreyfus’, wie seine Frau Lucie und vor allem sein älterer Bruder Mathieu. Dieser vermochte auch verschiedene Personen aus Politik und Presse für den Fall zu interessieren, der so weiter im öffentlichen Bewusstsein eine Rolle spielte.
Im März 1896 entdeckte der neue Geheimdienstchef, Major Picquart, dank einer abgefangenen Nachricht des deutschen Militärattachees an einen anderen Generalstabsoffizier, Major Ferdinand Walsin-Esterházy, dass dieser der wahre Verräter sein musste, der, hoch verschuldet, seinen aufwendigen Lebensstil durch Spionage zu finanzieren versuchte. Picquart teilte dies, nachdem er seiner Sache sicher war, erst mündlich und dann schriftlich dem Generalstab mit, wurde jedoch zum Stillschweigen genötigt und Anfang 1897 ins ferne Algerien versetzt. Von dort richtete er allerdings eine Denkschrift an den Staatspräsidenten Félix Faure, einen Republikaner, von der auch ein Mitglied des Senats Kenntnis erhielt. Der Präsident begann hiernach, sich um die Wiederaufnahme des Prozesses gegen Dreyfus zu bemühen, scheiterte aber zunächst am Widerstand des Kriegsministers und der Generäle, die, um ihre Position zu verstärken, zusätzliche Beweise fälschen ließen, und zwar von einem Oberstleutnant Henry (der im Juli 1898, als die Fälschung herauskam, festgenommen wurde und in der Haft, angeblich durch Selbstmord, zu Tode kam).
Mathieu Dreyfus beschuldigte im November 1897 Esterházy öffentlich, der eigentliche Verräter zu sein, nachdem er Kenntnis von Picquarts Denkschrift erhalten hatte und weitere Beweise für Esterházys Täterschaft zu haben glaubte. Esterházy, sich höchster Protektion sicher, beantragte daraufhin ein Disziplinarverfahren gegen sich, das Ende 1897 ergebnislos eingestellt wurde. Anfang 1898 wurde er regulär gerichtlich angeklagt, aber schon am 11. Januar freigesprochen. Er setzte sich später ins Vereinigte Königreich ab.
In der Öffentlichkeit entwickelte sich nach diesem wenig glaubwürdigen Freispruch sofort eine heftige Diskussion über die Schuld oder Unschuld von Dreyfus. Weiterhin für schuldig hielten ihn vor allem konservative Politiker, zahlreiche Katholiken und Angehörige der Armee. Auf der anderen Seite standen vor allem Republikaner, Sozialisten und linke Intellektuelle (ein Begriff, der erst jetzt geläufig wurde, meist zunächst in pejorativer Verwendung).
In dieser Situation allgemeiner Erregung erschien am 13. Januar 1898 ein offener Brief mit dem Titel J'accuse...! (Ich klage an...!), den der renommierte Schriftsteller Émile Zola in Georges Clemenceaus Literaturzeitung L'Aurore an den französischen Staatspräsidenten Félix Faure richtete, um den Freispruch Esterházys anzuprangern und die Sache Dreyfus’ zu vertreten. Der Brief stieß auf große Resonanz, spaltete die politische Klasse und polarisierte die französische Gesellschaft bis in die Familien hinein. Zola selbst wurde wenig später angeklagt und verurteilt, was ihn zur vorübergehenden Flucht nach England veranlasste.
Die allgemeine Erregung und der Umstand, dass sich die neuen, angeblich belastenden Dokumente als Fälschung erwiesen hatten, ermutigten Dreyfus’ Ehefrau Lucie im Juli zu einer Eingabe an den Justizminister und, als der ablehnte, im September an die Regierung. Diese setzte zunächst eine Kommission zur Untersuchung des Falles ein, beschloss nach einigem Hin und Her aber Ende September, den Kassationsgerichtshof mit einer Revision zu beauftragen.
Im Juni 1899 wurde das Urteil gegen Dreyfus aufgehoben und wieder an das Kriegsgericht in Rennes verwiesen. Dieses befand Dreyfus, der aus Cayenne zurückgeholt worden war, am 9. September 1899 zwar erneut für schuldig, billigte ihm aber mildernde Umstände zu und reduzierte das Strafmaß auf 10 Jahre Festungshaft. Um der Unruhe in der Öffentlichkeit und auch der Kritik aus dem Ausland den Boden zu entziehen, bot der neue Staatspräsident Émile Loubet Dreyfus umgehend die Begnadigung an, mit der Auflage, dass er auf eine Berufung verzichtete. Dreyfus akzeptierte am 15. September, um seinem Leidensweg ein Ende zu setzen, was viele seiner Parteigänger enttäuschte.
Nach dem Wahlsieg der Linken 1902 mehrten sich die Stimmen, die für ein neuerliches Revisionsverfahren plädierten. Dieses wurde in der Tat Ende 1905 vom Kriegsminister angeordnet. Am 12. Juli 1906 hob der Kassationsgerichtshof das zweite Urteil gegen Dreyfus auf und sprach ihn frei, womit er endgültig rehabilitiert war. Er wurde wieder in die Armee aufgenommen, zum Major befördert und darüber hinaus zum Ritter der Ehrenlegion ernannt.
Auswirkungen der Affäre
Die Dreyfus-Affäre löste sich spätestens nach der Intervention Zolas z. T. von ihrem eigentlichen Protagonisten und verselbständigte sich. So unterschied man z. B. „Dreyfusistes“, d. h. Sympathisanten der Person von Dreyfus, und „Dreyfusards“, d. h. Anhänger einer streng rechtsstaatlichen Behandlung seines Falles als solchen. Diesen gegenüber standen die „Antidreyfusards“, die im Sinne der Staatsraison (wie sie sie verstanden) für eine Opferung von Dreyfus waren, weil sie bei dessen eventuellem Freispruch die Glaubwürdigkeit des Militärs, der Justiz, aber auch anderer Ordnungsmächte, wie der Katholischen Kirche, gefährdet sahen.
1898 gründeten „Dreyfusards“ die Französische Liga zur Verteidigung der Menschen- und Bürgerrechte (frz. Ligue française pour la défense des droits de l'Homme et du citoyen). Auf der anderen Seite versuchte Anfang 1899 der Führer einer rechtsextremen Liga und „Antidreyfusard“ Paul Déroulède, einen Augenblick allgemeiner Wirrnis zu nutzen und die im Offizierskorps mehrheitlich vertretenen „Antidreyfusards“ zu einem Militärputsch gegen die parlamentarische Demokratie aufzuwiegeln. Er scheiterte aber und flüchtete nach Spanien.
Die Dreyfus-Affäre wird oft als Kulminationspunkt des Antisemitismus in Frankreich gesehen. Der Österreicher Theodor Herzl, der als Journalist den ersten Prozess beobachtete, war so erschrocken, dass er hiernach 1896 sein Buch Der Judenstaat verfasste, in dem er einen eigenen Staat für die Juden forderte und so den Zionismus begründete.
Die Folgen der Affäre für die gesellschaftliche Ordnung in Frankreich waren erheblich. Vor allem die katholische Kirche hatte sich, durch ihren Antijudaismus und ihre insgesamt reaktionär wirkende Haltung, in den Augen vieler Franzosen so sehr kompromittiert, dass sich nicht nur im Parlament eine Mehrheit dafür fand, das Land radikal zu säkularisieren.
Nachdem die politische Linke die Wahlen von 1902 gewonnen hatte, verabschiedete sie am 9. Dezember 1905 die sog. „Lois Combes“. Dieses Gesetz zur Trennung von Religion und Staat etablierte in Frankreich das heute noch geltende Prinzip des Laizismus, d. h. der vollständigen Trennung von Religion und Staat.
Die Affäre in Literatur und Film
Eine sehr anschauliche und eindringliche literarische Verarbeitung der Dreyfus-Affäre findet man z. B. in dem Roman Jean Barois (1913) des Literaturnobelpreisträgers von 1937, Roger Martin du Gard. In Deutschland wurde sie von Rolf Schneider in seinem 1991 erschienenen Roman Süß und Dreyfus verarbeitet. Auch in Marcel Prousts Monumentalroman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit taucht die Dreyfus-Affäre als Motiv häufig auf.
Die Filme zur Affäre sind zahlreich:
- L'Affaire Dreyfus, Georges Méliès, Stumm, Frankreich, 1899
- Trial of Captain Dreyfus, Stumm, USA, 1899
- Dreyfus, Richard Oswald, Deutschland, 1930
- The Dreyfus Case, F.W. Kraemer, Milton Rosmer, USA, 1931
- The Life of Emile Zola, Wilhelm Dieterle, mit Paul Muni, USA, 1937
- I Accuse!, José Ferrer, England, 1958
- Der Gefangene der Teufelsinsel, Ken Russell, USA, 1991
- Die Affäre Dreyfus, ein Film von Yves Boisset (1995) nach dem Buch L'Affaire von Jean-Denis Bredin
Literatur zur Affäre
- Léon Blum: Beschwörung der Schatten. Die Affäre Dreyfus. Aus dem Französischen mit einer Einleitung und mit Anmerkung von Joachim Kalka. Berenberg-Verlag, Berlin 2005
- Vincent Duclert: Die Dreyfusaffäre, Militärwahn, Republikfeindschaft, Judenhaß; Berlin 1994.
- Alfred Dreyfus: Fünf Jahre meines Lebens 1894-1899. Berlin 1901, zuletzt Weimar 1962
- Eckhardt u. Günther Fuchs: „J'accuse!“ Zur Affäre Dreyfus , Decaton Verlag, 1994
- J'Accuse...! ...ich klage an! Zur Affäre Dreyfus. Eine Dokumentation. hrsg. im Auftrag des Moses Mendelssohn Zentrums von Elke-Vera Kotowski und Julius H. Schoeps, Berlin 2005- Begleitkatalog zur Wanderausstellung in Deutschlandland
- Julius H. Schoeps.; Hermann Simon (Hg.): Dreyfus und die Folgen. Berlin 1995
- Bruno Weil: Der Prozess des Hauptmanns Dreyfus, Berlin 1930.
- George R. Whyte, The Dreyfus affair: a chronological history. Basingstoke 2008
Weblinks
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