Aethicus Ister

Aethicus Ister
Letzte Seite einer Handschrift der Cosmographia des „Aethicus“ mit Geheimalphabet

Aethicus (oft fälschlich Aethicus Ister[1]) ist der Name des fiktiven Verfassers einer antiken Reisebeschreibung, die nur aus einer angeblichen Überarbeitung bekannt ist und in Wirklichkeit nie existiert hat. In mittelalterlichen Handschriften ist unter dem Titel Cosmographia (bzw. vulgärlateinisch Chosmografia, „Weltbeschreibung“) ein Werk überliefert, das von seinem Autor, der sich als christlicher Priester namens Hieronymus bezeichnet, als eine aus dem Griechischen ins Lateinische übersetzte und bearbeitete Fassung dieser Reisebeschreibung ausgegeben wird. In Wahrheit fußt jedoch die in vulgärlateinischer Sprache abgefasste Kosmographie nicht auf einem solchen älteren Text, sondern ist ein eigenständiges frühmittelalterliches Werk, dessen anonymer Autor seine Leser hinters Licht führt. Nach der heute vorherrschenden Auffassung ist sie um die Mitte oder in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts entstanden, nach einer anderen Hypothese schon im späten 7. Jahrhundert. Dennoch ist weiterhin die unzutreffende Bezeichnung „Kosmographie des Aethicus“ gebräuchlich. Die Umstände der Entstehung sowie Identität, Volkszugehörigkeit und Ziele des unbekannten Verfassers sind seit langem umstritten.

Inhaltsverzeichnis

Die Kosmographie

Dem Titel und den einleitenden Worten zufolge hat ein Priester namens Hieronymus – gemeint ist der Kirchenvater dieses Namens, der im 4. und frühen 5. Jahrhundert lebte – das Werk als Auszug aus einem Bericht eines (vorchristlichen[2]) Reisenden namens Aethicus verfasst. Aethicus, der als Skythe bezeichnet wird, soll alle Länder und Inseln der Erde zwischen Indien und der Iberischen Halbinsel, von Afrika bis in den hohen Norden bereist haben. Er wird als kühner Seefahrer und als der bedeutendste Gelehrte seiner Zeit geschildert und soll überdies Ingenieur und Philosoph gewesen sein. Der angebliche Bearbeiter „Hieronymus“ will aber auch den Eindruck vermitteln, gegenüber den Schilderungen des „Aethicus“, die er wiederzugeben und zu kommentieren behauptet, kritisch eingestellt zu sein; er warnt vor Leichtgläubigkeit. Dies hindert ihn jedoch nicht daran, eine Fülle von sagenhaftem Material auszubreiten.

Inhalt, Quellen und Sprache

Die Kosmographie beginnt mit einer Darstellung der biblischen Schöpfungsgeschichte und geht dann zur Beschreibung der Erde, des Meeres, der Gestirne und astronomischer Erscheinungen über. Anschließend berichtet der Autor über die teils abenteuerlichen Reisen des Aethicus. Dabei beginnt er mit den Inseln im äußersten Norden und geht dann zum Süden über; danach wendet er sich der Westküste Europas mit ihren Inseln zu. Ausführlich beschreibt er die Völker Innerasiens und des Kaukasus, darunter die mythischen Amazonen, sowie Griechenland und den Balkan. Sein besonderes Interesse gilt den Inseln. Den sagenhaften Gründer Roms, König Romulus, lässt er gegen „Francus“ und „Vassus“, angebliche Stammväter der Franken, erfolgreich Krieg führen. Dann befasst er sich nochmals mit Asien, wobei er Indien als Ausgangspunkt wählt und sich von dort nach Westen wendet. Über Persien, Mesopotamien und Syrien führt er den Leser nach Nordafrika, wo er bis nach Mauretanien voranschreitet. Über Italien und Gallien scheint er wenig zu wissen. Den Abschluss bilden ein Kapitel über die Entstehung von Wind und Wasser sowie ein angeblich von Aethicus erfundenes Geheimalphabet.[3]

Von den geographischen Bezeichnungen sowie Personen- und Völkernamen, die er angibt, sind manche gänzlich unbekannt, bei anderen handelt es sich um nur hier bezeugte Abwandlungen und Erweiterungen bekannter Wörter. Solche rätselhaften Ausdrücke streut er nicht nur bei der Darstellung exotischer Länder ein, sondern auch bei der Behandlung damals gut bekannter Regionen wie Griechenland und Kleinasien, wo er Inseln und Landschaften erfindet. Diese Bezeichnungen stammen zwar möglicherweise aus seiner uns unbekannten Muttersprache oder sind durch mündliche Überlieferung entstellt, doch ist kaum zu bezweifeln, dass er manchen Namen zum Zweck der Irreführung gutgläubiger Leser erfunden hat.[4]

Auch sein Umgang mit seinen bisher ermittelten Quellen lässt die Absicht erkennen, die Leser zu täuschen. Indem er die Angaben seiner Quellen ohne erkennbaren Anlass gezielt und willkürlich abwandelt und verfremdet, versucht er seine Abhängigkeit von ihnen zu vertuschen und eine mysteriöse Gelehrsamkeit vorzutäuschen. Außerdem beruft er sich gelegentlich für seine Erfindungen auf berühmte Autoren, bei denen nichts davon zu finden ist, und auf angebliche Quellen, die wohl seiner Phantasie entstammen. In erster Linie schöpft er aus den Etymologien Isidors von Sevilla. Zu den weiteren von ihm herangezogenen Schriften gehören De mirabilibus Sacrae Scripturae des Iren Augustinus Hibernicus, Werke des Kirchenvaters Hieronymus, die Weltgeschichte des Orosius und die lateinische Übersetzung der Revelationes des Pseudo-Methodius. Möglicherweise kannte er auch die frühkarolingische Hofgeschichtsschreibung (Liber historiae Francorum, Fredegar-Chronik, Historia Daretis Frigii). In zahlreichen Fällen ist seine Beziehung zu mutmaßlich von ihm herangezogenen Quellen unklar.

Das Werk bewegt sich auf unterschiedlichen Stilebenen. Die angeblich wörtlich übersetzten Passagen von Aethicus sind in einem besonders dunklen, teils kaum verständlichen Latein gehalten. Der Autor weist die Schuld an der Verworrenheit und Unverständlichkeit seiner fiktiven Vorlage zu.[5] Den größeren Teil des Werks bilden die angeblichen Paraphrasen und Kommentare von Hieronymus. Sie sind zwar an den Stil des Kirchenvaters – insbesondere an den seiner Briefe – angelehnt, doch von seinem gepflegten Latein weit entfernt. Auch sie sind keine leichte Lektüre.

Insgesamt gehört die Kosmographie wegen des höchst eigenwilligen Umgangs des phantasievollen Autors mit der Sprache zu den schwierigsten lateinischen Texten, die es gibt.[6] Zu den oft verwirrenden Besonderheiten des Vulgärlateins in Morphologie und Syntax kommen individuelle Eigentümlichkeiten und Nachlässigkeiten hinzu, sowie ein genereller Hang zum vorsätzlichen Verdunkeln und Erschweren des Verständnisses. Eine Fülle von neu gebildeten Wörtern, die teils aus griechischen und vereinzelt aus semitischen Wurzeln hergeleitet, teils reine Phantasieprodukte sind, erzeugt den Anschein geheimnisvoller Kenntnisse und einer exklusiven Bildung. Stellenweise zeigt der Autor skurrilen Humor, etwa bei Spielereien mit Namen oder im maßlosen, offensichtlich karikierenden Gebrauch der Alliteration.

Verfasser, Datierung, Textüberlieferung

Im Jahr 1854 wurde nachgewiesen, dass der Kirchenvater nichts mit dem Text zu tun haben kann. Eine Folge dieser Einsicht war die Erkenntnis, dass auch die griechische Vorlage eine Erfindung ist. Somit stellte sich heraus, dass das Werk eine doppelte Fiktion darstellt: die Textpassagen des „Aethicus“ stammen von demselben frühmittelalterlichen Verfasser wie diejenigen des „Hieronymus“.

Wer der Verfasser – offenbar ein Geistlicher – war und was er bezweckte, ist trotz zahlreicher Untersuchungen bis heute unklar. Einigkeit besteht in der Forschung darüber, dass er nicht wirklich gereist ist, sondern seine gesamten Angaben teils der ihm zugänglichen Literatur entnahm, teils erfand bzw. durch Verfälschung der Informationen seiner Quellen produzierte. Die Behauptung einer vornehmen skythischen Herkunft von „Aethicus“ kann jedoch auf den tatsächlichen Verfasser zutreffen, und dass dieser – wie im Text zweimal festgestellt wird – in Istrien lebte, ist plausibel.[7] Auffällig ist seine Begeisterung für das Griechentum und sein Interesse an den Legenden um Alexander den Großen. Abneigung hegte er gegen Römer, Franken, Sachsen und Iren.

Unterschiedliche Erklärungen sind vorgeschlagen worden:

  • Nach einer umstrittenen Hypothese von Heinz Löwe stammt die Kosmographie von dem irischen Bischof Virgilius von Salzburg († 784) und wurde nach 768 verfasst. Virgilius wollte damit verdeckt gegen einen bereits verstorbenen Widersacher, den berühmten Missionar Bonifatius, polemisieren.[8]
  • Kurt Hillkowitz hat ebenfalls eine Entstehung nach 768 angenommen. Nach seiner Ansicht stammte der unbekannte Verfasser aus Istrien und lebte in Bayern.
  • Franz Brunhölzl datiert die Kosmographie in die zweite Hälfte des 7. Jahrhunderts. Er vermutet, dass es sich bei der „Scythia“, aus welcher der angebliche Aethicus stammen soll, um die Dobrudscha (ein Gebiet im heutigen Rumänien) handelt, und dass der Autor im Patriarchat von Aquileia lebte.[9]
  • Otto Prinz meint, dass „Aethicus“ als Einwanderer ins Frankenreich gekommen war und dort um die Mitte des 8. Jahrhunderts seine Weltbeschreibung verfasste; er nennt Indizien dafür, dass dies am karolingischen Königshof geschehen sein mag.[10]
  • Michael Herren vermutet, dass der Autor ein Franke war, der im Frankenreich aufwuchs und später in Irland und in England lebte. Herren setzt die Kosmographie in den Zeitraum zwischen ca. 655 und ca. 725. Nach seiner Auffassung handelt es sich um eine Satire, mit der die Leichtgläubigkeit der Zeitgenossen und angeberische Gelehrsamkeit aufs Korn genommen wurden. Für eine solche humoristische Absicht spricht beispielsweise die Behauptung am Ende der Kosmographie, der Begriff Ethik sei vom Namen des Aethicus abgeleitet.

Erhalten sind mehr als dreißig teils unvollständige Handschriften. Diese Textzeugen sowie Erwähnungen in mittelalterlichen Bibliothekskatalogen weisen auf die Beliebtheit der Kosmographie hin, die allerdings im Spätmittelalter stark abnahm.

Textausgaben

  • Die Kosmographie des Aethicus, hrsg. von Otto Prinz, München 1993 (= Monumenta Germaniae Historica, Quellen zur Geistesgeschichte des Mittelalters 14), ISBN 3-88612-074-0 (hier online)
  • Eine neue Ausgabe wird von Michael W. Herren vorbereitet

Literatur

  • Aethici Istrici Cosmographia Vergilio Salisburgensi Rectius Adscripta. Codex Leidensis Scaligeranus 69, hg. Terence A. M. Bishop, Amsterdam 1966 [fotografische Wiedergabe einer Kosmographie-Handschrift des 10. Jahrhunderts]
  • Kurt Hillkowitz: Zur Kosmographie des Aethicus, Teil 1, Bonn 1934 (Dissertation); Teil 2, Klostermann, Frankfurt am Main 1973
  • Kurt Smolak: Notizen zu Aethicus Ister. In: Filologia mediolatina. Band 3, 1996, S. 135–152
  • Ian N. Wood: Aethicus Ister: An exercise in difference. In: Walter Pohl und Helmut Reimitz (Hg.): Grenze und Differenz im frühen Mittelalter. Wien 2000, S. 197-208, ISBN 3-7001-2896-7
  • Michael W. Herren: The 'Cosmography' of Aethicus Ister: Speculations about its date, provenance, and audience. In: Andreas Bihrer und Elisabeth Stein (Hg.): Nova de veteribus. München 2004, S. 79–102, ISBN 3-598-73015-2
  • Dagmar Gottschall: Aethicus Ister. In: Verfasserlexikon. 2. Auflage, Band 11, 2004, Sp. 22–26

Weblinks

Anmerkungen

  1. Zur Unrichtigkeit des Namenszusatzes Ister siehe Prinz S. 1f.
  2. Prinz S. 14, 18.
  3. Siehe dazu Heinz Löwe: Aethicus Ister und das alttürkische Runenalphabet, in: Deutsches Archiv 32 (1976) S. 1–21; Prinz S. 78f.
  4. Prinz S. 21f.
  5. Prinz S. 19.
  6. Franz Brunhölzl: Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters, Bd. 1, München 1975, S. 63.
  7. Prinz S. 14–18.
  8. Heinz Löwe: Ein literarischer Widersacher des Bonifatius. Virgil von Salzburg und die Kosmographie des Aethicus Ister, Wiesbaden 1952; Heinz Löwe: Salzburg als Zentrum literarischen Schaffens im 8. Jahrhundert, in: Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 115 (1975) S. 114–143. Siehe auch Heinz Löwe: Die Vacetae insolae und die Entstehungszeit der Kosmographie des Aethicus Ister, in: Deutsches Archiv 31 (1975) S. 1–16, wo Löwe eine Datierung schon vor 768 in Betracht zieht. Gegen die Virgilius-Hypothese argumentiert Maartje Draak: Virgil of Salzburg versus Aethicus Ister, in: Dancwerc. Opstellen aangeboden aan Prof. Dr. D. Th. Enklaar, Groningen 1959, S. 33–42.
  9. Franz Brunhölzl: Zur Kosmographie des Aethicus, in: Festschrift für Max Spindler zum 75. Geburtstag, München 1969, S. 75–89; Franz Brunhölzl: Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters, Bd. 1, München 1975, S. 63f.
  10. Prinz S. 18, 44-52.

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