Ehrenfestsches Paradoxon

Ehrenfestsches Paradoxon

Das Ehrenfestsche Paradoxon, nach Paul Ehrenfest, ist ein Paradoxon der Relativitätstheorie. Es besagt, dass gemäß der Relativitätstheorie keine starren Körper existieren können, und für einen mitrotierenden Beobachter der Raum eine nichteuklidische Geometrie annimmt.

Inhaltsverzeichnis

Starrer Körper und Relativitätstheorie

Max Born versuchte 1908, auch beschleunigte Bewegungen in die spezielle Relativitätstheorie zu integrieren, wobei er auf das Konzept des starren Körpers zurückgriff. Dies führte jedoch zu einem prinzipiellen Widerspruch, der 1909 von Paul Ehrenfest aufgezeigt wurde. In seiner ursprünglichen Formulierung geht er von einem "starren" Zylinder aus, der in Rotation versetzt wird. Der Radius R des Zylinders, gemessen im Laborsystem, verändert sich bei der Beschleunigung nicht. Aber der Umfang U unterliegt der Lorentzkontraktion. Unabhängig von Ehrenfest wurde dieser Zusammenhang von Gustav Herglotz und Fritz Noether erkannt, welche 1910 eine relativistische Theorie der Elastizität entwickelten. Sie bemerkten dass ein Bornscher "starrer Körper" nur 3 Freiheitsgrade besitzt. Damit ist aber die Möglichkeit von "starren Körpern" kaum mehr gegeben. Max von Laue zeigte tatsächlich 1910, dass von starren Körper überhaupt nicht mehr gesprochen werden kann, da jede Richtungsänderung sofort Deformationen im Körper auslöst und somit eine Einschränkung der Freiheitsgrade wie in der newtonschen Mechanik nicht möglich ist. Dieser scheinbare Widerspruch zeigt also, dass starre Körper im Allgemeinen nicht kompatibel zur Relativitätstheorie sind. Dies steht in Zusammenhang mit der Konsequenz der Relativitätstheorie, dass Wirkungen sich nicht schneller als mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten können, während in einem perfekt starren Körper die Schallgeschwindigkeit unendlich wäre. Es ergeben sich dadurch allgemein folgende Konsequenzen: [1] [2] [3] [4] [5] [6] [7]

  • Eine Scheibe kann nicht wie ein "starrer Körper" vom ruhenden Zustand in Rotation versetzt werden, folglich existieren keine starren Körper. Und auch durch sorgfältig gewählte Kräfte, die an jeden Punkt des Körpers angreifen, lässt sich nur in ausgewählten Fällen eine Verformung vermeiden. D.h. die Born-Herglotz'sche Definition des starren Körpers kann nur in einer sehr geringen Anzahl von Fällen benutzt werden. Die beschleunigte Rotation gehört nicht zu diesen Fällen.
  • Gewöhnliche Materialien werden also in der Phase, in der sie vom ruhenden Zustand in Rotation versetzt werden bzw. eine beschleunigten Rotation ausführen, unterschiedlichen Deformationen unterworfen sein, welche wiederum von der Beschaffenheit der Materialien abhängig sind. D.h. ob die Scheibe im rotierenden Zustand größer oder kleiner ist als in Ruhe, hängt nicht nur von der Längenkontraktion, sondern auch von Zentrifugalkräften und mechanischen Spannungen ab.
  • Um dies zu verdeutlichen, sei der Spezialfall gegeben, bei dem alle auf die Scheibe wirkenden Effekte so zusammenspielen, dass der Scheibenumfang auch bei gleichförmiger Rotation ungefähr gleich groß bleibt wie im ruhenden Zustand, wobei am Scheibenrand mehrere Stäbe lose angeordnet werden sollen. Etwas genauer: Das Scheibenmaterial, das entlang des ganzen Umfangs miteinander verbunden ist, wird während der Phase der beschleunigten Rotation deformiert, wodurch der Scheibenumfang trotz der Längenkontraktion auch bei Erreichen der gleichförmigen Rotation weiterhin konstant bleibt. Hingegen die Stäbe sind untereinander nicht verbunden, sodass bei ihnen kaum Deformationen auftreten, und auf sie (wenn der Zustand gleichförmiger Rotation erreicht wird) durchaus wieder die Born-Herglotz'sche Definition des starren Körpers angewendet werden kann. Die Stäbe können also ungehindert kontrahieren und ihr Abstand zueinander wird größer werden. Etwas anschaulicher kann dies analog zum Bellschen Raumschiffparadoxon dargestellt werden: Wären einige Raumschiffe kreisförmig angeordnet und mit Seilen miteinander verbunden, und würden aus Sicht des Laborsystems (also einem nicht mitrotierenden System) die Raumschiffe gleichzeitig beschleunigt werden, dann würden sowohl Raumschiffe als auch die Seile Deformationen unterworfen sein. Die Raumschiffe würden aufgrund ihrer größeren Widerstandsfähigkeit diesen Deformationen widerstehen und der normalen Längenkontraktion unterworfen sein. Hingegen bei den Seilen würden der auftretenden Deformationen überwiegen, sodass sie entweder reißen oder zumindest gedehnt werden, wodurch der Umfang (im Laborsystem betrachtet) also gleich bleibt. D.h. die ursprüngliche Vorstellung Ehrenfests, dass aus Sicht eines Laborsystems bei gleichbleibendem Radius der gesamte Umfang kontrahiert, ist im Rahmen der Relativitätstheorie nicht möglich.

Rotation und nichteuklidische Geometrie

Bislang wurde die Frage behandelt, inwiefern sich aus Sicht des nicht mitrotierenden Laborsystems eine ruhende Scheibe von einer rotierenden Scheibe unterscheidet. Doch bei einer Scheibe, die sich bereits in gleichförmiger Rotation befindet, stellt sich nun die rein kinematische Frage, welche Unterschiede in der Vermessung der Scheibe auftreten, wenn die Messung entweder im Laborsystem oder in einem rotierenden Bezugssystem durchgeführt wird. Dazu sollen sowohl im Laborsystem als auch im Scheibensystem baugleiche Stäbe verwendet werden. Wird nun mit diesen im jeweiligen System ruhenden Stäben der Scheibenumfang bzw. der Scheibenradius gemessen, ergibt sich (wobei Einstein 1916 der Erste war, der einen ähnlichen Fall diskutierte):

  • Wie oben demonstriert, ist im Laborsystem der Umfang der Scheibe im Verhältnis zum Radius nicht kontrahiert. Er beträgt somit gemäß der euklidischen Geometrie U=2\pi r\ . Hingegen die auf der Scheibe befindlichen bewegten Stäbe sind in tangentialer, nicht jedoch in radialer Richtung der Längenkontraktion gemäß L'=L\sqrt{1-v^{2}/c^{2}} unterworfen. Also beobachtet man im Laborsystem, dass die mitrotierenden Beobachter ihre Stäbe in tangentialer Richtung öfter anlegen müssen als die Beobachter im Laborsystem, hingegen in radialer Richtung gibt es keinen Unterschied. Für die Beobachter im Laborsystem ist nun klar, dass der von den mitrotierenden Beobachtern mit ihren kontrahierten Stäben gemessene Umfang nicht mehr ein Verhältnis von 2\pi\ zum Radius hat, sondern 2\pi/\sqrt{1-v^{2}/c^{2}}, also für den mitrotierenden Beobachter ist der Scheibenumfang größer als im Laborsystem.
  • Da die auf der Scheibe mitrotierenden Beobachter nichts von der Kontraktion bemerken (da sie selbst genauso der Längenkontraktion unterworfen sind wie die Stäbe), müssen sie davon ausgehen, dass die Stablängen in radialer als auch tangentialer Richtung gleich sind. Die Tatsache, dass ihre Messung ein Verhältnis 2\pi/\sqrt{1-v^{2}/c^{2}} ergibt, ist für sie Folge der nichteuklidischen Geometrie im Scheibensystem. .

Formale Lösungen

Da Gravitationskräfte hier keine Rolle spielen, kann dieses Paradoxon durchaus mit den Mitteln der speziellen Relativitätstheorie behandelt werden, denn entgegen einem verbreiteten Irrtum ist diese Theorie auch für alle Beschleunigungen gültig - die allgemeine Relativitätstheorie wird erst benötigt wenn Gravitation im Spiel ist. Wesentlich ist dabei die Tatsache, dass die Poincaré-Einstein Synchronisation von Uhren in rotierenden Bezugssystemen nicht auf das ganze System, sondern nur lokal angewandt werden kann, denn im Ruhezustand synchrone Uhren verlieren während der Rotation bzw. bei Beschleunigungen ihre Synchronisation. Die formale Standardlösung für die Beschreibung der nichteuklidischen Geometrie in rotierenden Bezugssystemen (wobei neben dem Ehrenfestschen Paradoxon auch der Sagnac-Effekt zu nennen ist) geht auf Paul Langevin (1935) zurück, und wurde u.a. von Christian Møller, Lew Dawidowitsch Landau, Jewgeni Michailowitsch Lifschitz und Øyvind Grøn fortgeführt ("Langevin-Landau-Lifschitz Metrik"). Was darüber hinaus noch diskutiert wird bzw. wo noch Abweichungen vorhanden sind, sind Detailfragen bei der Anwendung und Interpretation der Langevin-Landau-Lifschitz Metrik. [8] [9] [10] [7] [11]

Neben der speziellen Relativitätstheorie kann dieses Problem natürlich auch mit der allgemeinen Relativitätstheorie behandelt werden, da erstere Theorie in der letzteren als Grenzfall enthalten ist. Tatsächlich war dieses Paradoxon von großer Wichtigkeit für die Entwicklung der allgemeinen Relativitätstheorie. Denn in der speziellen Relativitätstheorie sind beschleunigte Bezugssysteme und Inertialsysteme nicht gleichberechtigt. In der allgemeinen Relativitätstheorie hingegen versuchte Einstein, alle Bezugssysteme als gleichberechtigt darzustellen, beispielsweise sollten beschleunigte Bezugssysteme (zumindest lokal) äquivalent mit dem freien Fall in einem Gravitationsfeld sein (Äquivalenzprinzip). Dabei war die Erkenntnis, dass in rotierenden Systemen eine nichteuklidische Geometrie verwendet werden muss, ein entscheidender Hinweis, dass auch in Gravitationsfeldern eine solche Geometrie angewendet werden muss.[12]

Darüber hinaus führte die Komplexität des Problems bzw. auch die Unkenntnis der eben erwähnten formalen Lösung dazu, dass im Laufe der Jahrzehnte immer wieder fehlerhafte Erklärungen veröffentlicht wurden. So wurde z.b. von Weinstein (1971) die Hypothese vertreten, dass aufgrund der Thomas-Präzession radiale Linien auf der rotierenden Scheibe verzerrt würden, wobei dieser Effekt kumulativ wäre. Jedoch Whitmire (1972) zeigte, dass ein solcher Effekt (sofern er überhaupt auftritt) sofort durch dabei auftretenden Spannungen ausgeglichen würde und somit nicht messbar sei. Trotzdem führte Phipps 1973 ein Experiment mit einer sich monatelang drehenden Scheibe durch, um Weinsteins Effekt nachzuweisen. Das Ergebnis war jedoch negativ, was in Übereinstimmung mit Whitmires Voraussage ist, und auch Grøn (1975) wies darauf hin, dass das negative Ergebnis vollkommen mit der von ihm entwickelten Kinematik von rotierenden Scheiben übereinstimmt. [7] [13] [14] [15] [16]

Siehe auch

Quellen

  1. Born, Max: Die Theorie des starren Elektrons in der Kinematik des Relativitätsprinzips. In: Annalen der Physik. 335, Nr. 11, 1909, S. 1-56.
  2. Ehrenfest, Paul: Gleichförmige Rotation starrer Körper und Relativitätstheorie. In: Physikalische Zeitschrift. 10, 1909, S. 918.
  3. Herglotz, Gustav: Über den vom Standpunkt des Relativitätsprinzips aus als starr zu bezeichnenden Körper. In: Annalen der Physik. 336, Nr. 2, 1909, S. 393-415.
  4. Planck, Max: Gleichförmige Rotation und Lorentz-Kontraktion. In: Physikalische Zeitschrift. 11, 1910, S. 294.
  5. Laue, Max von: Zur Diskussion über den starren Körper in der Relativitätstheorie. In: Physikalische Zeitschrift. 12, 1911, S. 85–87.
  6. Pauli, Wolfgang: Die Relativitätstheorie. In: Encyclopädie der mathematischen Wissenschaften, 5.2, S. 690-691 1921
  7. a b c Øyvind Grøn: Space Geometry in a Rotating Reference Frame: A Historical Appraisal. In: G. Rizzi and M. Ruggiero, eds.: Relativity in Rotating Frames. Kluwer, 2004.
  8. Einstein, Albert: Die Grundlage der allgemeinen Relativitätstheorie. In: Annalen der Physik. 49, 1916, S. 769–782.
  9. Langevin, Paul: Remarques au sujet de la Note de Prunier. In: Comptes Rendus. 200, 1935, S. 48-51.
  10. Landau/Lifschitz: Lehrbuch der theoretischen Physik, Bd.2: Klassische Feldtheorie. Frankfurt: Harri Deutsch 1997, ISBN 3817113277
  11. Guido Rizzi und Matteo Luca Ruggiero: Space geometry of rotating platforms: an operational approach. In: Foundations of Physics. 32, Nr. 10, 2002, S. 1525-1556. doi:10.1023/A:1020427318877. arXiv:gr-qc/0207104v2
  12. Stachel, John: Einstein and the Rigidly Rotating Disk.. In: A. Held (Hrsg.): General Relativity and Gravitation. New York: Springer 1980, ISBN 0306402661
  13. Weinstein, D.H.: Ehrenfest's Paradox. In: Nature. 232, 1974, S. 548. doi:10.1038/232548a0.
  14. Whitmire, D.P.: Thomas Precession and the Relativistic Disk. In: Nature. 235, 1972, S. 175-176. doi:10.1038/physci235175a0.
  15. Phipps, T. E.: Kinematics of a "rigid" rotor. In: Lettere Al Nuovo Cimento. 9, Nr. 12, 1974, S. 467-470. doi:10.1007/BF02819912.
  16. Grøn O.: Relativistic Description of a rotating disc. In: American Journal of Physics. 43, Nr. 10, 1975, S. 869-876. doi:10.1119/1.9969.

Literatur

  • H. Reichenbach: Axiomatik der relativistischen Raum-Zeit-Lehre. Vieweg, Braunschweig 1924.
  • H. Reichenbach: Philosophie der Raum-Zeit-Lehre. de Gruyter, Berlin & Leipzig 1928.
  • G. Rizzi and M. Ruggiero, eds.: Relativity in Rotating Frames. Kluwer, 2004.

Weblinks


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