Agnostizismus

Agnostizismus

Der Agnostizismus (latinisierte Form des altgriechischen ἀγνωστικισμός agnōstikismós, von ἀγνοεῖν a-gnoein „nicht wissen, unbekannt, unerkennbar“; vergleiche Gnosis und Gnostizismus) bezeichnet die philosophische Ansicht, dass bestimmte Annahmen – insbesondere theologischer Art, welche die Existenz oder Nichtexistenz eines höheren Wesens wie beispielsweise eines Gottes betreffen – entweder ungeklärt oder grundsätzlich nicht zu klären sind.

Inhaltsverzeichnis

Übersicht

Der Agnostizismus ist eine Weltanschauung, die insbesondere die prinzipielle Begrenztheit menschlichen Wissens betont. Die Möglichkeit der Existenz transzendenter Wesen oder Prinzipien wird nicht bestritten. Agnostizismus ist sowohl mit Theismus als auch mit Atheismus vereinbar, da der Glaube an Gott möglich ist, selbst wenn man die Möglichkeit der rationalen Erkenntnis Gottes verneint.

Die Frage „Gibt es einen Gott?“ wird dementsprechend nicht mit „Ja“ oder „Nein“, sondern mit „Ich weiß es nicht“, „Es ist nicht geklärt“, „Es ist nicht beantwortbar“ oder „Es ist mir egal“ beantwortet.

Der Begriff des Agnostizismus wurde maßgeblich durch Thomas Henry Huxley (1825–1895) geprägt. Obwohl es sich um eine noch junge Begriffsbildung handelt, ist die dahinter stehende Auffassung deutlich älter und findet sich unter anderem bei Laotse sowie einigen griechischen Vorsokratikern und Sophisten.

Bereits im 5. Jahrhundert v. Chr. erklärte Protagoras, einer der vorsokratischen sophistischen Philosophen der griechischen Antike, seinen agnostischen Standpunkt mit den Worten: „Was die Götter angeht, so ist es mir unmöglich, zu wissen, ob sie existieren oder nicht, noch, was ihre Gestalt sei. Die Kräfte, die mich hindern, es zu wissen, sind zahlreich, und auch ist die Frage verworren und das menschliche Leben kurz.“

Starker und schwacher Agnostizismus

Die Auffassung, dass die Existenz von Göttern und anderen höheren Wesen grundsätzlich unerkennbar sei, wird auch als starker Agnostizismus bezeichnet. Dagegen bezeichnet schwacher Agnostizismus die Auffassung, dass die Existenz von höheren Wesen nicht grundsätzlich unerkennbar ist, sondern nur zum gegenwärtigen Zeitpunkt unbekannt ist. Während ein schwacher Agnostiker auf die Frage, ob es einen Gott gibt, mit „Ich weiß es nicht“ antworten würde, würde ein starker Agnostiker mit „Ich kann es nicht wissen“ (bzw. „das kann niemand wissen und wird auch nie jemand wissen können“) antworten.

Agnostizismus und Theismus

Prinzipiell sind Agnostizismus und Theismus miteinander vereinbar, denn man kann an einen Gott glauben, auch ohne seine Existenz für gesichert zu halten (Epistemische Logik, z.B. Glauben als „Für-wahrscheinlich-halten“).

In der Praxis jedoch stehen die meisten Agnostiker dem Glauben an (konkrete) Gottheiten kritisch gegenüber. Die Gottesbeweise des Theismus (z. B. im Judentum, Christentum, Islam oder Hinduismus), das Offenbarungswissen und die in Religionen überlieferten Wunder und sonstigen angeführten Argumente für die Existenz höherer Wesen halten nach dem Urteil der Agnostiker einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht stand. Eine Gottestheorie, die nicht falsifizierbar ist, gilt in den Augen vieler Agnostiker aufgrund der fehlenden Falsifizierbarkeit als unwissenschaftlich, wie in der Analogie „Russells Teekanne“ verdeutlicht wird. Dies besagt zunächst nichts über ihre Wahrheit. Sie sollte jedoch nach der als Ockhams Rasiermesser bekannten Denkregel vermieden werden, da sie eine unnötig verwickelte Erklärung sei.

Viele Agnostiker lehnen insbesondere anthropomorphe Gottesvorstellungen ab, da ihnen diese als besonders unglaubwürdig und der menschlichen Kultur und Vorstellungswelt entspringend erscheinen. Eine Form des Theismus, die von manchen Richtungen des Agnostizismus akzeptiert wird, ist der Pantheismus, der die Natur bzw. das Universum als „göttlich“ bezeichnet. Viele Philosophen, wie beispielsweise Schopenhauer, bezeichnen den Pantheismus allerdings lediglich als dezenten Atheismus.

Agnostizismus und Atheismus

Gelegentlich wird der Agnostizismus fälschlich mit Atheismus gleichgesetzt. Es handelt sich jedoch um zwei verschiedene Dinge. Beim Agnostizismus geht es um die prinzipielle rationale Erkennbarkeit eines Gottes, beim Atheismus dagegen um den tatsächlichen Glauben an einen Gott. Daher ist der Agnostizismus vor allem eine philosophische Grundsicht, während sich der Atheismus vor allem als Gegenpol zum Theismus sieht.

Unter den nicht-theistischen Agnostikern findet man zweierlei Einstellungen zum Atheismus:

  • Die Ablehnung des (starken) Atheismus genauso wie die des Theismus. Angesichts der Kleinheit des menschlichen Wissens über das Universum und auch der Begrenztheit unserer Vorstellungskraft sei es ebenso irrational, einen „pauschalen Glauben an die Nicht-Existenz“ wie einen konkreten oder unkonkreten Glauben an die Existenz eines Gottes anzunehmen. Von Vertretern dieser Position wird betont, dass es grundsätzlich unnötig sei, sich – etwa mittels einer Abschätzung von Wahrscheinlichkeiten oder aufgrund eines philosophischen Weltbilds – auf eine „Glaubensposition“ in der Frage festzulegen. Dieser allein-agnostische Standpunkt wird insbesondere von Vertretern des starken Atheismus gelegentlich als „auf dem Zaun sitzend“ kritisiert.
  • Die Vereinung von Agnostizismus und (schwachem) Atheismus. Dies wird, je nach Sichtweise, als agnostischer Atheismus oder als atheistischer Agnostizismus bezeichnet – über die Rangfolge der Konzepte herrscht Uneinigkeit. Bei dieser Position wird die Ansicht vertreten, dass die Existenz eines Gottes zwar unbekannt ist, jedoch auf Grundlage von Ockhams Rasiermesser die Nicht-Existenz plausibler sei.[1]

Ignostizismus

Mit Ignostizismus bezeichnet man die Ansicht, dass die Frage nach der Existenz oder Nichtexistenz „Gottes“ bedeutungslos ist, weil es keine einheitliche Definition des Begriffs „Gott“ gibt. Ein Ignostiker sagt: „Ich weiß nicht, was du mit dem Begriff „Gott“ meinst, und kann daher keine Aussage über dessen (Nicht)-Existenz treffen.“ Damit trägt der Ignostizismus dem Fakt Rechnung, dass der Begriff „Gott“ in der Regel auch durch eine subjektive Vorstellungskomponente geprägt ist. Ein Atheist begeht nach Meinung von Ignostikern den Fehler, dass er die Aussage „Es gibt Gott“ als sinnvoll oder universell beantwortbar akzeptiert.

Der Begriff Ignostizismus wurde von Rabbi Sherwin Wine (1928–2007), dem Gründer der Gesellschaft für Humanistisches Judentum, geprägt. Ursprünge sind allerdings schon in der Spätantike zu finden.

Apatheismus und Apathischer Agnostizismus

Apatheismus bezeichnet die Ansicht, dass die Frage nach der Existenz oder Nichtexistenz Gottes uninteressant und bedeutungslos sei. Apathischer Agnostizismus (auch pragmatischer Agnostizismus genannt) ist die Kombination von Apatheismus und Agnostizismus. Ein apathischer Agnostiker ist der Ansicht, dass die jahrtausendelangen Debatten und Bemühungen um die Klärung der Frage nach der Existenz Gottes diese weder bewiesen noch widerlegt haben. Es sei deshalb anzunehmen, dass selbst falls eine oder mehrere Gottheiten existierten, ihre Existenz offenbar keine große Bedeutung für unser Leben habe.

Temporaler Agnostizismus

„Temporaler Agnostizismus“ bezeichnet die Ansicht, dass die Existenz oder Nicht-Existenz eines beliebigen Gottes derzeit nicht belegbar, aber nicht notwendigerweise unbelegbar sei. Daher enthält sich der temporale (auch „weiche“, „offene“, „empirische“ oder „schwache“) Agnostiker einer Aussage, bis etwaige Beweise gefunden sind. Ein temporaler Agnostiker argumentiert wie folgt: „Ich weiß heute nicht, ob es einen Gott gibt oder nicht. Aber vielleicht gibt es eines Tages einen Beleg, und ich kann eine Aussage dazu machen.“

Nach Graham Oppy ist temporaler Angnostizismus „die Ansicht, nach der es dem denkenden Menschen erlaubt ist, die Beurteilung der Frage nach Gottes Existenz aufzuschieben.“ [2]

Erweiterte Verwendung des Begriffs

Der Begriff Agnostizismus kommt in einer erweiterten Bedeutung außer im theologischen auch allgemein in metaphysischen oder erkenntnistheoretischen Kontexten zur Anwendung, beispielsweise in Bezug auf die Frage, ob es ein Leben nach dem Tod oder eine Reinkarnation gibt. Auch hier kann eine agnostische Position eingenommen werden, die das Unwissen eingesteht oder betont.

Selten wird der Begriff Agnostizismus synonym zu Skeptizismus verwendet, um erkenntnistheoretische Lehren zu bezeichnen, die die Erkennbarkeit der Welt insgesamt oder in wesentlichen Bereichen bezweifeln.

Kritik

Eine grundsätzliche Kritik am Agnostizismus übt die Natürliche Theologie. Diese behauptet, dass man ohne Rückgriff auf göttliche Offenbarungen allein mit den Mitteln der menschlichen Vernunft beweisen könne, dass Gott existiere. Thomas von Aquin widmete dem Agnostizismus (ohne diesen Begriff zu verwenden) in seiner summa contra gentiles das 12. Kapitel des 1. Buches. Darin kommt er zu dem Schluss, dass man zwar nicht beweisen könne, was Gott sei, aber sehr wohl, dass Gott existiere. Dieser Standpunkt wurde später von vielen Philosophen – darunter Kant – verworfen, da sich die Existenz Gottes (wie viele andere Existenzbehauptungen auch) weder verifizieren noch falsifizieren lasse.

Auch von Seiten bestimmter Wissenschaftler wird der Agnostizismus kritisiert. So meint der britische Biologe und Atheist Richard Dawkins in seinem Buch Der Gotteswahn, dass „ein gewisser Agnostizismus [zwar die] angemessene Haltung in vielen wissenschaftlichen Fragen“ sei, doch bei Gott sei dies nicht der Fall, da die Existenz oder Nicht-Existenz Gottes nicht gleich wahrscheinliche Optionen seien.[3][4] Er selbst bezeichnet sich als „de facto atheistisch“: Er halte die Existenz eines Gottes für sehr unwahrscheinlich und führe sein Leben unter der Annahme, dass es ihn nicht gebe.[5] Eine Verfahrensweise, die er den Menschen im Allgemeinen attestiert. So würden wir im alltäglichen Leben dazu neigen, über Dinge, deren Existenz wir streng betrachtet nie völlig ausschließen könnten, wie die Zahnfee, Russells Teekanne oder das Fliegende Spaghettimonster, so zu reden, als existierten sie nicht.[6]

Literatur

Weblinks

 Portal:Atheismus – Übersicht zu Wikipedia-Inhalten zum Thema Atheismus
 Portal:Religion – Übersicht zu Wikipedia-Inhalten zum Thema Religion

Einzelnachweise

  1. Vgl. J. J. C. Smart: Atheism and Agnosticism, in: Stanford Encyclopedia of Philosophy (englisch, inklusive Literaturangaben)
  2. Graham Oppy: Weak Agnosticism Defended. In: International Journal for Philosophy of Religion. 36, Nr. 3, December 1994, S. 147–167. doi:10.1007/BF01316921.
  3. Richard Dawkins: Der Gotteswahn, 6. Auflage, Ullstein: Berlin 2007 (2006), S. 68.
  4. Richard Dawkins: Der Gotteswahn, 6. Auflage, Ullstein: Berlin 2007 (2006), S. 69.
  5. Richard Dawkins: Der Gotteswahn, 6. Auflage, Ullstein: Berlin 2007 (2006), S. 73.
  6. Richard Dawkins: Der Gotteswahn, 6. Auflage, Ullstein: Berlin 2007 (2006), S. 75 f.

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