- Familiensprache
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Als Muttersprache bezeichnet man die in der frühen Kindheit ohne formalen Unterricht erlernte Sprache, die Erstsprache. Diese prägt sich in ihrer Lautgestalt und grammatischen Struktur so tief ein, dass Sprecher ihre Muttersprache weitgehend automatisiert beherrschen. Im Allgemeinen kann etwa ab der Pubertät keine andere Sprache mehr diesen Platz einnehmen. Jeder nicht an einer besonderen Sprachschwäche leidende Mensch erlernt in dieser Zeit die in seiner Umgebung vorherrschende Sprache in der gleichen Perfektion wie die vorherige Generation.
Das Wort ist nach Kluge vermutlich vom lateinischen „lingua materna“ abgeleitet. Bisweilen wird bei Minderheitensprachen zwischen Muttersprache und Erstsprache unterschieden.
Der Psychologe Steven Pinker und der Linguist Noam Chomsky nehmen an, dass der junge Mensch über angeborene Strukturen verfügt (Universalgrammatik), die den Spracherwerb aktiv unterstützen (vgl. Generative Grammatik). Diesen Ansatz erweitert Jerome Bruner um ein elterliches Spracherwerbsunterstützungssystem, das dazu führt, dass Interaktion mit Kleinkindern deren Lernen besonders anregt. Neuere Forschungen zeigen, dass der Spracherwerb auch ohne die Annahme angeborener sprachspezifischer Gehirnstrukturen erklärbar ist (Konnektionismus, Kulturtheorien); der Neocortex zeigt eine hohe Plastizität in den frühen Jahren und das Kind ist in der Regel äußerst anregenden Lernumgebungen über lange Zeit ausgesetzt. Wichtig ist dabei, dass andere Menschen über vergleichbare geistige Strukturen (Absichten, Zwecke) verfügen, die das Kind mit ihnen durch die Sprache teilen kann („Theory of Mind“, Kulturtheorie von Tomasello). Gemeinsames Handeln in größeren Gruppen scheint auch aus evolutionärer Sicht der Anlass zur Ausbildung der Sprache gewesen zu sein (Dunbar).
In den USA, aber auch in anderen Teilen der Welt, ist die Tendenz zu beobachten, jede Person, die über einigermaßen brauchbare Fremdsprachenkenntnisse verfügt, als „bilingual“ beziehungsweise „multilingual“ zu bezeichnen. Sprachenpolitisch kann dies als der Versuch gesehen werden, die tatsächliche Mehrsprachigkeit großer Bevölkerungsgruppen, die neben der Majoritätssprache eine andere Muttersprache sprechen, im Verhältnis zu der als idealisiert aufzufassenden und nur vorgestellten reinen und perfekten Einsprachigkeit aufzuwerten. In Deutschland trifft dies unter anderem auf die Migrantengruppen der Nachkriegszeit zu.
Bilingual im strengeren Sinne heißt, dass die Zweitsprache mit ebenso hoher Kompetenz wie die Muttersprache gesprochen wird.
Erkenntnissen des Neurowissenschaftlichen Instituts in La Jolla zufolge soll die Musik eines Komponisten die Sprachmelodie seiner Muttersprache widerspiegeln. Die Muttersprache prägt nach diesem Forschungsergebnis also auch die Musik eines Landes. Unterscheidet sich etwa die Tonhöhe aufeinanderfolgender Silben in einer bestimmten Sprache stark, dann zeigt auch die Musik ausgeprägte Tonsprünge.
Inhaltsverzeichnis
Die Muttersprache bei Volkszählungen
Seit 1840 spielte die Sprache eine zunehmende Rolle in internationalen territorialen Auseinandersetzungen. In der Revue des Deux Mondes wurde 1842 bereits veröffentlicht, dass "die wahren natürlichen Grenzen nicht durch Berge und Flüsse bestimmt [wurden], sondern durch die Sprache, Gebräuche, die Erinnerungen und alles, was eine Nation von der anderen unterscheidet".[1] Der 1860 abgehaltene Internationale statistische Kongress in St. Petersburg bemerkte, dass die Sprache der einzige Aspekt der Nationalität ist, der sich zumindest objektiv zahlenmäßig erfassen und in Tabellen darstellen läßt.[2] Der letztendliche Beschluss des Kongresses machte die Frage der Muttersprache in Volkszählungen nicht obligatorisch. Es war den einzelnen Regierungen überlassen, ob eine solche Frage von "nationaler" Bedeutung sei oder nicht. Der statistische Kongress von 1873 sprach sich hingegen dafür aus, diese Frage künftig in alle Volkszählungen mit aufzunehmen.[1]
Die Frage der Muttersprache war insbesondere in der österreichisch-ungarischen Monarchie kontrovers, da man befürchtete dadurch das Aufkommen des Nationalismus zu begünstigen. Daher wurde diese Frage erst ab 1880 eingeführt. Seitdem entwickelte sich jede Volkszählung zu einem Kampfplatz zwischen den einzelnen Nationalitäten und alle noch so ausgeklügelte Versuche der Behörden den Streit zu schlichten blieben erfolglos.[1]
Im Habsburgerreich entschied man sich dagegen, die Sprache des öffentlichen Lebens als Frage bei Volkszählungen zu wählen, da die Möglichkeit bestand, dass diese durch die Regierung oder eine Partei der Bevölkerung aufgezwungen worden war. Insbesondere der österreichische Statistiker Ficker sprach sich dafür aus, den ständigen Wandel der Sprache und vor allem die sprachliche Assimilierung zu berücksichtigen, indem die Bürger nicht nach deren Muttersprache oder (im Wortsinne) nach deren Sprache befragt wurden, die sie als erste von ihren Müttern gelernt hatten, sondern nach deren "Familiensprache", das heißt, nach der Sprache, deren sich das betreffende Individuum im Familienkreis gewöhnlich bedient. Volkszählungen zwangen in ihrer Frage nach der Sprache daher zum ersten mal jedermann dazu, nicht nur eine Nationalität, sondern eine sprachliche Nationalität zu wählen.[2]
Siehe auch
- Muttersprachenprinzip in der Übersetzung
Einzelnachweise
- ↑ a b c Hobsbawm, Eric J (1990). "Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780". S. 116ff
- ↑ a b Brix, Emil (1982). Die Umgangssprachen in Altösterreich zwischen Agitation und Assimilation. Die Sprachenstatistik in den zisleithanischen Volkszählungen 1880-1910.
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