Freie Schulgemeinde Wickersdorf

Freie Schulgemeinde Wickersdorf
Haus Stern und Pumpenhäuschen 1991
Aufgang am Haus Sonnenbanner 1991

Die Freie Schulgemeinde Wickersdorf bei Saalfeld am östlichen Rande des Thüringer Waldes war eines der wichtigsten reformpädagogischen Schulprojekte in Deutschland. Im Herbst 1906 von einer Gruppe „Pädagogischer Rebellen“ um Paul Geheeb, August Halm, Martin Luserke und Gustav Wyneken gegründet, bestand die Internatsschule bis 1991.

Schulleiter 1906–1945[1]
Gustav Wyneken 1906–1910
Paul Geheeb 1906–1909
Martin Luserke 1910–1914
Bernhard Hell 1914–1916
Bernhard Uffrecht 1916–1917
Martin Luserke 1917–1919
Gustav Wyneken 1919–1920
Martin Luserke 1920–1925
August Halm 1925–1928
Peter Suhrkamp 1928–1929
Fernand Petitpierre 1929–1930
Jaap Kool 1930–1933
Georg Neumann 1933
Paul Döring 1933–1941
Werner Meyer 1941–1945

Inhaltsverzeichnis

Von der Gründung 1906 bis zum Ende des Ersten Weltkrieges

Dieses reformpädagogische Projekt soll der Idee der Erziehung als Formung des Menschen im Sinne einer Weltanschauung dienen. Besonders für Wyneken ging es um eine Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Lehrer und Schüler. Dieses sollte auf Kameradschaft und Führertum basieren. Er öffnete die Schule für Koedukation und Sexualerziehung. Im Gegensatz zum christlich geprägten Unterricht in herkömmlichen Schulen legte der Atheist Wyneken einen inhaltlichen Schwerpunkt auf die künstlerische, besonders die musische Erziehung. Bemerkenswert ist der große Anteil jüdischer Schüler, die aber von Wyneken skeptisch betrachtet werden. Schülermitbestimmung bekam im Rahmen der Schulgemeinde einen wichtigen Stellenwert.

1909 verließ Geheeb Wickersdorf im Streit mit Wyneken. Das Schulprojekt wurde von Reaktionären wegen seiner revolutionären Ansichten angefeindet. Auch der Komponist, Musikästhetiker und -erzieher August Halm verließ die Einrichtung vorübergehend, von 1920 bis 1929 war er dort wieder tätig.

1910 wurde Wyneken vom Ministerium entlassen und Martin Luserke (1880–1968) übernahm die Leitung der Schule, unterbrochen durch Kriegsdienst und Gefangenschaft von 1914 bis 1917. Wyneken hielt aber weiterhin seinen Einfluss auf Wickersdorf aufrecht, zum Beispiel über die seit 1913 erscheinende Jugendzeitung der Schulgemeinde Der Anfang, die durch Schmähungen immer wieder für Aufsehen sorgte. Ab 1910 war er Vorsitzender des Bundes freier Schulgemeinden und Herausgeber von dessen Zeitung. Er versuchte auch, eine neue Schule bzw. eine Jugendburg zu gründen und sich damit ein neues Feld für seine pädagogischen Ideen zu schaffen.

Bobsport: Die Besatzungen der Bobs, die von 1910 bis 1912 die Deutschen Meisterschaften in Oberhof gewannen, waren Schüler der Freien Schulgemeinde Wickersdorf. Leider nennen die Chroniken oft nur den Namen des Bobs oder des Steuermanns. So lässt sich nicht feststellen, wie viel Mann die Besatzung hatte. Die Ausschreibungen aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg sprechen von „Mannschaften von 3 bis 6 Personen“ (wobei bis in die dreißiger Jahre mitfahrende Damen keine Seltenheit waren).

In den Kriegsjahren arbeitete der Schriftsteller Ernst Schertel als Lehrer für Deutsch, Alte Geschichte und Religionsgeschichte an der Schule. Schertel entwickelte dort von asiatischen Tanzfesten inspirierte sogenannte „Mysterienspiele“, deren Begleitung eine suggestive, von Schertel komponierte tonartlose Musik war. Seine pädagogischen Bemühungen stießen jedoch auf Vorbehalte: Insbesondere dass er seinen Schülern die „Überzeugung von der menschenbildenden und kulturfördernden Kraft der mannmännlichen Liebe“ nahebrachte, führte zum Ende seines Wirkens in Wickersdorf.

Mit seinen pädagogischen Ansätzen beeinflusste Wyneken die aufkommende Jugendbewegung, zu der er (als Erwachsener) ab 1912 in Verbindung stand. Wyneken kreierte den Begriff der Jugendkultur gegen die Unterwürfigkeit der wilhelminischen Zeit wie auch gegen Schule und Familie. Er arbeitete 1913 an der Formulierung der Meißner-Formel des Ersten Freideutschen Jugendtages am Hohen Meißner mit. Auch hier kam es zu Spannungen, da Wyneken einen Führungsanspruch erhob, den viele Gruppen des Jugendtages ablehnten.

Wyneken stand im Austausch mit freidenkenden Intellektuellen wie Walter Benjamin (der sein Schüler war), Siegfried Bernfeld, Martin Buber und Magnus Hirschfeld.

Kritik kam dagegen von Stefan George, der zwar in einigen jugendbewegten Kreisen großes Ansehen genoss, sich aber von den Ideen Wynekens nicht begeistern ließ. So urteilte er über das Schulprojekt: „Wer aus Wickersdorf kommt, ist hoffnungslos verdorben“.[2]

1918 bis 1933

1918 war Wyneken kurzzeitig in Bayern und Berlin im Kultusministerium beschäftigt und für mehrere Erlasse für die Erneuerung der Schule verantwortlich (Schülermitbestimmung, Organisationsrechte und Aufhebung des Religionszwanges). Diese wurden aber nur ansatzweise umgesetzt.

1919 wurde Wyneken wieder Leiter in Wickersdorf, sah sich aber bald Vorwürfen des sexuellen Missbrauchs an Schülern ausgesetzt und musste 1920 den Dienst quittieren. Bei Nachforschungen ließ sich feststellen, dass Wyneken zwei Schüler nackt umarmt hatte. In der Folge wurde er zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Der Fall erregte in ganz Deutschland heftige Diskussionen. Wyneken war in der Folgezeit als Schriftsteller tätig. Nach der Ermordung Walter Rathenaus regte er Erziehungsmaßnahmen gegen den aufkommenden Faschismus an.

Martin Luserke übernahm erneut – bis 1924 – die Schulleitung. Zu den Schülern der Schule zählten in dieser Zeit der spätere Physiker Friedrich Georg Houtermans (1903–1966), der 1921 die Schule verließ, und der spätere Jurist und Politiker Erwin Fischer (1904–1996), der gleichfalls 1921 abging. Von 1923 bis 1926 war der spätere deutsche Schauspieler Erik Ode (1910–1983) Schüler in Wickersdorf. In seiner 1972 erschienenen Autobiographie bezeichnete er seine Zeit dort als „unvergeßliche und wunderbare Jahre“.[3]

1922 wurde Alfred Ehrentreich Lehrer in Wickersdorf. Den fachlichen Unterricht bezeichnet er in einer Rückschau als – mit Ausnahme der musischen Fächer – traditionell, zum Teil regelrecht enttäuschend, dem außerunterrichtlichen Leben eindeutig nachgeordnet. Während das abseits gelegene Wickersdorf laut Ehrentreich von anderen pädagogischen Neuerungen ziemlich unbeeinflusst blieb, führte die auch auf Ehrentreich wirkende Anziehungskraft der Freien Schulgemeinde zu wahren Besucherströmen. Dabei wurden laut Ehrentreich die Besucher teilweise produktiv in das Unterrichtsgeschehen einbezogen – so dass sie zumindest teilweise nicht als Störung, sondern als ein regelrechter Gewinn betrachtet wurden.

Einer der Wickersdorfer Besucher war im Jahr 1924 Fritz Karsen (1885–1951), profilierter Reformpädagoge, der in Berlin-Neukölln einen Schulkomplex leitete (der 1930 den Namen „Karl-Marx-Schule“ erhielt und einen der wenigen konsequenten öffentlichen Schulversuche auf dem Gebiet des höheren Schulwesens der Weimarer Republik darstellte). Bei seinem Besuch bewegte Karsen Ehrentreich dazu, sich seinem Kollegium anzuschließen.

Das Jahr 1924, in dem Peter Gross, der Sohn des österreichischen Arztes, Wissenschaftlers und Revolutionärs Otto Gross, sein Examen in Wickersdorf machte, brachte erneut einschneidende Veränderungen: Da Wyneken Mitglied der Schulgemeinde blieb, selbst im benachbarten Pippelsdorf wohnte und ein eigenes Zimmer im Internat behielt, verließ Martin Luserke die Schule und gründete, um dem ständigen Gegensatz zu Wyneken auszuweichen, die Schule am Meer auf Juist.

Ein weiterer Name der Erwähnung bedarf ist Peter Suhrkamp. Nach dem Krieg studierte er Germanistik in Heidelberg, Frankfurt am Main und München. Nebenbei arbeitete er als Lehrer an der Odenwaldschule und der Freien Schulgemeinde Wickersdorf. Von 1925 bis 1929 unterrichtete Peter Suhrkamp erneut als Lehrer an der Freien Schulgemeinde Wickersdorf, deren pädagogischer Leiter er von 1926 an bis 1929 war.

1925 wurde Wyneken gestattet, als Wirtschaftsleiter in Wickersdorf weiter zu arbeiten; er durfte jedoch nicht unterrichten. Trotzdem hatte er einen großen Einfluss auf die Einrichtung, was zu erneuten Spannungen führte. 1931 wurde erneut der Vorwurf des Missbrauchs gegen ihn erhoben. Er musste nun endgültig Wickersdorf verlassen und zog mit dem betroffenen Zögling nach Berlin, 1934 nach Göttingen.

Von 1926 bis 1933 unterrichtet der 15-malige Deutsche Meister und Weltrekordler im Mittelstreckenlauf Otto Peltzer Geographie, Geschichte und Biologie an der Freien Schulgemeinde Wickersdorf.

Besonderen Ruf erwarb sich die Schule durch praktizierte Formen der Demokratie wie Gleichberechtigung zwischen allen Schülern und achtungsvolle Umgangsformen zwischen Lehrern und Schülern. So war die höchste Instanz der Einrichtung, in der Schüler wie Lehrer gleichberechtigt Rede- und Stimmrecht hatten, die „Freie Schulgemeinde“. Dieser Begriff wurde auf die Einrichtung übertragen, die sich als „Freie Schulgemeinde Wickersdorf GmbH“ zu einer der bekanntesten Privatschulen Deutschlands mit internationalem Ansehen profilierte.

Die Zeit des Nationalsozialismus

In der Zeit des „Dritten Reiches“ bekam 1935 die Schulgemeinde eine neue Verfassung als Oberschule für Jungen, in der statt „Freundschaft“ nun „Kameradschaft“ stand. Aber sie blieb eine anerkannte Privatschule mit Internat und durfte weiterhin auch ausländische Schüler aufnehmen, die an Staatlichen Schulen keine Chance hatten. Auch konnten alle Versuche, Wickersdorf in das politisch orientierte Erziehungssystem der „Ordensburgen“, „SS-Heimschulen“ oder „Nationalpolitische Erziehungsanstalten“ einzugliedern, erfolgreich abgewehrt werden. Die Oberschule mit mathematischer und sprachlicher Gabelung pflegte außer Sport weiterhin die Musik- und Theaterkultur sowie polytechnische Erziehung in eigenen handwerklichen Betrieben. Infolge dieser für damalige Zeit neutralen Ausrichtung und Abgeschiedenheit auf der Saalfelder Höhe wuchs die Zahl der Schüler während des Krieges von 150 auf fast 250 an.

Entwicklung nach 1945

Die Internatsschule wurde nach 1945 in der DDR weitergeführt, es wurden wieder Schülerinnen aufgenommen, und es entstand ab 1964 eine Spezialoberschule (Gymnasium), die junge Menschen auf ein späteres Studium und den Beruf als Russischlehrer vorbereitete. Reste der ursprünglichen reformpädagogischen Ansätze fanden sich bis in die 1980er Jahre, wie zum Beispiel der besondere Akzent auf musikalischen und Kunstunterricht, den Sportunterricht ebenso wie die Einbeziehung von Schülern in die Erhaltung der Schulgebäude. So war auch in dieser Zeit Wickersdorf mehr als eine Schule, in der nur Wissen vermittelt wurde. Sie erzog vielmehr weiterhin zur Reife in der umfassenden Bedeutung dieses Begriffes.

Nach dem erfolglosen Versuch, 1990 mit einer Neugründung die Tradition der Freien Schulgemeinde wieder aufleben zu lassen, wurde die Schule 1991 durch das thüringische Kultusministerium endgültig geschlossen.

Seit 1993 nutzt die anthroposophische Lebensgemeinschaft Wickersdorf das Grundstück.

Alumni

Es gibt Treffen ehemaliger Schüler der Einrichtung; die letzte große jahrgangsübergreifende Zusammenkunft fand anlässlich des 100-jährigen Bestehens am 9. September 2006 statt.

Einzelnachweise

  1. Peter Dudek: „Versuchsacker für eine neue Jugend“. Die Freie Schulgemeinde Wickersdorf 1906–1945. Bad Heilbrunn 2009, S. 144.
  2. Thomas Karlauf: Stefan George, Pantheon, 2008, S. 397.
  3. Erik Ode: Der Kommissar und ich. Schulz, München 1972

Literatur über Wickersdorf

Weblinks

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