Gisela Seewald

Gisela Seewald

Die Colonia Dignidad (spanisch für: Kolonie der Würde, offiziell „Sociedad Benefactora y Educacional Dignidad“ / „Gesellschaft für Wohltätigkeit und Erziehung ‚Würde‘“, heute Villa Baviera / bayerisches Dorf) ist ein auslandsdeutsches, festungsartig ausgebautes Siedlungsareal in Chile. Es liegt ca. 400 Kilometer südlich der Hauptstadt Santiago de Chile in der Nähe der Orte Catillo und Parral in der VII. Region und umfasst ein Gebiet von 30.000 Hektar. Die Colonia Dignidad wurde 1961 von dem Deutschen Paul Schäfer gegründet (für viele Einzelheiten siehe auch dort).

Inhaltsverzeichnis

Geschichte

1956 gründeten der ehemalige evangelische Jugendpfleger Paul Schäfer und der Gronauer Baptistenprediger Hugo Baar in Lohmar-Heide bei Siegburg die „Private Sociale Mission“, ein Erziehungsheim für Kinder von Gruppenmitgliedern. Die Trennung von der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinde Gronau, bei der sich 35 von 93 Ehepaaren Paul Schäfer anschlossen, erfolgte zur Jahreswende 1959/60. Nach Aufnahme von Ermittlungen der Staatsanwaltschaft gegen Schäfer wegen des Verdachts des sexuellen Missbrauchs flohen Mitglieder der Gruppe nach Chile, wo 1961 die Colonia Dignidad gegründet wurde. Schäfer versprach ein „urchristliches Leben im gelobten Land“ und prophezeite eine angeblich drohende russische Invasion in Deutschland, um Zögernde und Ängstliche umzustimmen. Schäfer entführte auch Minderjährige nach Chile, deren Eltern ihre Erlaubnis zu einer angeblichen Chorfreizeit gegeben hatten. Neben millenaristischen Elementen und dem Bezug auf das Urchristentum (Urchristliche Gütergemeinschaft) spielen in der Lehre auch pfingstliche Ansichten eine Rolle.

In Chile baute die Gruppe eine Kolonie auf, in der sie streng abgeschottet von der Außenwelt lebte und nur auserwählte Besucher empfing. Die Siedler konnten lange Zeit fast autark leben, da sie ein Mustergut aufgebaut hatten, für das sie viel Bewunderung ernteten. Die Führung hatte Kontakte zur rechtsextremen Gruppierung Patria y Libertad und unterstützte damit indirekt den Putsch des chilenischen Militärs am 11. September 1973. Dabei wurden unter Ausnutzung zollrechtlicher Vorteile Feuerwaffen und Munition von Deutschland über den Seeweg illegal nach Chile eingeschleust, welche sowohl innerhalb des Komplexes wie auch durch die Patria y Libertad Verwendung fanden. Während der Militärdiktatur wurde die Kolonie zu einer Operationsbasis des Pinochet-Geheimdienstes Dirección Nacional de Inteligencia. Sie diente auch als Stützpunkt des Projektes ANDREA (Alianza Nacionalista de Repúblicas Americanas, deutsch: Nationalistische Allianz der amerikanischen Republiken). Dieses Projekt war zur Zusammenarbeit lateinamerikanischer Nationalisten, Geheimdienstler, Antisemiten mit rechtsextremer Stoßrichtung bestimmt.

1996 tauchte Paul Schäfer unter, da er von der Justiz gesucht wurde. Die Colonia wurde danach zunächst von verschiedenen Vertrauten Schäfers geleitet.

Alle Versuche des demokratischen Chile, diese Enklave unter Kontrolle zu bekommen, scheiterten bis zur Festnahme Schäfers. Als Gründe werden die Verflechtungen und die Loyalität der Pinochet-Anhänger, der vor Ort ansässigen Polizei und lokal Mächtigen und die Unüberschaubarkeit des riesigen Areals genannt. Außerdem zeigte auch die deutsche Regierung keinerlei Interesse an einer Aufklärung aller obskuren Vorgänge in dieser Kolonie. Die Regierung entzog der Organisation aber 1991 den Status der Gemeinnützigkeit, mit der sie stets von Steuerfreiheit profitiert hatte und löste sie damit formal auf.

Bereits am 17. November 2004 hatte ein chilenisches Gericht Schäfer, den ehemaligen „Herrn über Leben und Tod“, in Abwesenheit des sexuellen Missbrauchs von 27 Kindern für schuldig erkannt. 22 weitere chilenische und deutsche Mitglieder der Colonia wurden für schuldig befunden, den Kindesmissbrauch vertuscht und die Justiz behindert zu haben. Sie erhielten Freiheitsstrafen bis zu fünf Jahren. Zusätzlich wurden Entschädigungszahlungen an die Opfer und deren Familien in Höhe von 540 Millionen chilenischen Pesos (691.000 Euro) festgesetzt. Der Anwalt der Verurteilten kündigte an, in Berufung gehen zu wollen.

In der Nacht zum 28. August 2005 wurde die Kolonie von der chilenischen Justiz unter Zwangsverwaltung gestellt. Der Anwalt Herman Chadwick übernahm die Verwaltung ihrer Firmen. Diese Maßnahme wurde aber kurz darauf vom chilenischen Sonderrichter Jorge Zepeda wieder aufgehoben.

Im Dezember 2005 erfolgte eine weitere Anklage gegen Schäfer, nachdem die ehemalige Leiterin der Klinik der „Colonia“, Gisela Seewald, gestanden hatte, Kinder mit Elektroschocks gequält und psychiatrischen Behandlungen unterzogen zu haben, um deren von Schäfer behauptete „Besessenheit“ zu behandeln.[1] In der Anklageschrift wird Schäfer und Seewald unter anderem vorgeworfen, acht Kinder deutscher Herkunft ihren Eltern entrissen und schwer misshandelt zu haben.

Im April 2006 veröffentlichten etwa 140 Bewohner ein Schuldbekenntnis. In der Öffentlichen Erklärung an unsere Mitbürger in Chile und Deutschland, die in der chilenischen Presse im Wortlaut abgedruckt wurde, heißt es u.a.: „Wir tragen die Schuld, dass wir uns nicht gegen den despotischen Leiter erhoben haben; die Schuld, dass auf unserem Grundstück Menschen ungesetzlich festgehalten wurden, von denen einige umgebracht worden sein sollen, und deren Leichen verschwunden sind.“

Am 24. Mai 2006 teilte das zuständige Gericht im Bezirk Letras de Parral mit, dass Paul Schäfer von Richter Hernán González wegen Kindesmissbrauchs in 25 Fällen zu 20 Jahren Haft verurteilt wurde. Darüber hinaus muss er den Opfern Schadenersatz in Höhe von insgesamt 770 Millionen Pesos (1,25 Mio. Euro) zahlen.

Im Juli 2006 gestand Gerhard Mücke, ein ehemaliges Führungsmitglied, dass 22 Regimegegner nach dem Putsch vom 11. September 1973 in der Colonia Dignidad ermordet und anschließend verbrannt wurden.

Menschenrechtsverletzungen

Die Siedlung, in der während ihrer Hochzeit etwa 350 Menschen lebten, steht seit 1977 unter der Beobachtung von UNO und Amnesty International. Geflüchtete Bewohner berichteten glaubwürdig, die Kolonie sei während der Pinochet-Diktatur jahrzehntelang als Folterzentrum des chilenischen Geheimdienstes genutzt worden. Später stellte sich heraus, dass in der Colonia Dignidad Chilenen gefangen gehalten und als Zwangsarbeiter eingesetzt worden waren. Es wurden verbrecherische, medizinische Versuche an Häftlingen durchgeführt. Kinder und Jugendliche wurden in der Sektengemeinschaft immer wieder sexuell missbraucht, vor allem Jungen unter sexuellem Aspekt körperlich gezüchtigt und die Kinder mit Elektroschocks und Psychopharmaka gequält.

In den 90er Jahren gab es mehrere Gerichtsverfahren, die bis vor den 4. Senat des Bundessozialgerichts gingen. Auslandsdeutsche Sektenmitglieder hatten Renten beantragt, mit deren Auszahlung die Rentenversicherungsträger Probleme hatten. Es bestand der dringende Verdacht, dass die Bewohner nicht frei über eingehende Geldleistungen verfügen konnten und dass diese Leistungen ausschließlich der Kolonieleitung zugute kamen. Daher sind, entsprechend den Urteilen des Bundessozialgerichts, die Rentenversicherungsträger unter bestimmten Voraussetzungen berechtigt und ggf. verpflichtet, Zahlungen treuhänderisch zurückzuhalten, wenn das Grundrecht des Betroffenen auf sein Eigentum (Art. 14 Grundgesetz) nicht gewährleistet ist. Sobald der Rentner frei über eingehende Zahlungen verfügen kann, erfolgt eine Auszahlung der bis dahin treuhänderisch zurückgehaltenen Rentenleistungen. Es ist noch anzumerken, dass die Bundesregierung bis weit in die 80er Jahre diese Rentenzahlungen leistete und sie Abgesandten der Kolonie in der Botschaft aushändigte, ohne zu überprüfen, ob dieses Geld auch den Verfügungsberechtigten zugute kam, oder ob diese überhaupt noch am Leben waren.

Außerdem durfte die Kolonie ungehindert ihre landwirtschaftlichen Produkte in den deutschen Einrichtungen wie Botschaft, deutsch-chilenischer Handelskammer, Deutschen Schulen usw. anpreisen und vertreiben. Erst Ende der 80er Jahre wurde die Werbung für diese Produkte innerhalb der Botschaft untersagt.

Die Kolonie heute

Die Colonia Dignidad besteht heute unter dem Namen „Villa Baviera“.

Rund 280 Mitglieder der Gemeinschaft leben noch immer auf dem 30.000 Hektar großen Gebiet. Die neue Kolonieführung unter Leitung von Michael Müller (* 1957) versucht die Gemeinschaft zu öffnen. Journalisten können die Gruppe nun nach kurzer Voranmeldung besuchen, und die Mitglieder verfügen über privates Satellitenfernsehen. Die Schlafsäle, wo früher Männer, Frauen und Kinder getrennt schliefen, wurden in Wohnungen umgewandelt, in denen jetzt Familien leben. Jungen Mitgliedern der Siedlung wird heute erlaubt, an chilenischen Universitäten zu studieren. Anders als manchmal behauptet wird, sind die Bewohner der Kolonie nicht überaltert, das temporäre Reformkomitee der Gemeinschaft besteht aus 30-40 Jahre alten Männern.

In der Nähe von Bulnes betreibt die Colonia ein deutsches Restaurant, um ihren Ruf aufzubessern. Dort werden auch Fotos von Polizeimaßnahmen gegen die Gruppe ausgestellt.

Kritik

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Der Fernsehjournalist Gero Gemballa, der zwei Bücher zum Thema verfasst hat, meint: „Es ist erstaunlich, dass die Colonia Dignidad anders als andere Sekten in der internationalen Berichterstattung so nah am Tatsächlichen beschrieben wurde, so wenig Übertreibung, Phantasie und Gruseliges hinzugefügt wurde. Vielleicht lag das daran, dass die Realität eigentlich nur noch schwer zu übertreffen ist.“ Er widerspricht der These, dass es für die Verbrechen der Colonia Dignidad nur einen einzigen, allein verantwortlichen Täter gebe, nämlich Paul Schäfer. Seine Nachforschungen machen ein institutionalisierte Geflecht aus deutschen, chilenischen und internationalen Wirtschafts- und Geheimdienstinteressen, Waffenschieberei und aktiver Komplizenschaft bei der Liquidierung von Gegnern des Pinochet-Regimes deutlich. Darum habe man die Dignidad unantastbar zu machen versucht, woran alle Versuche, diese kriminelle Vereinigung auszuschalten, gescheitert seien.

Der Journalist Jürgen Schübelin merkt in einer Rezension zu einem Buch Gemballas an, dass Zynismus schon immer fester Bestandteil von Terrorherrschaft gewesen sei: „Arbeit macht frei, schrieb die SS über das Haupttor vieler Konzentrationslager, Libertad nannte die uruguayische Militärjunta das größte und furchtbarste Foltergefängnis im Land, und Colonia Dignidad (Kolonie der Würde) ist der Name eines kleinen faschistischen Modellstaates in der südchilenischen Provinz, umgeben von Stacheldraht, Wachtürmen, Stolperfallen - autark, aggressiv und schwer bewaffnet. Nirgendwo wird dem Prinzip Sauberkeit so gehuldigt wie in Dignidad. Wer etwas verschmutzt oder zerbricht, wird bestraft. Wer „unreine“ Gedanken hegt, wird dafür geprügelt und mit Elektroschocks gefoltert“.

Auch Friedrich Paul Heller warf der Colonia Dignidad Klerikalfaschismus und Unterstützung des Regimes von Pinochet vor.[2]

Quellen

  1. BBC NEWS | Americas | German held over 'Chile torture' (englisch)
  2. Friedrich Paul Heller: Colonia Dignidad. Von der Psychosekte zum Folterlager. Schmetterling Verlag, Stuttgart 1993, ISBN 392636999X

Literatur

  • Klaus Schnellenkamp: Geboren im Schatten der Angst, Ich überlebte die Colonia Dignidad. München: Herbig Verlagsbuchhandlung, 2007, 238 S., ISBN 978-3-7766-2505-9
  • Gero Gemballa: Colonia Dignidad. Ein Reporter auf den Spuren eines deutschen Skandals. Frankfurt/New York: Campus-Verlag, 1998, 213 S., ISBN 3593359227
  • Friedrich Paul Heller: Colonia Dignidad. Von der Psychosekte zum Folterlager. Stuttgart: Schmetterling Verlag, 1993, ISBN 392636999X
  • Gero Gemballa: Colonia Dignidad: ein deutsches Lager in Chile. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1988. 173 S., ISBN 3-499-12415-7
  • Efrain Vedder; Ingo Lenz: Weg vom Leben. Berlin: Ullstein, 2005, ISBN 3550076134
  • Friedrich Paul Heller: Lederhosen, Dutt und Giftgas: Die Hintergründe der Colonia Dignidad. Stuttgart: Schmetterling Verlag, 2005. ISBN 3-89657-093-5.
  • Abschlussbericht der Valech-Kommission zur Folter in Chile (spanisch), besonders S. 351 [1] (PDF, 1.2 MB).

Weblinks


-36.166388888889-71.8213888888897Koordinaten: 36° 9′ 59″ S, 71° 49′ 17″ W


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