Neoismus

Neoismus

Neoismus ist ein parodistischer -ismus. Er ist der Name eines subkulturellen Netzwerks künstlerischer Aktionisten und Medienexperimentatoren und steht, in allgemeinerem Sinne, auch für eine praktische Underground-Philosophie. Neoismus arbeitet mit kollektiven Pseudonymen und Identitäten, Streichen und Irritationen, Paradoxen, Plagiaten und Fälschungen. Er hat zahlreiche widersprüchliche Definitionen seiner selbst geprägt, um sich jeder Einordnung und Historisierung zu entziehen.

Inhaltsverzeichnis

Hintergrund

Definitionen des Neoismus und neoistischer Aktivitäten sind zur Zeit umstritten. Hauptgrund dafür sind Spaltungen innerhalb des neoistischen Netzwerkes, die sehr unterschiedliche, taktisch verzerrte Darstellungen des Neoismus und seiner Geschichte zur Folge hatten. Am bekanntesten ist das Schisma zwischen dem Autor Stewart Home und dem Rest des neoistischen Netzwerks, das sich auch in der Version des Neoismus von Homes Büchern im Unterschied zu diversen neoistischen Ressourcen im Internet niederschlägt. In nicht-neoistischer Terminologie könnte Neoismus eine internationale Subkultur genannt werden, die in ihren Anfängen an experimentelle Kunst (wie Dada, Surrealismus, Fluxus und Konzeptkunst), Punkkultur, Industrial- und Electropop-Musik, politische und religiöse Freidenkerbewegungen sowie Science Fiction-Literatur, Pataphysik und spekulative Wissenschaft anknüpfte, solche Traditionslinien aber zugleich zurückwies. Neoisten kamen ferner aus dem Umfeld der Graffiti- und Straßenkunst, der L=A=N=G=U=A=G=E poetry, von Experimentalfilm und -Video, der Mail Art, der frühen Church of the SubGenius sowie schwul-lesbischer Kultur. Später wandelte sich Neoismus von einer aktiven Subkultur zu einem selbstverfassten modernen Mythos. Als Nebeneffekt davon haben seit den späten 1980er Jahren viele subkulturelle, künstlerische und politische Gruppen auf Neoismus Bezug genommen, oft jedoch nur vage, und dadurch seinen Mythos fortgeschrieben.

Geschichte

Vorläufer

Das englische Wort Neoism wurde 1914 von dem amerikanischen Satiriker Franklin P. Adams als Parodie moderner Kunst geprägt.[1]

1977 erfand der Künstler und Aktionist David Zack die multiple Künstleridentität Monty Cantsin und lud den lettischstämmigen Dichter und Sänger Maris Kundzins sowie den aus Ungarn emigrierten späteren Performance- und Videokünstler Istvan Kantor ein, sie gemeinsam zu gebrauchen.[2] In der Künstlerkommune Portland Academy in Portland (Oregon) um Zack, Kantor, Al Ackerman und Thomas "Musicmaster" Cassidy sowie Mitglieder des Musikerkollektivs Smegma wurde neben Monty Cantsin auch der Name ISM ironisch für die eigene künstlerische Arbeit verwendet.[3] 1979 wurde ISM unter dem Eindruck der Portlander Frauen-Postpunkband The Neo Boys zu "Neoism" umgeformt.[4]

Neoistisches Netzwerk

Mit Kantors Umzug nach Montreal (Kanada) im Jahr 1979 wurden Neoismus und die Monty Cantsin-Identität zu einem lokalen und später internationalen Netzwerk weiterentwickelt. Neoismus knüpfte dabei an Strömungen der Mail Art an, denen es nicht um den Austausch von Kunstobjekten ging, sondern um Lebenskünstlertum, Streiche, irritierenden Humor sowie Experimente mit Pseudonymen und Identität, wie sie auch von Kantors Mentoren in der Portland Academy betrieben wurden.[5] Laut Kantor bezeichnet Neoismus schlicht etwas, das sich stets neuerfindet und sich – ähnlich dem multiplen Namen Monty Cantsin – im Laufe der Zeit auf völlig verschiedene Akteure, Praxen und Ästhetiken beziehen kann.[6] Zu Beginn stand Neoismus für die Aktivitäten von Kantors Montrealer Netzwerk junger Subkultur- und Postpunk-Aktionisten,[7] vergleichbar u.a. mit den Genialen Dilletanten in West-Berlin. Bis in die späten 1980er Jahre konzentrierten sich die Aktivitäten des Neoismus auf Apartment Festivals, die – nach dem von Immigranten wie Kantor, Balinth Szombathy, Gabor Tóth und Boris Wanowitch importierten Vorbild osteuropäischer Untergrundkunst – in Privatwohnungen stattfanden.[8] Ihren spektakulärsten Auftritt hatten die frühen Neoisten mit der zum Apartment Festival deklarierten "Neoist Occupation Week", einer illegalen und konfrontativen Tag-und-Nacht-Besetzung der Montrealer Kunstgalerie Motivation 5 im Oktober 1980.[9] Durch das Netzwerk der Mail Art wurde der Neoismus über Montreal hinaus bekannt.[10] Bereits das dritte Montrealer Apartment Festival im Jahr 1981 bestand zur Hälfte aus Teilnehmern aus Baltimore (USA), die dort seit den späten 1970er Jahren eine anarchistische Subkultur aus experimenteller Musik, Experimentalfilm, Performances, sprachexperimenteller Poesie, Pataphysik und politischem Aktivismus etabliert hatten und in der Folge den zweiten nordamerikanischen Schwerpunkt des Neoismus bildeten.[11] 1983 fand das erste europäische neoistische Festival statt,[12] im Jahr 2000 das erste neoistische Festival in Australien.[13]

Nicht nur wegen der Kollektividentität Monty Cantsin ist die reale Zahl aktiver Neoisten schwer zu bestimmen, sondern auch deshalb, weil neben langjährigen Aktivisten sich auch Mitwirkende an den Festivals temporär als Neoisten begriffen. Typische neoistische Slogans waren „radikales Spiel“ („radical play“/„playfare“ ) und „die große Verwirrung“ („the great confusion)“. Auch neoistische Publikationen wie das multiple Fanzine SMILE[14] sollten Verwirrung und radikales Spiel verkörpern anstatt bloß beschreiben.[15] So experimentierten sowohl die neoistischen Festivals, als auch neoistische Schriften mit radikaler Unterminierung von Identität, Körpern, Medien und den Kategorien des Eigentums und der Wahrheit. Anders als in typischen postmodernen Strömungen war dieses Experiment praktisch und daher existentiell. Zum Beispiel war Monty Cantsin nicht bloß ein kollektives Pseudonym oder eine mythische Person, sondern eine Identität, die von Neoisten real gelebt wurde. Neben üblichen subkulturell-künstlerischen Medien wie Fanzines, Performance, Super-8-Film und Video wurden zu diesem Zweck auch Computerviren,[16] Lebensmittel (Chapati),[17] flammende Dampfbügeleisen sowie, als telepathische Antennen, Metallkleiderbügel eingesetzt. Mit Thomas Pynchon könnte Neoismus ein „anarchistisches Wunder“ eines internationalen Netzwerks von Exzentrikern genannt werden, die mit oft extremer Intensität unter der gemeinsamen Identität von Monty Cantsin und Neoismus zusammenarbeiteten.

Varianten und Einflüsse auf andere Subkulturen und Künstler

Schon bald nach seiner Gründung entstanden diverse Varianten und individuelle Spielformen des Neoismus. In den frühen 1980er Jahren proklamierte der Montrealer und spätere Pariser Neoist Reinhard U. Sevol den Anti-Neoismus, den andere Neoisten sich aneigneten, indem sie Neoismus zu einer puren Erfindung von Anti-Neoisten erklärten. Der niederländische Neoist Arthur Berkoff bildete die Ein-Mann-Bewegung Neoismus/Anti-Neoismus/Pregroperativismus. Al Ackerman erklärte sich zum Salmineoisten (nach dem Filmschauspieler und Sänger Sal Mineo). 1994 gründete Stewart Home die Neoist Alliance als einen okkulten Orden, zu dessen Meister er sich erklärte. Zeitgleich firmierten italienische Aktivisten des Luther-Blissett-Projekts unter dem Namen Alleanza Neoista. 1997 organisierte der Kritiker Oliver Marchart einen „Neoistischen Weltkongress“ in Wien, an dem u.a. die Gruppe Monochrom, aber keine der zuvor bekannten und in seinem Buch beschriebenen Neoisten teilnahmen. 2001 fand der erste Neoistische Stadtteilkongress Düsseldorf-Mitte statt. 2004 erhielt ein Monty Cantsin den Orden des Großgouverneurs von Kanada für herausragende Verdienste in der Kunst, und ein internationales „Neoist Department Festival“ fand in Berlin statt. Ein „Neoist Research Event“ ist für den Dezember 2010 in Rotterdam angekündigt.[18]

Bekannte Künstler, die an neoistischen Festivals und Projekten mitwirkten, sind u.a. der Street Art-Pionier Richard Hambleton, der Undergroundfilmemacher Jack Smith, der Robotikkünstler Bill Vorn, der Konzeptkünstler Klaus Groh[19]. der Maler Blalla W. Hallmann, der Experimentalfilmmacher Michael Brynntrup sowie das Model und die Filmschauspielerin Eugenie Vincent ("I Shot Andy Warhol").

Neoistische Spielformen wie multiple Namen, Plagiate und Pranks gingen in andere Subkulturen ein, wurden dabei oft für Neoismus als solchen gehalten und mit situationistischen Konzepten vermischt. Die Plagiarism- und Kunststreik 1990–1993-Kampagne der späten 1980er Jahre, von Stewart Home kurz nach Verlassen des neoistischen Netzwerk initiiert, gehört hierzu, ferner die Plunderphonics-Musik, die wiedergegründete London Psychogeographical Association, die Association of Autonomous Astronauts, das Luther-Blissett-Projekt, das Michael K-Projekt, die deutsche Kommunikationsguerilla und, seit den späten 1990er-Jahren, Netzkünstler wie 0100101110101101.org. Andere Künstler, die sich ausdrücklich, wenn auch vage auf den Neoismus beziehen, sind die englische Musikgruppe The KLF sowie das Aktionskünstlerpaar Alexander Brener und Barbara Schurz. Seit 2008 treten Sprecher der Hedonistischen Internationale unter dem Namen Monty Cantsin auf.

Bekannte Neoisten

Einzelnachweise

  1. Franklin P. Adams, 'The Neo-Neoism', in: ders., By and Large, Doubleday 1914, S. 82, Faksimile auf archive.org
  2. "This Monty Cantsin character is a blank legend - could sing Hungarian as well as Latvian - if you need a name try Monty Cantsin", 9. November 1977, nach Istvan Kantor, The Origin of Monty Cantsin
  3. Michael Crane, Mary Stofflet (Hrsg.), Correspondence Art, San Francisco: Contemporary Art Press, 1984, Reproduktion des Plattencovers von "Monty Cantsin's ISM Street Myth Blues Band" (1978) auf S. 113
  4. Quellmaterial im vom Smegma-Mitglied Mike Lastra gedrehten Dokumentarfilm "Nortwest Passage: The Birth of Portland's DIY Culture", DVD: Culture Image, 2007.
  5. Oliver Marchart, Neoismus, Edition Selene, Wien, 1997, S. 16
  6. Géza Perneczky, The Magazine Network, Edition Soft Geometry, Köln, 1993, S. 157, sowie Interview mit Istvan Kantor in Kinokaze #2, 1993, S. 17, teilweise zitiert auch in Stephen Perkins, Neoist Interruptus and the Collapse of Originality, University of Iowa, 2005, S. 1, [1]
  7. Perneczky, S. 157
  8. Perneczky, S. 160; Stewart Home, The Assault on Culture, Aporia Press, London 1988, S. 87ff.
  9. Home, S. 88
  10. Perneczky, S. 159f.
  11. Home, S. 89
  12. Home, S. 89, Programmheft-Faksimile in Marchart, S.28f.
  13. S. Anti-Neoism
  14. S. englischen Wikipedia-Artikel SMILE (magazine)
  15. Marchart, S. 50f.
  16. Tilman Baumgärtel, Experimentelle Software, Telepolis, 17. November 2001, [2]
  17. Marchart, S. 21
  18. Ankündigung auf der Website des Kunstzentrums WORM
  19. Neoist Concert von 1986

Literatur

Weblinks


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