- Sippenhaftung
-
Die Sippenhaftung, oft auch Sippenhaft obwohl es sich nicht notwendigerweise um eine Haft handelt, ist eine Form der Kollektivhaftung aus dem altdeutschen Recht. Sie bezeichnet das Einstehenmüssen der Familienmitglieder für Bußen und Wergeld ihrer Angehörigen.
Inhaltsverzeichnis
Bibel
Die Sippenhaftung als Konzept ist seit Jahrhunderten bekannt und kommt auch als Grundsatz in der Bibel vor. Im Alten Testament (Ex 20,5) beispielsweise vererbt Gott als Teil der Zehn Gebote Schuld auch an die Nachkommen.
Deutsches Recht im Mittelalter
Einer weit verbreiteten Auffassung zufolge ging das ältere deutsche Recht, das heißt das Recht in den deutschen Ländern vor der Rezeption des römischen Rechts, von der Vorstellung aus, dass die Verwandten (Magen, Sippe) für Delikte eines Familienmitgliedes mithaften müssten. Grundlage dieses Systems war, dass auch schwerste Straftaten sich durch eine Bußzahlung regulieren ließen, die an die Sippe des Geschädigten oder Getöteten zu leisten war. Mit dem Aufkommen seiner Sippe für den (pekuniären) Schaden war der Fall erledigt.
In einer neueren Untersuchung hat indes Harald Maihold (siehe Literatur) darauf hingewiesen, dass auch das römisch-kanonische Recht in gewissen Fällen, insbesondere dem des Majestätsverbrechens, eine Mithaftung der Familie kannte, und dass die Quellen des „altdeutschen Rechts“ im Umfang der Familienhaftung kaum über das römisch-kanonische Recht hinausgehen.
Nationalsozialismus
In späterer Zeit bekam die Bezeichnung eine neue Bedeutung: Gemeint war nunmehr die Bestrafung eines Menschen (Verwandten, Ehepartners) für die Straftat eines anderen „Sippenangehörigen“. Diese Art der Haftung wurde in totalitären Herrschaftssystemen wie zum Beispiel während der Zeit des Nationalsozialismus als Terrormaßnahme gegen politische Gegner (und deren Familien) angewandt.
Nach dem Attentat auf Heydrich wurden die in der okkupierten Tschechoslowakei gebliebenen Familienangehörigen des ehemaligen tschechoslowakischen Ministers Ladislav Karel Feierabend, der nun Mitglied der Exilregierung in London war, in Konzentrationslager deportiert: seine Ehefrau, sein Vater, sein Bruder sowie dessen Frau und Söhne.
Nach dem Attentat des 20. Juli 1944 wurden nicht nur die Familien der Widerstandskämpfer (so die Ehefrauen und Kinder von Claus Schenk Graf von Stauffenberg und Wessel Freytag von Loringhoven) in Sippenhaftung genommen, sondern es wurde die gesamte weitverzweigte Sippe der Schenken von Stauffenberg inhaftiert.[1] Sippenhaft bedeutete in diesen Fällen in der Regel Einweisung in ein Konzentrationslager.
Ein weiteres Beispiel dafür bietet der Fall des Gustloff-Attentäters David Frankfurter, dessen Vater, Oberrabbiner Dr. Moritz Frankfurter, nach dem Einmarsch in Jugoslawien am 6. April 1941 von der SS gefangen genommen und öffentlich gefoltert wurde.
Am 5. Februar 1945 wurde in einem Erlass die Haftung mit Vermögen, Freiheit oder Leben für Angehörige von deutschen Kriegsgefangenen angeordnet, die in der Gefangenschaft Angaben über Stärke, Bewaffnung und Einsatzort ihrer Truppe gemacht und deshalb wegen Landesverrat rechtskräftig zum Tode verurteilt worden waren.[2]
Schweiz
Die von der SVP im Zuge des Wahlkampfs 2007 lancierte sogenannte Ausschaffungsinitiative wird von Kritikern – beispielsweise in einem Artikel der britischen Tageszeitung The Independent – mit der Sippenhaftung gleichgesetzt,[3] da sie eine Ausweisung von Familienmitgliedern straffällig gewordener minderjähriger Ausländer vorsieht;[4] damit würde die Haftung für eine Straftat auch auf Familienmitglieder übertragen, die selbst nicht straffällig geworden sind.
Österreich
Im Zuge des Wahlkampfes zur Bundespräsidentenwahl 2010 wurde im Zusammenhang mit der beabsichtigten Kandidatur von Ulrich Habsburg-Lothringen der Begriff der „Sippenhaftung“ thematisiert, da § 6 Abs. 1 des Bundespräsidentenwahlgesetzes 1971 Mitgliedern regierender Häuser oder solcher Familien, die ehemals regiert haben, das passive Wahlrecht verwehrt. Eine entsprechende Beschwerde von Ulrich Habsburg-Lothringen an den Verfassungsgerichtshof wurde von diesem am 10. Dezember 2009 als unzulässig zurückgewiesen (GZl. 222/09).
In anderen Kulturen
In nicht-westlichen Kulturen, wie beispielsweise in Japan bis Mitte des 19. Jahrhunderts, wurde die Sippenhaftung zum Teil als normal angesehen und auch von nicht-totalitären Regierungen allgemein praktiziert.
Einzelnachweise
- ↑ im Geiseltransport vom KZ Dachau nach Südtirol waren zwölf Familienmitglieder Stauffenberg. Siehe Peter Koblank: Die Befreiung der Sonder- und Sippenhäftlinge in Südtirol
- ↑ Fernschreiben von Wilhelm Keitel nach Erich Kuby, Das Ende des Schreckens, List Bücher 1961, S. 50f
- ↑ Paul Vallely: Switzerland: Europe’s heart of darkness?. In: The Independent. 7. September 2007
- ↑ Volksinitiative für die Ausschaffung krimineller Ausländer (Ausschaffungsinitiative) der SVP, Argumentarium (abgerufen am 11. November 2007)
Literatur
- Dagmar Albrecht: Mit meinem Schicksal kann ich nicht hadern. Sippenhaft in der Familie Albrecht von Hagen. Dietz, Berlin 2001, ISBN 3-320-02018-8.
- Ekkehard Kaufmann: „Sippe“ und „Sippenstrafrecht“. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Herausgegeben von Adalbert Erler und Ekkehard Kaufmann unter philologischer Mitarbeit von Ruth Schmidt-Wiegand. Mitbegründet von Wolfgang Stammler, Red. Dieter Werkmüller. Band IV. Berlin 1990, S. 1668–1672
- Harald Maihold: Die Sippenhaft: Begründete Zweifel an einem Grundsatz des „deutschen Rechts“. In: Mediaevistik. Band 18, 2005, S. 99–126 (PDF; 152 KB)
Wikimedia Foundation.