- Rechtsgeschichte
-
Die Rechtsgeschichte ist eine interdisziplinäre Wissenschaft, die sowohl dem Kreis der Rechtswissenschaften als auch dem der Geschichtswissenschaften zuzurechnen ist. Im deutschsprachigen Raum wird sie traditionell als juristische Grundlagenwissenschaft an juristischen Fakultäten gelehrt und zerfällt in einen romanistischen, germanistischen und kanonistischen Zweig. Während die Rechtsgeschichte im 19. und noch Anfang des 20. Jahrhunderts einen hervorragenden Stellenwert im juristischen Studium einnahm, ist sie seit etwa 1945 mit einem zunehmenden Bedeutungsrückgang und – damit verbunden – mit Legitimationszwang verbunden.
Inhaltsverzeichnis
Die Historische Rechtsschule als Ausgangspunkt
Die Historische Rechtsschule des 19. Jahrhunderts war keine Rechtsgeschichtswissenschaft im modernen Verständnis, sondern versuchte, mit Hilfe von historischen Quellen unmittelbaren Nutzen für das gegenwärtige Recht zu ziehen. Gleichwohl differenzierten sich in dieser Zeit die traditionellen Disziplinen heraus:
Romanistik
Das klassisch-antike römische Recht war in der ausgehenden Spätantike (533/534) im Corpus Iuris Civilis aufgezeichnet worden und zählte seit seiner Wiederentdeckung im 12. Jahrhundert zu den an der Universität gelehrten Disziplinen. Im Zuge der sogenannten Rezeption um ca. 1500 hatte das universitär weiterentwickelte römische Recht als sog. Gemeines Recht (ius commune) auch im gewohnheitsrechtlichen Weg Eingang in die Rechtspraxis gefunden; die Beschäftigung mit römischen Recht war somit bis zum Inkrafttreten der großen Kodifikationen (französischer Code Civil 1804, österreichisches Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch 1812, deutsches Bürgerliches Gesetzbuch 1900, schweizerisches Zivilgesetzbuch 1912), kein rein historisches Anliegen. Nach Fortfall seiner praktischen Geltung im 19. und 20. Jahrhundert behauptete das Römische (Privat-)Recht seine Bedeutung als universitäres Propädeutikum für das Studium des geltenden (französischen, österreichischen, deutschen, schweizerischen) Privatrechts. Die Romanistik ist zugleich Teil der Antiken Rechtsgeschichte, welche auch die Rechte der anderen antiken Kulturen untersucht.
Germanistik
Das Entstehen der Rechtsgermanistik zu Beginn des 19. Jahrhunderts ist auch, aber nicht nur als nationalistische Gegenbewegung zur Beschäftigung mit dem national „fremden“, römischen Recht zu verstehen. Als Kontrapunkt zum beeindruckend geschlossen und systematisch durchdachten römischen Recht wurde versucht, ein ebenso geschlossenes, systematisches „Deutsches Recht“ zu konstruieren, wie es vor der Rezeption bestanden haben soll. „Deutsches Recht“ ist hier also nicht als das im Gebiet Deutschlands geltende Recht zu verstehen, sondern das ausschließlich „heimische Recht“, welches nahezu ausschließlich germanische Wurzeln haben sollte. Besonders diese Disziplin hatte 1945 eine vollkommene Neuorientierung vorzunehmen.
Kanonistik
Die Kanonistik, die Wissenschaft vom Kanonischen Recht ist traditionellerweise stark historisch ausgeprägt und gilt daher als dritte rechtsgeschichtliche Disziplin.
Die Rechtsgeschichte im 20. Jahrhundert
Das Umdenken in der Rechtsgeschichte war nicht alleine eine Folge des Inkrafttretens der Kodifikationen: Derartiges könnte nur für Deutschland behauptet werden; in Österreich hingegen war die Zäsur nicht erst 1900, sondern schon 1812, also noch vor dem Aufkommen der historischen Rechtsschule erfolgt. Trotzdem sind für Österreich ebenso wie für Deutschland ähnliche Tendenzen zu beobachten: Mit der Ausdifferenzierung und Verfeinerung der geschichtswissenschaftlichen Methoden musste auch für die Rechtshistoriker die Frage nach der Haltbarkeit ihrer bisherigen Thesen und nach der Sinnhaftigkeit ihrer Forschungsansätze neu gestellt werden. Die Notwendigkeit der Annäherung an die Geschichtswissenschaften freilich entfernte sie mehr und mehr von den Rechtswissenschaften. Damit setzte sich die Rechtsgeschichte buchstäblich zwischen zwei Stühle: Von den Geschichtswissenschaften wird die von Juristen betriebene Rechtsgeschichte noch heute nur ungenügend zur Kenntnis genommen, in den Rechtswissenschaften mehrten sich die Stimmen, die die Notwendigkeit der Rechtsgeschichte leugnen. Dies hängt freilich auch mit der nach 1945 erfolgten Rückkehr zu naturrechtlichen Vorstellungen und dem Glauben nach absoluten Werten zusammen, für die die Lehre, dass alles Recht nur ein Produkt der Geschichte ist, nur störend wirken kann. Wie kaum eine andere rechtswissenschaftliche Disziplin stellt die Rechtsgeschichte heute daher ihre eigene Legitimation in Frage.
Zeitschriften
Die älteste noch bestehende rechtshistorische Zeitschrift ist die Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Sie steht in der Tradition der von Savigny mit herausgegebenen Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft und erscheint in der heutigen Form seit 1879 in einer germanistischen und einer romanistischen, seit 1911 auch in einer kanonistischen Abteilung im Verlag Böhlau. Seit 1979 wird im Verlag Manz die Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte herausgegeben. Seit 2002 erscheint in Frankfurt am Main die Zeitschrift Rechtsgeschichte des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte.[1]
Zitate
„In der Rechtsgeschichte wird die Beharrlichkeit, die Beständigkeit und die Wiederkehr menschlichen, wenn auch gewandelten Verhaltens ebenso sichtbar wie die leise oder eruptiv auftretende Veränderung, und der ältere Mensch sieht beides in der Spiegelung seiner eigenen Erfahrung.“
– Baltl, Hermann 1991[2]
Siehe auch
Literatur
Allgemein
- Harold Joseph Berman: Law and Revolution: The Formation of the Western Legal Tradition, Harvard University Press (Taschenbuch), 1985
- H. Patrick Glenn: Legal Traditions of the World: Sustainable Diversity In Law (Taschenbuch), Oxford University Press, 3. Auflage 2007, ISBN 0199205418
- Michaels Stolleis: Rechtsgeschichte schreiben. Rekonstruktion, Erzählung, Fiktion?, Schwabe, Basel 2008
Nachschlagewerke
- Denis Alland und Stéphane Rials (Hrg.): Dictionnaire de la culture juridique, Paris: PUF 2003 (Taschenbuch) 1640p., ISBN 213053936X
- Albrecht Cordes, Heiner Lück, Dieter Werkmüller u.a. (Hg.): Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (HRG). 2. Auflage. Verlag Erich Schmidt, Berlin 2004, ISBN 978-3-503-07911-7.
- Thomas Olechowski, Richard Gamauf: Studienwörterbuch Rechtsgeschichte und Römisches Recht. Manz, Wien 2006, ISBN 3-214-00085-3.
- Vicente Barretto : Dicionário de Filosofia do Direito. Verlag Unisinos, São Leopoldo, 2006, ISBN 85-7431-266-5.
- Patrick Arabeyre, Jean-Louis Halpérin und Jacques Krynen (Hrg.): Dictionnaire historique des juristes français (XIIe-XXe siècle), PUF, Paris 2007
- Michael Stolleis (Hrsg.): Juristen. Ein biographisches Lexikon, von der Antike bis zum 20. Jahrhundert, Beck, München 2001, ISBN 3-406-45957-9.
- Gerd Kleinheyer, Jan Schröder (Hrsg.): Deutsche und Europäische Juristen aus neun Jahrhunderten. Eine biographische Einführung in die Geschichte der Rechtswissenschaft, 5., neu bearb. und erw. Aufl., UTB, Heidelberg 2008, ISBN 978-3-8252-0578-2.
- Joachim Rückert (Hrsg.): Niedersächsische Juristen. Ein historisches Lexikon mit einer landesgeschichtlichen Einführung und Bibliographie, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2003, ISBN 3-525-18241-4
- The Oxford international encyclopedia of legal history, Oxford University Press, 2009
Gesamtdarstellungen
- Franz Wieacker: Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung. 2., neubearbeitete Auflage. Göttingen 1967.
- Hans Hattenhauer: Europäische Rechtsgeschichte. 4. Auflage. Heidelberg 2004, ISBN 3-8114-8404-4.
- Stephan Meder: Rechtsgeschichte. Eine Einführung. 3. Auflage. Köln 2008, ISBN 978-3-412-21105-9.
- Martin Otto: Recht, in: Europäische Geschichte Online, hrsg. vom Institut für Europäische Geschichte (Mainz), 2011, Zugriff am: 11.11.2011.
- Hans Schlosser: Grundzüge der neueren Privatrechtsgeschichte, Rechtsentwicklungen im europäischen Kontext. 10. Auflage. UTB, Heidelberg 2005, ISBN 3-8252-0882-6.
- Mathias Schmoeckel: Auf der Suche nach der verlorenen Ordnung. 2000 Jahre Recht in Europa. Ein Überblick. Böhlau, Köln Weimar Wien 2005, ISBN 3-412-13304-3.
- Uwe Wesel: Die Geschichte des Rechts. Von den Frühformen bis zur Gegenwart. 3. Auflage, C.H. Beck Verlag, München 2006, ISBN 3-406-47543-4.
- Uwe Wesel: Die Geschichte des Rechts in Europa. Von den Griechen bis zum Vertrag von Lissabon. C.H. Beck Verlag, München 2010, ISBN 978-3-406-60388-4
Römische Rechtsgeschichte
- Max Kaser, Rolf Knütel: Römisches Privatrecht. 18. Auflage. C.H. Beck Verlag, München 2005, ISBN 3-406-53886-X.
- Wolfgang Kunkel, Martin Schermaier: Römische Rechtsgeschichte. 13. Auflage. UTB, Köln Weimar 2001, ISBN 3-8252-2225-X.
Deutsche Rechtsgeschichte
- Gerhard Wesenberg, Gunter Wesener: Neuere deutsche Privatrechtsgeschichte im Rahmen der europäischen Rechtsentwicklung. 4. Auflage. Böhlau Verlag Wien - Köln 1985.
- Gerhard Köbler: Deutsche Rechtsgeschichte – ein systematischer Grundriss. 6. Auflage. Verlag Vahlen, München 2005, ISBN 3-8006-3209-8.
- Adolf Laufs: Rechtsentwicklungen in Deutschland. 6. Auflage. De Gruyter, Berlin 2006, ISBN 978-3-89949-301-6.
- Ulrich Eisenhardt: Deutsche Rechtsgeschichte. 4. Auflage. C.H. Beck Verlag, München 2004, ISBN 3-406-51996-2.
- Werner Frotscher, Bodo Pieroth: Verfassungsgeschichte. 5. Auflage. C.H. Beck Verlag, München 2005, ISBN 3-406-53411-2.
- Stephan Meder: Rechtsgeschichte. 2. Auflage. Böhlau, Köln Weimar Wien 2005, ISBN 3-412-21105-2.
- Stephan Meder (Hrsg.): Frauenrecht und Rechtsgeschichte. Die Rechtskämpfe der deutschen Frauenbewegung, Köln/Weimar/Wien 2006.
- Heinrich Mitteis, Heinz Lieberich: Deutsche Rechtsgeschichte. 19. Auflage. C.H. Beck Verlag, München 1992, ISBN 3-406-36506-X.
- Hinrich Rüping, Günter Jerouschek: Grundriss der Strafrechtsgeschichte. 4. Auflage. C.H. Beck Verlag, München 2002, ISBN 3-406-49878-7.
- Karl Kroeschell: Deutsche Rechtsgeschichte, 3 Bände, Böhlau Verlag, Köln, Weimar, Wien, 2008; Bd. I: Bis 1250, 13. Auflage, Bd. II: 1250-1650, 9. Auflage (zusammen mit Albrecht Cordes und Karin Nehlsen-von Stryk), Bd. III: Seit 1650, 5. Auflage. ISBN 978-3-412-11006-2; ISBN 978-3-412-27605-8; ISBN 978-3-412-10706-2
- Karl Kroeschell: Rechtsgeschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1992, ISBN 3-525-03160-2
- Jörg Requate: Der Kampf um die Demokratisierung der Justiz : Richter, Politik und Öffentlichkeit in der Bundesrepublik, Frankfurt am Main [u.a.] : Campus-Verl., 2008, ISBN 3593387611
- Michael Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. 3 Bände, München 1988-1999
Österreichische Rechtsgeschichte
- Wilhelm Brauneder: Österreichische Verfassungsgeschichte. 10. Auflage. Manz, Wien 2005, ISBN 3-214-14875-3.
- Ursula Floßmann: Österreichische Privatrechtsgeschichte. 5. Auflage. Springer, New York Wien 2005, ISBN 3-211-23749-6.
- Rudolf Hoke: Österreichische und Deutsche Rechtsgeschichte. 2. Auflage. Böhlau, Köln Weimar Wien 1996, ISBN 3-205-98179-0.
- Thomas Olechowski: Rechtsgeschichte. Einführung in die historischen Grundlagen des Rechts. 2. Auflage, WUV, Wien 2008, ISBN 978-3-7089-0203-6.
- Oskar Lehner: Österreichische Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte. 4. Auflage. Trauner, Linz 2007, ISBN 978-3-85487-339-6
Schweizerische Rechtsgeschichte
- Bischofberger, Hermann: Rechtsarchäologie und Rechtliche Volkskunde des eidgenössischen Standes Appenzell Innerrhoden. Ein Inventar im Vergleich zur Entwicklung anderer Regionen, Appenzell 1999, ISBN 3-9520024-8-8.
- Carlen, Louis: Aufsätze zur Rechtsgeschichte der Schweiz, Hildesheim 1994 [C. hat zahlreiche Werke zur Rechtsgeschichte in der Schweiz geschrieben].
- Pahud de Mortanges, René: Schweizerische Rechtsgeschichte – Ein Grundriss, Zürich/St. Gallen 2007, ISBN 978-3-03751-044-5
- Senn, Marcel / Fenner, Timo / Räber, Boris /Brüngger, Thomas / Frick, Georges / Johnson, Chris Zeittafel zur Rechtsgeschichte, 4. Auflage, Zürich 2009 exklusiv erhältlich
Weblinks
Allgemein
- forum historiae juris – Erste europäische Internetzeitschrift für Rechtsgeschichte
- Thomas Vormbaum: Juristische Zeitgeschichte, in: Docupedia Zeitgeschichte, 22. März 2010
- Links zum Thema Rechtsgeschichte im Open Directory Project
Römische Rechtsgeschichte
- The Roman Law Library von Yves Lassard und Alexandr Koptev
Deutsche Rechtsgeschichte
- Alles was Recht ist. Sonderteil: Wie das deutsche Recht entstand. Ein Blick in unsere Rechtsgeschichte von Joachim Feldmann (Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit)
- HRG, 2. Aufl. Portal zum "Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte" (HRG)
- Einführung in das deutsche Recht – Informationen zur Rechtsgeschichte, den Rechtsquellen, der Gerichtsbarkeit, den übergeordneten Rechtsgebieten und dem Verhältnis von deutschem Recht zu Europarecht
Schweizerische Rechtsgeschichte
- Rechtsgeschichte im Historischen Lexikon der Schweiz
- Senn, Marcel / Fenner, Timo / Räber, Boris /Brüngger, Thomas / Frick, Georges / Johnson, Chris: Zeittafel zur Rechtsgeschichte [1], 4. Auflage, Zürich 2009
Sonstige
Einzelnachweise
- ↑ Zeitschrift Rechtsgeschichte. Abgerufen am 12. Februar 2011.
- ↑ Baltl, Hermann: Die österreichische Rechtsgeschichte: ein wissenschaftliches Fach, ein Ausbildungsziel und ein politischer Auftrag. 1991 Leykam Buchverlag GmbH. Erschienen in: Grazer rechts-und stastwissenschaftliche Studiens. Band 47. S. 19.
Wikimedia Foundation.