- Thingspiel
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Die Thingspiele des Dritten Reiches sollten ein völkisches Theater begründen. Sie wollten das Publikum formal und emotional in das dramatische Geschehen einbeziehen. Thingspiele erlebten eine kurze Blüte von etwa 1930 bis 1935 und verschwanden dann wieder. Sie waren Teil der Thingbewegung im 20. Jahrhundert.
Inhaltsverzeichnis
Vorgeschichte
Die Weltwirtschaftskrise nach dem Börsenkrach 1929 hatte auch die Berufsgruppe der Schauspieler und anderen Theaterleute in Bedrängnis gebracht, sie besonders, weil an kulturellen Diensten zuerst gespart wird. Wilhelm Carl Gerst, Mitgründer und Leiter des katholischen Bühnenvolksbundes, suchte damals ein neues Medienformat, bei welchem Leute vom Fach und Laien gemeinsam dramatisches Geschehen öffentlich gestalten sollten. Damit hoffte er nicht nur den arbeitslosen Bühnenkünstlern eine neue Existenzmöglichkeit zu eröffnen, sondern auch mit geeigneten Werken auf die öffentliche Meinung einzuwirken. Nach dem Vorbild von Schillers "Bühne als moralische Anstalt" sollte das gemeinsam gestaltete und gemeinsam erlebte dramatische Geschehen alle Teilnehmer (auf der Bühne, dahinter und davor) emotional, moralisch und nicht zuletzt politisch "mitreißen", ihre Gesinnung festigen oder sogar umstimmen.
Ein Thingspiel sollte Festspiel und Kundgebung in einem sein. Vorbilder und Vorläufer waren Arbeiter-Massenfestspiele der Kommunisten, wie sie seit Anfang der 1920er Jahre zu Gewerkschaftsfeiern organisiert worden waren. Die Bezeichnung „Thing“ wurde von der Jugendbewegung übernommen; einige Jugendbünde (Pfadfinder, Quickborn und andere) hatten ihre größeren Versammlungen so bezeichnet.
1931 organisierte Gerst zunächst den „Reichsausschuß für deutsche Volksschauspiele“ und gewann viele Theaterautoren zur Mitarbeit. Der nächste Schritt war am 22. Dezember 1932 die Gründung des „Reichsbundes zur Förderung der Freilichtspiele e. V.“. Der Verein wurde sieben Tage vor der Machtergreifung ins Vereinsregister eingetragen.
Beginn
Nach der Machtergreifung vermittelte der Schauspieler Otto Laubinger, überzeugter Nationalsozialist, dass der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda die junge Vereinigung anerkannte. Damit war der Reichsbund einerseits unter den Schutz des RMVP gestellt, andererseits aber dessen Einfluss ausgesetzt.
Der Dichterkreis des Reichsbundes hatte nach ursprünglicher Planung Autoren der verschiedensten Herkunft und Ausrichtung umfassen sollen. In einer Aufstellung vom Februar 1933 werden folgende Namen genannt:[1]
- Fred Angermayer
- Otto Anthes
- Max Barthel
- Peter Bauer
- Guido Brandt
- Dietzenschmidt
- Kasimir Edschmid
- Herbert Eulenberg
- Karl von Felner
- Oscar Maurus Fontana
- Hans Franck
- Wolfgang Goetz
- Franz Graetzer
- Paul Gurk
- Rudolf Henz
- Kurt Heynicke
- Ödön von Horváth
- Heinrich Köhler
- Peter Martin Lampel
- Max Mell
- Walter von Molo
- Fred Neumeyer
- Alfons Paquet
- Hans José Rehfisch
- Wilhelm Schmidtbonn
- Bruno Schönlank
- Wilhelm von Scholz
- Friedrich Schreyvogel
- Fritz Schwiefert
- Ernst Leopold Stahl
- Heinz Steguweit
- Robert Adolf Stemmle
- Ernst Toller
- Franz Johannes Weinrich
- Leo Weismantel
- Berthold Withalm
- Carl Zuckmayer
Für die amtliche Mitteilung des Reichsbundes im November 1933 wurde die Liste auf mehr als fünfzig Namen verlängert. Einerseits wurden dem Regime missliebige Autoren ausgeschlossen, andererseits ließ Gerst gerade gefährdete Autoren zu deren Schutz in den Dichterkreis berufen, ohne dass das Propagandaministerium sie vorher hatte prüfen können (bezeichnend für die unübersichtlichen Auseinandersetzungen der Anfangszeit des Naziregimes).[2]
Die großzügige Planung vieler Thingstätten wurde Teil der nationalsozialistischen Neugestaltung des deutschen Kulturlebens, half die Massenarbeitslosigkeit abbauen und trug so mittelbar zum anfänglichen Erfolg des Kabinetts Hitler bei. Als Mitarbeiter Laubingers gewann Gerst sehr viele Stadtverwaltungen dazu, Grundstücke für Thingstätten bereitzustellen und den Ausbau zu planen. Gerst, ursprünglich selbst Architekt von Beruf, empfahl den Städten als örtliche Gestalter arbeitslose, meist junge Architekten und verschaffte diesen so ergiebige Aufträge.
Erfolg
Von 1933 bis 1939 waren 200 bis 400 Thingplätze in Planung oder begonnen. 1934 waren immerhin 60 Freilichtbühnen fertiggestellt.
An damals veranstalteten Thingspielen wirkten oft hunderte Schauspieler mit, manchmal sogar tausende. So wurde im Oktober 1933 in Berlin-Grunewald ein Thingspiel aufgeführt, zu dem nicht weniger als 17.000 SA-Männer als Komparsen kommandiert waren. Anwesend waren 60.000 Zuschauer, ob kommandiert oder nicht, darf dahingestellt bleiben. An diesen Massenszenen hatte das Publikum aktiv teilzunehmen. Damit war die herkömmliche Grenze zwischen Podium und Publikum manchmal aufgehoben (freilich hatten schon früher Avantgardisten dieses theatrale Element eingeführt). In traditionellen Theatern konnten solche Stücke nicht aufgeführt werden.
Als Thema hatten die Thingspiele immer die deutsche Geschichte, besonders die Geschichte von 1918 bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933. Gezeigt wurde, wie "das Volk" (vorgestellt wie der Chor im altgriechischen Theater) politisch "handelte". Nur wenige Spieler hatten Einzelrollen, darunter auch die Chorführer.
Das bekannteste und meistgespielte Thingspiel war das Frankenburger Würfelspiel von Eberhard Wolfgang Möller aus dem Jahr 1936, es wurde bei den Olympischen Sommerspielen 1936 aufgeführt. Andere Thingspielautoren waren Richard Euringer, Kurt Heynicke und Karl Springenschmid.
Niedergang
Entsprechend seiner grundsätzlich links-katholischen Gesinnung hatte Gerst gleichgesinnte Autoren zunächst in den Reichsausschuss, später in den Reichsbund einbezogen und suchte diese Kräfte in der Organisation zu halten in der Hoffnung, ihre politische Einstellung werde in ihren Dramen-Entwürfen Wirkung erlangen. Die tatsächlich geschaffenen Kunstwerke entsprachen aber nicht dieser Erwartung.
Die Planung von Thingstätten im ganzen Reich hatte Gerst übermäßig in Gang gesetzt. Längst nicht alle Vorhaben konnten ausgeführt werden. So konnten unerwartete Schwierigkeiten des Geländes oder der Bodenbeschaffenheit den Ausbau wesentlich verzögern oder sogar im Ganzen gefährden. Von 1936 an wurden als Thingplätze geplante Örtlichkeiten nur dann weiter ausgebaut, wenn die städtischen Fremdenverkehrsämter sich dafür einsetzten.
Hinzu kam, dass mit der Niederschlagung des Röhm-Putsches die politische Entwicklung der NSDAP und damit des Reiches in eine neue Phase eingetreten war. Die sozialistische Komponente wurde schwächer, die nationalistische nahm zu. Propagandaminister Joseph Goebbels sah in Film und Radio wesentlich bessere Möglichkeiten der Massenbeeinflussung als in den ideologisch plakativ überladenen Thingspielen. Goebbels erkannte auch, dass Veranstaltungen der „Bewegung“ eher schadeten, wenn sie als Kult durchschaut wurden.
Im Oktober 1935 starb Otto Laubinger, Gerst wurde entlassen, echte Nationalsozialisten traten an ihre Stelle. Es erging die Sprachregelung, dass Begriffe wie Thing nicht in Verbindung mit parteipolitischen Veranstaltungen oder staatlichen Unternehmungen verwendet werden durften. Soweit Thingstätten erfolgreich waren, mussten sie fortan als Freilichtbühnen bezeichnet werden.
„Auch ist die nationalsozialistische Weltanschauung nicht mehr mit Begriffen wie Kult, kultisch u. a. in Verbindung zu bringen.“
Goebbels hatte Klarheit darüber gewonnen, dass die Bevölkerung die Veranstaltungen der Partei in den eingeführten Medienformaten als politische Wirklichkeit wahrnahm: Führerreden und Kundgebungen, Reichsparteitag, Reichsbauerntag, der jährliche Appell vor der Feldherrnhalle, die Sammlungen für das Winterhilfswerk, schon 1933 und später die Bücherverbrennungen und vieles andere. Das Volk sollte diese Ereignisse nicht als kultische Handlungen erkennen, eben weil sie genau das waren.
Ohne die Förderung durch die Partei führten Thingspiele von da an nur noch ein Schattendasein bei der Hitlerjugend und in eher sektiererischen Splittergruppen innerhalb der NSDAP wie bei den Artamanen.
Literatur
- Wolfgang Beutin u.a.: Deutsche Literaturgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart, Verlag J.B. Metzler, Stuttgart/Weimar, 2001: S. 439
- (pdf) Sascha Braun: Auf der Suche nach der Volksgemeinschaft. Das nationalsozialistische Thingspiel, Seminararbeit, Bochum 2004
- Henning Eichberg et al.: Massenspiele. NS-Thingspiel, Arbeiterweihespiel und olympisches Zeremoniell. Frommann-Holzboog, Stuttgart-Bad Cannstatt 1977
- Emanuel Gebauer: Fritz Schaller. Der Architekt und sein Beitrag zum Sakralbau im 20. Jahrhundert. (= Stadtspuren - Denkmäler in Köln; Bd. 28). Bachem, Köln 2000, ISBN 3-7616-1355-5 (zugl. Dissertation, Universität Mainz 1994 unter dem Titel: Das Thing und der Kirchenbau. Fritz Schaller und die Moderne 1933–1974), enthält Kapitel über den Bau der Thingstätten zu Beginn des Nationalsozialismus
- Uwe K. Ketelsen: Völkische Nationenbildung: Das Thingspiel (pdf) (113 kB)
- Meinhold Lurz: Die Heidelberger Thingstätte. Die Thingbewegung im Dritten Reich. Kunst als Mittel politischer Propaganda. (= Veröffentlichungen zur Heidelberger Altstadt; 10) Schutzgemeinschaft e. V. Heiligenberg, Heidelberg 1975
- Johannes M. Reichl: Das Thingspiel, Frankfurt am Main 1988
- Rainer Stommer. Die inszenierte Volksgemeinschaft: Die ´Thing-Bewegung´ im Dritten Reich. Marburg: Jonas, 1985. ISBN 3-922561-31-4.
Einzelnachweise
Kategorien:- Nationalsozialismus (Literatur)
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