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Proximate und ultimate Ursachen von Verhalten sind in der Verhaltensforschung zwei gängige, aber äußerst unterschiedliche Ansätze, Verhaltensweisen zu erklären. Die Unterscheidung geht zurück auf den niederländisch-britischen Ethologen und Nobelpreisträger Nikolaas Tinbergen.[1] Generell sollten für jede zu interpretierende Verhaltensweise jeweils sowohl die proximaten als auch die ultimaten Ursachen angegeben werden.
Inhaltsverzeichnis
Vier Fragen, zwei Blickwinkel
Nikolaas Tinbergen unterschied vier Fragen, die beim Analysieren jedes Lebensphänomens berücksichtigt werden sollten. Er nannte diese Fragen „The Four Whys“, auf deutsch wurden sie später auch als die Vier Grundfragen der Biologischen Forschung bezeichnet. Diese vier Fragen können etwa so formuliert werden:
- Wie funktioniert Verhalten auf der chemischen, physiologischen, neuroethologischen, psychischen und sozialen Ebene? (Frage nach den Verursachungen)
- Wie entwickelt sich Verhalten, wie verändert sich Verhalten im Verlauf des individuellen Lebens durch innere Programmschritte und Umwelteinflüsse (Frage nach der Ontogenese)?
- Wozu sind die einzelnen Verhaltensweisen dem Individuum nützlich? (Frage nach dem Anpassungswert)
- Welche Mechanismen haben dazu geführt, dass sich ein bestimmtes Verhalten im Laufe der Phylogenese (Frage nach der Stammesgeschichte) entwickelt hat? Warum sind einzelne Merkmale stammesgeschichtlich so-und-nicht-anders geworden?
Verhalten ist aus dieser Sicht also nie monokausal erklärbar (durch eine einzige Ursache), sondern stets multikausal (durch mehrere Ursachen). In vielen Fällen können zudem mehrere proximate Ursachen plausibel benannt werden und häufig auch mehrere ultimate Ursachen.
Die proximaten Ursachen für Verhalten
Die proximaten Ursachen für ein Verhalten kann man auch als die unmittelbaren Gründe bezeichnen oder als die aktuellen Ursachen. Sie werden häufig auch Wirkursachen genannt.
1. Zu den proximaten Ursachen gehören einerseits alle inneren (physiologischen, chemischen, psychischen usw.) Bedingungen, die ein Verhalten beeinflussen, zugleich aber auch alle äußeren Auslöser (zum Beispiel Schlüsselreize) und sozialen Bedingungen.
Erkenntnisse dieser basalen Ebene sind eine wichtige Voraussetzung für ein Verständnis der darüberliegender Ebenen. Die Kenntnis beispielsweise der chemischen Botenstoffe von Nervenzellen (Neurotransmittern) und bestimmter äußerer Reizkonstellationen, die ein Verhalten beeinflussen, reicht aber nicht aus, die darüberliegenden Ebenen der neuroanatomischen Schaltpläne und des aus ihnen resultierenden Verhaltens zu verstehen: „das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile” (Nicolai Hartmann). Häufig wird in den Wissenschaften von einem Emergenzverhältnis zwischen Mikro- und Makroebenen gesprochen.
2. Zu den proximaten Ursachen gehören auch jene Gründe, die sich aus den Entwicklungsprozessen (der Ontogenese) des Individuums herleiten lassen, die also durch bestimmte Vorerfahrungen (zum Beispiel Lernen) beeinflusst sind. Auch Verhaltensweisen, die auf bestimmte Reifungsprozesse zurückgeführt werden können (beim Menschen zum Beispiel die so genannten Trotzphasen und Flegeljahre, bei Tieren Beißhemmung und Zugunruhe), können unter dem Gesichtspunkt proximater Ursachen für Verhalten betrachtet werden.
Die ultimaten Ursachen für Verhalten
Die ultimaten Ursachen für Verhalten kann man auch als die evolutionsbiologischen Zusammenhänge bezeichnen. Sie werden häufig auch grundlegende Ursachen genannt.
3. Zu den ultimaten Ursachen gehört der Anpassungswert eines Verhaltens, also die Frage nach dem Nutzen für das Individuum.
Während die proximaten Ursachen zum Beispiel durch genaue Beobachtung, durch neurophysiologische Untersuchungen oder Attrappenexperimente häufig empirisch abgesichert werden können, stellen Aussagen zum Nutzen eines Verhaltens häufig nur mehr oder weniger plausible Hypothesen dar, die durch Experimente schwierig zu überprüfen sind.
4. Zu den ultimaten Ursachen gehört ferner die Phylogenese, jene Gründe also, die im Verlauf der Stammesgeschichte das Entstehen der betreffenden Verhaltensweise begünstigt haben. Sie beziehen sich stets auf einen Selektionsvorteil, den das Verhalten für das Individuum oder dessen Vorfahren zur Folge hatte.
Nach Darwin erfolgt der Artenwandel im Verlauf der Stammesgeschichte infolge von Variabilität und Selektion. Durch zufällige Mutationen entstehen neue Varianten (Mutanten); im Rahmen von ökologischen Grenzen fördert oder behindert die Selektion diese Mutanten über die Anzahl fortpflanzungsfähiger Nachkommen. Da viele Merkmale (z. T. auch stammesgeschichtlich alte Vorbedingungen) im Verlauf der Evolution bestehen bleiben, besteht jeder Organismus aus unterschiedlich alten Merkmalen; dies gilt für den Bauplan und für Leistungen des Verhaltens gleichermaßen. Durch eine Rekonstruktion der stammesgeschichtlichen Vorbedingungen lässt sich mitunter das-so-und-nicht-anders-Sein von vielen (Verhaltens-) Merkmalen deuten.
Bei der Frage nach dem Entstehen von Verhalten im Verlauf der Phylogenese spielt der Artenvergleich eine zentrale Rolle, also der Vergleich von Tierarten, aber auch der Tier-Mensch-Vergleich. Durch reine Verhaltensbeobachtung können stammesgeschichtliche Zusammenhänge meist aber nur in Bezug auf kleinere taxonomische Einheiten festgestellt werden; diese Vorgehensweise ist daher nur auf der Ebene von Ordnungen, Familien und Gattungen sinnvoll. Ein Beispiel hierfür ist der Vergleich der Mimik von Menschenaffen und Menschen. In der Humanethologie gelten auch kulturunabhängige Gemeinsamkeiten aus dem Kulturenvergleich als Hinweise auf die Möglichkeit angeborener Verhaltensweisen (siehe z. B. Universalien der Musikwahrnehmung).
Verhaltensweisen sind oft bei Tieren, deren Nervensystem eine einfachere Struktur hat, klarer und leichter analysierbar. Auf dieser Grundlage sind dann Untersuchungen möglich, ob und in welcher Weise ähnliche Leistungsqualitäten bei höheren Organismen und beim Menschen vorhanden sind – und durch welche Leistungsqualitäten sich eine Tierart von anderen und der Mensch vom Tierreich abhebt. Diese Aspekte werden im Rahmen der Theorie von Konrad Lorenz u.a. in seinem Buch Die Rückseite des Spiegels behandelt. Sie bezieht sich auf phylogenetische Zusammenhänge von Verhaltensleistungen in Bezug auf die Großsystematik.
Erweiterung auf Zellen, Organe und soziale Gruppen
1985 stellte Nikolaas Tinbergen im Rückblick fest, die genaue Abgrenzung seiner vier Fragen „hat die Klarheit unseres wissenschaftlichen Denkens über das Verhalten gefördert – und gewiss auch ganz allgemein über Lebensvorgänge.“[2] Es habe sich nämlich als nützlich erwiesen, die Frage nach den proximaten und ultimaten Ursachen nicht nur auf den von der Ethologie und der Soziobiologie bevorzugten Ebenen des Individuums und der Gruppe zu untersuchen, sondern generell auf alle Lebensphänomene anzuwenden, also auch auf die Funktionen der Zellen und der Organe sowie auf gesellschaftliche Prozesse:
Verursachungen Ontogenese Anpassungswert Phylogenese a) Molekül b) Zelle c) Organ d) Individuum e) Familie+Kind f) Gruppe g) Gesellschaft Diesem Raster lassen sich alle nicht-anthropologischen Life Sciences und Biowissenschaften (Zeilen a bis f) sowie alle Humanwissenschaften (Zeilen a bis g) zuordnen. Die kursiv gedruckten Konzepte der Tabelle sind auch Gegenstand der Geisteswissenschaften (Interdisziplinarität, Transdisziplinarität).
Beispiele
Katz’ und Maus
Warum flüchtet eine Maus vor der Katze in ihr Loch?
Unmittelbare (proximate) Ursache für die Fluchtreaktion der Maus ist das Erscheinen der Katze. Der biologische Zweck (die ultimate Ursache) der Fluchtreaktion ist hingegen darin zu sehen, dass sich im Verlauf der Evolution ein vererbbares Verhaltensprogramm entwickelt hat, das dazu beiträgt, die Reproduktionschancen der Maus zu erhöhen.
Infantizid bei Löwen
Warum bringt das neue Alpha-Männchen eines Löwenrudels alle Jungtiere um?
Wird ein Rudelführer von einem jüngeren und kräftigeren Löwen-Männchen verdrängt, so tötet der neue Rudelführer häufig alle Jungtiere. Dieser Infantizid bei Löwen wird in aller Regel soziobiologisch interpretiert: Der erfolgreiche Löwe könne auf diese Weise rascher eigenen Nachwuchs zeugen.
Dies ist ein alleiniger Verweis auf die ultimaten Ursachen des Verhaltens. Die proximaten Ursachen (die hormonellen, neurologischen oder sonstigen physiologischen Ursachen sowie die äußeren Auslöser) werden hingegen kaum je erwähnt, da sie bisher offenbar nicht detailliert analysiert wurden.
Lächelndes Grüßen
Warum lächelt man, wenn man gute Bekannte trifft?
Die unmittelbare (proximate) Ursache ist ein psychologisch erklärbarer Vorgang: man freut sich, die guten Bekannten zu sehen. Die ultimate Ursache des Lächelns sind hingegen bestimmte angeborene Bewegungsmuster der Gesichtsmuskulatur, die es uns ermöglichen, eine Begegnung spontan als vermutlich ungefährlich einzuschätzen.
Soziale Fellpflege
Warum zeigen Angehörige einzelner Primatenarten ihre Zuneigung durch so genanntes Lausen (mit anderen Worten: soziale Fell- und Hautpflege) und Küssen bzw. warum so und nicht anders?
- ultimate Zusammenhänge:
Phylogenese: Brutpflege (eine Form des einseitigen Altruismus) und das Eltern-Kind-Band der (Säugetier-) Vorfahren der heutigen Primaten waren nach Irenäus Eibl-Eibesfeldt stammesgeschichtliche Vorbedingungen für die Evolution sozialer individualisierter Bindungen zwischen Adulten, sowie des so genannten reziproken Altruismus. Elemente des Brutpflegeverhaltens fanden im Rahmen dieser evolutionären Entwicklung Verwendung als sozial freundliche Verhaltensweisen (z. B. soziale Fell- und Hautpflege und Kuss).
Der ökologische Anpassungswert: Soziale Zusammenschlüsse sind zweckvoll z. B. beim Schutz vor Beutegreifern, kollektiver Jagd und Bautätigkeiten (Bsp. für den letzten Punkt: soziale Insekten).
Der innerartliche Anpassungswert: Freundliche Verhaltensweisen helfen Bindungen zu stiften und zu erhalten als Voraussetzung für gegenseitige Unterstützungen z. B. bei der Brutpflege (Bruthelfer) oder bei Auseinandersetzungen zwischen Gruppenmitgliedern.
- proximate Zusammenhänge:
Verursachungen: Der Endorphinspiegel steigt bei Sender und Empfänger während der sozialen Fell- und Hautpflege. – Freundliche Verhaltensweisen sind Gegenspieler (Antagonisten) der Aggression.
Ontogenese: Sozial isoliert aufgewachsene Primaten (z. B. Harlow-Versuche mit Rhesusaffen; Menschen, die in Waisenhäusern aufgewachsen sind und hospitalisierte Kinder) können ihr sozial freundliches Verhaltensrepertoire nicht immer situationsadäquat einsetzen.
Literatur
- Norbert Bischof: Struktur und Bedeutung. 1998, ISBN 3456830807 (Systemtheorie für Psychologen, mit einer Einführungen u.A. in die proximate und ultimate Systemanalyse, die Informationstheorie, die Operatorenrechnung, die Z-Transformation und die Semiotik)
- Konrad Lorenz: Biologische Fragestellungen in der Tierpsychologie. In: Zeitschrift für Tierpsychologie, Band 1. 1937, S. 24–32.
- Konrad Lorenz: Über die Bildung des Instinktbegriffs. In: Die Naturwissenschaften, Band 25. 1937, S. 289–300, 307–318, 324–331.
- Konrad Lorenz: Über den Begriff der Instinkthandlung. In: Folia Biotheoretica, Band 2. 1937, S. 17–50.
- Nikolaas Tinbergen: The Study of Instinct. Clarendon Press, Oxford 1951.
- Nikolaas Tinbergen: On Aims and Methods of Ethology. In: Zeitschrift für Tierpsychologie, Band 20. 1963, S. 410–433.
Quellen
- ↑ N. Tinbergen 1951 und 1963
- ↑ N. Tinbergen: Watching and wondering. In: Donald A. Dewsbury: Studying animal behavior. Autobiographies of the Founders. Chicago University Press, 1985.
Weblinks
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