Unerwünschte Wirkung

Unerwünschte Wirkung

Eine Nebenwirkung ist eine neben der beabsichtigten Hauptwirkung eines Arzneimittels auftretende Wirkung. Synonym wird im allgemeinen Sprachgebrauch der Begriff unerwünschte Arzneimittelwirkung (UAW) verwendet.[1][2] Nach der gesetzlichen Definition sind Nebenwirkungen die beim bestimmungsgemäßen Gebrauch eines Arzneimittels auftretenden schädlichen unbeabsichtigten Reaktionen.[3]
In manchen Fällen können die neben der Hauptwirkung auftretende Wirkungen auch einen positiven Effekt auf ein Krankheitsgeschehen haben.[1]

Im weiteren Sinne kann auch die Entwicklung einer Abhängigkeit zu den Nebenwirkungen gezählt werden. Abzugrenzen sind Nebenwirkungen von den nach Überdosierung (kein bestimmungsgemäßer Gebrauch) auftretenden Wirkungen und von Wechselwirkungen mit anderen Substanzen.

„Wenn behauptet wird, dass eine Substanz keine Nebenwirkung zeigt, so besteht oftmals der Verdacht, dass sie auch keine Hauptwirkung hat.“

Gustav Kuschinsky: Deutscher Pharmakologe (1904−1992)

Die Wirkung und den Wirkmechanismus untersucht die Pharmakodynamik.

Inhaltsverzeichnis

Einteilung

Man kann Nebenwirkungen unterteilen in:

Je nach Schwere der Erkrankung müssen der Arzt sowie der Patient selbst abwägen, ob sich das Risiko der Nebenwirkungen mit dem Nutzen des Medikamentes aufwiegen lässt.

Zuweilen können Nebenwirkungen erwünschte Effekte haben. Beispielsweise ist die zellwachstumshemmende (antiproliferative) Wirkung der Glucocorticoide bei Patienten mit Psoriasis gewünscht, da einer Schuppenbildung entgegen gewirkt wird. Bei Patienten mit einem endogenen Ekzem ist diese Wirkung unerwünscht, da sie zu einem Dünnerwerden (Atrophie) der Haut führt.[1]

Unter dem Aspekt der Pharmakovigilanz bedeutsam ist die Klassifizierung in

  • Unvorhergesehene Nebenwirkungen: solche sind zuvor noch nicht beobachtet worden und daher nicht in der Zusammenfassung der Merkmale des Arzneimittels (Fachinformation) beschrieben.
  • Schwerwiegende Nebenwirkungen: solche, die tödlich oder lebensbedrohend sind, eine stationäre Behandlung oder Verlängerung einer stationären Behandlung erforderlich machen, zu bleibender oder schwer wiegender Behinderung oder Invalidität führt oder sich in einer angeborenen Fehlbildung (kongenitale Anomalie) bzw. einem Geburtsfehler äußern. In klinischen Studien wird auch der Begriff „Schwerwiegendes unerwünschtes Ereignis“ verwendet.

Für sie gelten besondere Dokumentations- und Meldepflichten.[4][5]

Arzneimittelsicherheit

Pharmaunternehmen sind verpflichtet, alle bekannt gewordenen Nebenwirkungen eines Medikaments zu sammeln, auszuwerten und ggf. in der Zusammenfassung der Merkmale des Arzneimittels (in Deutschland: Fachinformation) und im Beipackzettel anzugeben. Gemäß § 84 Arzneimittelgesetz (AMG) haftet der Hersteller für alle nicht in diesen Produktinformationen angegebenen Nebenwirkungen.

Stellt ein Patient nach der Anwendung eines Medikamentes unerwünschte Veränderungen fest, sollte er dies unbedingt seinem Arzt oder Apotheker mitteilen. Dieser meldet die Nebenwirkung (auch Verdachtsfälle) an die Arzneimittelkommission oder die zuständige Bundesbehörde. Patienten sollten das Medikament hingegen niemals eigenmächtig absetzen oder die festgelegte Dosis ändern.

Das Spektrum möglicher Nebenwirkungen von Medikamenten reicht von relativ harmlosen Begleiterscheinungen (z. B. Müdigkeit) bis hin zu Wirkungen, deren Schaden den Nutzeffekt des Medikamentes übersteigt. Eine große Zahl an schwersten unerwünschten Arzneimittelwirkungen trat in den 1960er Jahren nach Einnahme des Schlafmittels Thalidomid (Contergan) in der Schwangerschaft auf, das schwere körperliche Fehlbildungen des Embryos auslöste und deshalb vom Markt genommen werden musste. Weitere schwere Fälle waren 1982 das Rheumamittel „Coxigon“ und 1983 das Schmerzmittel „Zomax“ (deutscher Vertrieb: Cilag GmbH), letztere mit fünf Todesfällen in den USA.

Beschreibung der Nebenwirkungen in der Produktinformation

Die Beschreibung des Auftretens von Nebenwirkungen ist hinsichtlich der Benennung, Strukturierung und Häufigkeitsangaben einheitlich festgelegt (Terminologie, Organklassensystem und Häufigkeitsdefinition nach MedDRA). Für die Häufigkeitsangaben zu Nebenwirkungen werden folgende Kategorien zugrunde gelegt:[6]

  • Sehr häufig: mehr als 1 Behandelter von 10
  • Häufig: 1 bis 10 Behandelte von 100
  • Gelegentlich: 1 bis 10 Behandelte von 1.000
  • Selten: 1 bis 10 Behandelte von 10.000
  • Sehr selten: weniger als 1 Behandelter von 10.000
  • Nicht bekannt: Häufigkeit auf Grundlage der verfügbaren Daten nicht abschätzbar 

Seltene und sehr seltene Nebenwirkungen machen sich erst ab einer höheren Zahl von Anwendungen (Einnahmedauer, Patientenzahl) bemerkbar. Aus statistischen Gründen müssen zum Beispiel für Nebenwirkungen mit einer Häufigkeit von 1:1 Million etwa sechs Millionen Anwendungen beobachtet werden. Dadurch besteht bei neuen oder wenig verbreiteten Arzneimitteln ein erhöhtes Risiko für bis dahin unbekannte Nebenwirkungen.

Gesellschaftliche Bedeutung

Jeder zweite Todesfall durch unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) wäre vermeidbar.

Überträgt man die Daten einer Studie aus Norwegen auf Deutschland, so sterben jedes Jahr mehr als 50.000 Menschen an unerwünschten Arzneimittelwirkungen. Die prospektive norwegische Studie an einer dortigen Klinik ergab, dass mehr als 18 % der dort innerhalb von zwei Jahren aufgetretenen Todesfälle durch unerwünschte Arzneimittelwirkungen bedingt waren und dass ohne Autopsie gerade mal 8 von 133 durch unerwünschte Arzneimittelwirkungen bedingten Todesfälle auch als solche erkannt wurden.[7] Volkswirtschaftlicher Schaden eines (Unfall-)Toten beträgt nach EU-Berechnungen etwa eine Million Euro.[8]. Eine Auswertung von 3664 Klinikeinweisungen durch unerwünschte Arzneimittelwirkungen zwischen 2000 und 2006 stellte Petra Thürmann vom Lehrstuhl für klinische Pharmakologie der Universität Witten/Herdecke vor. 530 der UAW waren durch Insuline und dessen Analoga verursacht, 446 durch NSAR, 437 durch Phenprocoumon, 316 durch Digitalis (90% durch Digitoxin), 285 durch Beta-Blocker, 267 durch orale Antidiabetika und 262 durch Diuretika. 59 % der UAW traten bei Patienten über 70 Jahre auf.[9]

Die gesetzlichen Krankenversicherungen wenden jährlich fast 125 Mio. Euro für die Behandlung gastrointestinaler Nebenwirkungen der NSAR auf. 1.100 bis 2.200 Menschen sterben in Deutschland jährlich an gastrointestinalen Komplikationen (Schätzungen). Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen.[10][11]

Gegenwärtig geht man davon aus, dass bei circa 5 % der medikamentös behandelten Patienten UAW auftreten und dass bei etwa 3-6 % aller Patienten, die auf internistischen Stationen aufgenommen werden (geschätzt 50.000–300.000), eine UAW-Ursache für diese Aufnahme ist. Etwa 2,3 % der aufgenommenen Patienten versterben als direkte Auswirkung der UAW. Unerwünschte Wirkungen waren somit für den Tod von 0,15 % der im Krankenhaus behandelten Patienten verantwortlich (0,1 bis 0,2 %). 49,6 % der tödlichen UAWs wurden mit einer inkorrekten Anwendung der Arzneimittel begründet.

Neben der Belastung für die Patienten durch UAW ist auch die ökonomische Belastung für das Versorgungssystem erheblich: Für Deutschland wurden die Kosten für UAWinduzierte Krankenhausbehandlungen auf 350 bis 400 Mio. € jährlich geschätzt, die Kosten können 5-9 % der Gesamtkrankenhauskosten ausmachen.[12]

Laut den Resultaten einer prospektiven Beobachtungsstudie[13] ist jede 16. stationäre Patientenbehandlung Folge einer Arzneimittelnebenwirkung. Jedes Jahr ergäben sich daher Kosten von umgerechnet über 700 Millionen Euro für den National Health Service (NHS) in Großbritannien. Ein Forscherteam um Munir Pirmohamed von der University of Liverpool wertete die Aufnahmedaten von 18.820 Patienten über 16 Jahre aus, die im Laufe eines halben Jahres in zwei Kliniken behandelt wurden. Die Autoren versuchten alle Fälle zu erkennen, in denen eine Arzneimittelnebenwirkung die definitive, wahrscheinliche oder mögliche Ursache der Klinikaufnahme war. Dieser Zusammenhang wurde bei 1225 Patienten gesehen, was einer Prävalenz von 6,5 % entspricht. Entsprechende Ergebnisse gingen laut ihrer Darstellung auch aus früheren Untersuchungen zur gleichen Fragestellung hervor.[14]

Nebenwirkung wird zur Hauptwirkung

Nebenwirkungen können auch durchaus zur Hauptwirkung bzw. Indikation werden. Der Arzneistoff Sildenafil wurde zum Beispiel ursprünglich als Blutdrucksenker entwickelt, wozu er sich als wenig geeignet erwies. Dafür zeigte er „Neben“wirkungen ganz anderer Natur, die entsprechend zur neuen Hauptwirkung wurden. So wurde Sildenafil 1998 als Viagra® zunächst zur Behandlung der erektilen Dysfunktion („Potenzmittel“) auf den Markt gebracht − die Wirkung auf den Blutdruck wurde zur unerwünschten Nebenwirkung. 2005 folgte die Zulassung als Revatio® für die Behandlung eines anormal hohen Blutdruck in den Lungenarterien (Pulmonale Hypertonie).

Ein weiteres Beispiel ist der Arzneistoff Bevacizumab, zugelassen als Avastin® (Hersteller Hoffmann-La Roche) zur Behandlung bestimmter Krebsformen. Ein amerikanischer Arzt entdeckte durch Zufall, [15] dass der Wirkstoff intravitreal (in den Glaskörper des Auges) gespritzt die altersbedingte feuchte Makuladegeneration (AMD) aufhalten kann. Mangels einer therapeutischen Alternative wurde Bevacizumab seitdem im „Off-Label-Use“ zur Behandlung dieser Erkrankung eingesetzt − die „Nebenwirkung“ wurde zur beabsichtigten Hauptwirkung. Seitdem die mit Roche wirtschaftlich eng verbundene Firma Novartis den chemisch nah verwandten Arzneistoff Ranibizumab (Lucentis®) − zu einem deutlich höheren Preis − speziell für die Indikation AMD in den Markt brachte, fehlt die juristischen Grundlage für einen Off-label-Gebrauch von Bevacizumab bei AMD.

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. a b c Mutschler, Geisslinger, Kroemer, Schäfer-Korting, Mutschler Arzneimittelwirkungen, 9. Auflage, 2008, ISBN 380471952X, S. 91 f
  2. Nebenwirkung im Roche Online-Lexikon, eingesehen 24. April 2009
  3. z. B. § 4 dArzneimittelgesetz; Richtlinie 2001/83/EG Artikel 1 (11)
  4. § 63b, § 63c dArzneimittelgesetz
  5. § 12, § 13, § 1 GCP-Verordnung
  6. Text für die Packungsbeilage nach: Wie sollen die Häufigkeiten für Nebenwirkungen in der Produktinformation angegeben werden?, Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, eingesehen am 24. April 2009
  7. Abgewandelt zitiert nach "Unerwünschte Arzneimittelwirkungen", ifap@PRAXIS, 2007, dort zitiert nach Sonja Böhm, Einführungspressekonferenz i:fox (R), 1. August 2006, Berlin, Veranstalter: ifap GmbH
  8. Zitiert nach Eine Frage des Überlebens, Süddeutsche Zeitung, 16. Januar 2007, S. V2/2
  9. Abgewandelt zitiert nach Analyse der Pharmakovigilanz-Daten, Ärzte-Zeitung, 17. Januar 2007, S. 4
  10. Zitiert nach "Reduziert den Schmerz, schont die Organe", Der Allgemeinarzt 9/2007, S. 39
  11. Zitiert nach "tNSAR versus Coxibe: Was ist gesichert?" - Rund 2.200 Tote jährlich durch Komplikationrn im GI-Trakt, Ärztlicher Praxis, 22, 29. Mai 2007, S. 8
  12. Sachverständigenrat für die Entwicklung des Gesundheitswesens, Gutachten, BMG 2007 [1]
  13. BMJ 2004; 329: S. 15-19
  14. Nach: „An Medikamenten sterben noch immer zu viele Menschen, Telepolis, 14. Juli 2004, Heise Zeitschriftenverlag [2]
  15. http://www.3sat.de/3sat.php?http://www.3sat.de/nano/cstuecke/104425/index.html

Weblinks

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