Vernichtungslager Kulmhof

Vernichtungslager Kulmhof
Karte des heutigen Polens

Das Vernichtungslager Kulmhof, auch als Vernichtungslager Chełmno bekannt,[1] befand sich in Chełmno nad Nerem (auf Deutsch Kulmhof an der Nehr) nahe der Stadt Dąbie (unter der Besatzung Eichstädt (Wartheland)) in der Zeit des Zweiten Weltkriegs im besetzten Polen. Das Vernichtungslager der Nationalsozialisten lag etwa 130 km östlich von Poznań (dt: Posen, damals annektiert) (zwischen 1939 und 1945 mit den Verwaltungsbezeichnungen Landkreis Warthbrücken im Reichsgau Wartheland) und nordwestlich von Łódź (Lodsch).

Das Vernichtungslager wurde hauptsächlich zwischen Dezember 1941 und März 1943 als Vernichtungsstätte benutzt, danach geräumt und nochmals im Sommer 1944 zur Ermordung von Juden des so genannten Ghettos Litzmannstadt verwendet.

Inhaltsverzeichnis

Entstehung der Vernichtungsstätte

Am 16. Juli 1941 übersandte Rolf-Heinz Höppner, der Führer des SD-Leitabschnitts Posen, einen Aktenvermerk an Adolf Eichmann. Darin wurde in Erwägung gezogen, nicht arbeitseinsatzfähige Juden „durch irgendein schnellwirkendes Mittel zu erledigen.“ [2] Eine derartiges „schnellwirkendes Mittel“, nämlich Vergasung mittels Kohlenstoffmonoxidgas aus Stahlflaschen, setzte ein Sonderkommando unter Herbert Lange schon seit Ende 1939 im Warthegau ein, um Insassen psychiatrischer Anstalten zu ermorden. Die Suche nach einem Ort zur Tötung von nicht zur Zwangsarbeit einsetzbaren Juden begann im Kreis Warthbrücken (pl. Koło) noch im Juli 1941[3].

Als Vernichtungsstätte wurde im Dorf Kulmhof ein unbewohntes Gutshaus nebst Park und Kornspeicher sowie Teile einer angrenzenden Gärtnerei gepachtet; das „Schlossgelände“ wurde mit einem Bretterzaun abgeschirmt. Im Oktober und November 1941 trafen die Angehörigen des Sonderkommandos ein. Seit dem 8. Dezember 1941 wurden zunächst Juden aus den benachbarten Amtsbezirken Koło, Dąbie, Sompolno, Kłodawa, Babiak und Kowale Panskie sowie aus dem österreichischen Burgenland stammende Roma und Sinti in Gaswagen ermordet[4].

Befehlsgewalt und Verantwortlichkeiten

Erster Kommandant des Vernichtungslagers war Herbert Lange, der im Wartheland und in Soldau bereits Gaswagen zur Ermordung Behinderter eingesetzt hatte.[5] Er wurde im März 1942 von Hans Bothmann abgelöst. Alle leitenden Positionen wurden von den 15-20 Männern des „Sonderkommandos Kulmhof“ eingenommen. Die personelle Hoheit über die eingesetzten Sicherheits- und Ordnungspolizeibeamten lag zwar beim HSSPF Wilhelm Koppe. Aber Gauleiter Arthur Greiser übertrug die Verantwortung der gesamten organisatorischen und finanziellen Abwicklung dieser „regionalen Endlösung“ zwei Beamten seiner Statthalterei, so dass dieser Massenmord durch „arbeitsteiliges Handeln“ von SS und Verwaltung zustande kam[6].

Tatablauf

Zahlreiche Aussagen von Augenzeugen und Geständnisse von Tätern zeichnen ein detailreiches Bild des Geschehens.[7]

Die Männer des Sonderkommandos wurden unterstützt von 80 bis 100 Schutzpolizisten, die vom Bahnhof einer Kleinbahn aus den bewachten Transport mit Lastkraftwagen in das „Schloss“ nach Kulmhof durchführten. Im Schlosshof wurde den Ankömmlingen eine Rede gehalten, dass sie entlaust und gebadet würden, um dann zum Arbeitsdienst nach Deutschland zu kommen. Anschließend betraten die Opfer das Innere des Schlosses. Sie mussten sich entkleiden und wurden zu einer Rampe getrieben, an deren Ende ein Gaswagen stand. Nachdem man die Opfer unter Peitschenschlägen dort hineingetrieben hatte, verschloss man die Türen. Der Fahrer kroch unter das Fahrzeug, schloss den Verbindungsschlauch vom Auspuff ins Wageninnere an und startete den Benzinmotor. Durch die eindringenden Abgase erstickten die Menschen innerhalb von zehn Minuten. Anschließend fuhr der Fahrer die Leichen in ein Lager im Wald, wo sie zunächst in Massengräbern bestattet wurden.

Opferzahl

Polnische Schätzungen sprachen von 300.000 Opfern; diese Zahl wird heute als stark überhöht eingeschätzt.[8]

Kulmhof wurde hauptsächlich ab Dezember 1941 bis zum April 1943 genutzt. Ab September 1942 kamen meist nur noch kleinere Transporte an. Wie aus dem Korherr-Bericht hervorgeht, wurden durch die Lager im Warthegau bis Ende 1942 145.301 Juden „durchgeschleust“. Die Gesamtzahl der jüdischen Opfer wird mit 152.477 Opfern berechnet.[9] Hinzuzurechnen sind über 4.000 Sinti und Roma sowie eine unbekannte Anzahl von russischen Kriegsgefangenen und weiterer nichtjüdischer Personen[10].

Im April 1943 wurde die Vernichtungsstätte aufgelöst. Das so genannte „Schloss“ wurde gesprengt. Gauleiter Arthur Greiser bedankte sich bei den Mitgliedern des Sonderkommandos mit einem Geldgeschenk, lud sie zu einem Sonderurlaub auf sein Gut ein und lobte in einem Schreiben an Heinrich Himmler die Männer, die „treu und brav und in jeder Beziehung konsequent die ihnen übertragene schwere Pflicht erfüllt“ hätten.[11].

Bei der Auflösung des Ghettos Litzmannstadt wurde die Vernichtungsstätte Kulmhof nochmals benutzt. Anfang April 1944 kamen die Männer des Sonderkommandos zurück. Im Wald wurden zwei Baracken aufgestellt. Die Gaswagen fuhren nur ein kurzes Stück zu den vorbereiteten Gruben, in denen sich zwei gemauerte Erdöfen befanden. Zwischen dem 23. Juni und 14. Juli 1944 wurden 7.176 Juden aus Litzmannstadt getötet. Danach wurden die Juden aus dem Ghetto ausschließlich nach Auschwitz deportiert. Das Vernichtungslager Kulmhof wurde abgebaut, die Spuren verwischt und die letzten Arbeitshäftlinge in der Nacht vom 17. auf den 18. Januar 1945 nach vergeblicher Gegenwehr im Speicher verbrannt.

Geheimhaltung

Im Sommer 1942 unternahm SS-Standartenführer Paul Blobel Versuche, die Leichen zu verbrennen und die Knochen zu zerkleinern. Die gewonnenen Erfahrungen wurden später bei der Sonderaktion 1005 zur Verwischung der Mordtaten genutzt. Rudolf Höß besichtigte im September 1942 die Leichenbeseitigung in Kulmhof.

Das Tun ließ sich jedoch vor den 300 Dorfbewohnern nicht verheimlichen. Am 19. Januar flüchtete ein Arbeitshäftling, informierte den Gemeinderabbiner der Ortschaft Grabow und gelangte ins Warschauer Ghetto. Das umlaufende Gerücht, die aus Litzmannstadt deportierten Juden würden mit Giftgas umgebracht, vermerkte der Wehrmachtsangehörige Wilm Hosenfeld in seinem Tagebuch und wurde sogar am 2. Juli 1942 in der New York Times veröffentlicht[12].

Strafverfolgung

Gedenkstein mit der Aufschrift Pamiętamy (poln. für "wir erinnern uns" bzw. "wir gedenken")

Die beiden ehemaligen Gefangenen Shimon Srebnik (* 1930 in Polen † 2006 in Nes Ziona, Israel) und Mordechaï Podchlebnik überlebten den Krieg. U. a. im Film Shoah von Claude Lanzmann berichteten sie über das Vernichtungslager und die Täter.

Arthur Greiser wurde am 9. Juli 1946 in Posen zum Tode verurteilt und am 21. Juli 1946 erhängt. Der von ihm mit der Organisation des Vernichtungslagers beauftragte Ernst Kendzia wurde im Zuchthaus Waldheim am 4. November 1959 hingerichtet. Andere Mitarbeiter der Statthalterei wurden in der Bundesrepublik nicht angeklagt, weil man die Verantwortung für das Vernichtungslager bei der Sicherheitspolizei vermutete. Der HSSPF Wilhelm Koppe lebte bis 1960 unter falschem Namen, wurde 1962 gegen eine Kautionszahlung frei gelassen, später als verhandlungsunfähig erklärt und starb unbestraft im Jahre 1975.

Die beiden Lagerkommandanten, Herbert Lange und Hans Bothmann, konnten nicht mehr zur Verantwortung gezogen werden; Paul Blobel war wegen anderer Taten hingerichtet worden. Als leitende Mitarbeiter der Staatspolizeistelle Litzmannstadt wurden Otto Bradfisch und sein Referent Günter Fuchs 1963 in Hannover zu hohen Haftstrafen verurteilt. Weitere Verfahren gegen frühere Polizeibeamte liefen in Polen und in der Bundesrepublik, wo 1962 eine Hauptverhandlung beim Landgericht Bonn gegen zwölf Beteiligte begann[13].

Gedenken

In der Nachkriegszeit wurden im ehemaligen Waldlager Monumente und Erinnerungstafeln angebracht. Später entstanden auf dem Hofgelände ein Museumsgebäude sowie Ausstellungsräume im Waldlager.

Siehe auch

Literatur

  • Adalbert Rückerl (Hrsg.): Nationalsozialistische Vernichtungslager im Spiegel deutscher Strafprozesse. Belzec, Sobibor, Treblinka, Chelmno. München 1977 (dtv 2904), ISBN 3-423-02904-8.
  • Shmuel Krakowski: Das Todeslager Chelmno / Kulmhof - Der Beginn der 'Endlösung'. Wallstein Verlag, Göttingen 2007, ISBN 978-3-8353-0222-8.
  • Israel Gutman (Hrsg.): Enzyklopädie des Holocaust - Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden, Piper Verlag, München/Zürich 1998, 3 Bände, ISBN 3-492-22700-7.
  • Peter Klein: Kulmhof/Chelmno. In: Wolfgang Benz, Barbara Distel (Hrsg.): Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Band 8, München 2008, ISBN 978-3-406-57237-1, S. 301-328
  • Peter Klein: Massentötungen durch Giftgas im Vernichtungslager Chelmno. In: Günther Morsch, Bertrand Perz: Neue Studien zu nationalsozialistischen Massentötungen durch Giftgas. Berlin 2011, ISBN 978-3-940938-99-2

Weblinks

 Commons: Vernichtungslager Kulmhof – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Israel Gutman (HG.): Enzyklopädie des Holocaust; Piper Verlag, München 1998, Band 1, Seite 280f
  2. Loewy, Hanno; Schoenberner, Gerhard: Unser einziger Weg ist Arbeit. Wien 1990, ISBN 3-85409-169-9, S. 169 / im Internet in Chronologie des Holocaust (Zugriff 19. September 2009).
  3. Peter Klein: Kulmhof/Chelmno. S. 305. In: Wolfgang Benz, Barbara Distel (Hrsg.): Der Ort des Terrors. Band 8, München 2008, ISBN 978-3-406-57237-1
  4. Peter Klein: Kulmhof/Chelmno. S. 306
  5. Henry Fiedlander: Der Weg zum NS-Genozid..., S. 454
  6. Peter Klein: Kulmhof/Chelmno. S. 314
  7. Eugen Kogon et al. (Hrsg.): Nationalsozialistische Massentötungen durch Giftgas. Eine Dokumentation. Fischer Tb, Frankfurt 1986, ISBN 3-596-24353-X , S. 114 – 129
  8. Henry Fiedlander: Der Weg zum NS-Genozid. Von der Euthanasie zur Endlösung. Berlin 1997, ISBN 3-8270-0265-6, S. 453
  9. Peter Klein: Massentötungen durch Giftgas im Vernichtungslager Chelmno. In: Günther Morsch, Bertrand Perz: Neue Studien zu nationalsozialistischen Massentötungen durch Giftgas. Berlin 2011, ISBN 978-3-940938-99-2, S. 183.
  10. Peter Klein: Kulmhof/Chelmno. S. 310
  11. Peter Klein: Kulmhof/Chelmno. S. 314
  12. Peter Klein: Kulmhof/Chelmno. S. 321 und S. 301
  13. Peter Klein: Kulmhof/Chelmno. S. 321f

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