Vitruvsche Säulenordnung

Vitruvsche Säulenordnung
Marcus Vitruvius Pollio (Renaissance-Portrait)

Marcus Vitruvius Pollio (auch: Vitruv oder Vitruvius) war ein römischer Architekt, Ingenieur und Schriftsteller des 1. Jahrhunderts v. Chr.

Inhaltsverzeichnis

Biographie

Über das Leben Vitruvs gibt es nur spärliche Angaben. Weder die genauen Lebensdaten noch sein vollständiger Name sind gesichert. Einig ist man sich über das nomen Vitruvius Maximus (auch nur „Vitruv“), dagegen ist das praenomen Marcus ebenso fraglich wie das cognomen Pollio, das ausschließlich von Cetius Faventinus erwähnt wird. Die meisten biographischen Daten sind Vitruvs eigenem Werk entnommen und somit recht verlässlich.

Er wurde wahrscheinlich um 70–60 v. Chr. als freier römischer Bürger in Kampanien geboren. Als junger Mann genoss er nach eigenen Angaben eine Architektenausbildung, die zur damaligen Zeit auch das Ingenieurwesen umfasste. Im Bürgerkrieg war er unter Gaius Iulius Caesar für den Bau von Kriegsmaschinen verantwortlich und zog mit diesem auch nach Spanien, Gallien und Britannien. Nach Caesars Ermordung im Jahr 44 v. Chr. übernahm er die gleiche Rolle auch im Heer von Kaiser Augustus und wurde um 33. v. Chr. aus dem Heeresdienst entlassen. Danach arbeitete er als Architekt und als Ingenieur am Bau des Wassernetzes in Rom, wo er neue Normen für Rohrgrößen und -systeme einführte. Zu seinen Errungenschaften als Architekt gehörten der Bau der Basilika von Fanum Fortunae, dem heutigen Fano. Er beschrieb auch als Erster Töne als eine Bewegung der Luft und erkannte bereits die Wellennatur des Schalls und verglich dessen Ausbreitung mit der von Wasserwellen.

Im Alter verlegte er sich auf das Schreiben und profitierte dabei von einer Pension, die ihm Augustus zugestanden hatte, um seine finanzielle Unabhängigkeit zu garantieren. Zwischen 33 und 22 v. Chr. entstand dann sein Werk, „Zehn Bücher über Architektur“ („De architectura libri decem“). Über das Todesdatum Vitruvs gibt es keinerlei Angaben, was darauf schließen lässt, dass er zu Lebzeiten nur geringe Popularität genoss. Wahrscheinlich starb er etwa um das Jahr 10 v. Chr.  .

Werk

Die „Zehn Bücher über Architektur“ sind das einzige erhaltene antike Werk über Architektur und nach Vitruvs eigenen Angaben auch das erste lateinische Werk überhaupt, das eine umfassende Darstellung der Architektur zum Ziel hat. Die Bücher sind dem Kaiser Augustus als Dank für dessen Förderung gewidmet. Sie weisen den Charakter eines Lehrbuchs mit literarischen Anklängen auf und gehören somit eher dem Sach- als dem Fachbuchgenre an. Die älteste bekannte Abschrift stammt aus dem 9. Jahrhundert, insgesamt sind über 50 Handschriften der „Zehn Bücher über Architektur“ erhalten. Weitere Schriften Vitruvs sind nicht bekannt.

Entstehungszeit

Die einzigen Anhaltspunkte für eine Datierung liefert ebenfalls das Werk selbst. Anhand der Angaben zu einzelnen römischen Bauwerken lässt sich der Beginn der Abfassung in die Zeit vor 33 v. Chr. datieren, während die Schlussredaktion frühestens in die zwanziger Jahre fällt.

Aufbau

Das Werk umfasst zehn Bücher, die jeweils ein Vorwort mit einer direkten Ansprache an den Kaiser oder einer anekdotenhaften Einführung in das Thema enthalten.

Der Aufbau gliedert sich wie folgt:

  • Buch 1: Ausbildung des Architekten und architektonische Grundbegriffe
  • Buch 2: Baumaterialien
  • Bücher 3 und 4: Tempelbau
  • Buch 5: öffentliche Gebäude
  • Bücher 6 und 7: Privathäuser
  • Buch 8: Wasserleitungen
  • Buch 9: Zeitmessung, Uhren und Gnomonik; Astronomie
  • Buch 10: Maschinen

Inhalt

Die Bücher 1 bis 7 widmen sich der Tätigkeit des Architekten, während sich die Bücher 8 bis 10 mehr dem Ingenieurwesen zuzurechnen sind. Diese Felder bildeten in der Antike eine Einheit. (Im englischen Sprachraum ist noch heute der an die römischen Ursprünge angelehnte Begriff Civil Engineer für den Bauingenieur, im Gegensatz zum nicht-zivilien, d. h. militärischen Ingenieurswesen, in Verwendung. Auch im Deutschen wird der Begriff des Architekten mit dem des Ingenieurs oft gleichgesetzt, so etwa beim Software-Architekten bzw. dem Software-Ingenieur.)

Ausbildung des Architekten

Im ersten Kapitel des ersten Buches legt Vitruv offen, dass das Wissen des Architekten sich aus „fabrica“ (Handwerk) und „ratiocinatio“ (geistiger Arbeit) speise, die es ihm ermögliche über alle Gattungen der Kunst zu urteilen. Für die Rezeption in der Renaissance war Vitruv dadurch die Autorität, um sich aus den mittelalterlichen Zunft- und Bauhüttentraditionen zu lösen und so die personelle Trennung von praktischer Ausführung und theoretischem Plan aufzuheben.

Für die geistige Ausbildung des Architekten stellt Vitruv einen Kanon auf, der die Schulung in den artes liberales vorsieht. Damit überträgt er Ciceros Forderung nach umfassender Bildung des Redners (Rhetorik) auf sein eigenes Fachgebiet, die ihrerseits auf die von den Griechen vertretene Notwendigkeit einer umfassenden Bildung („enkyklios paideia“, ενκυκλιος παιδεια) zurückgeht. Der entsprechende Terminus findet sich in seinem Werk in der Übersetzung encyclios disciplina wieder.

Vitruv rechnet verschiedenste Wissensgebiete, darunter Arithmetik, Geometrie, Geschichte, Musik und Philosophie zu den Fachgebieten, in denen ein Architekt zum Nutzen seiner architektonischen Tätigkeit bewandert sein sollte. Unter anderem erklärt er in seinem Werk Lehrsätze von Platon und Pythagoras und beschreibt, wie Archimedes das nach ihm benannte Prinzip fand und zu welchen Ergebnissen Eratosthenes und Archytas bei Erdvermessungen kamen.

Nach seiner Meinung ist die höchste Stufe der (freien wie bildenden) Kunst der „summum templum architecturae“, also die Architektur selbst. Er setzt damit das Primat der Architektur über die Gattungen der bildenden Kunst fest, das vom Mittelalter bis ins 20.Jahrhundert kanonische Wirkung haben sollte.

Prinzipien der Architektur

In den zehn Büchern über Architektur legt Vitruv verschiedene Kategorien der Architekturtheorie fest, die als ästhetische Begriffe einerseits die architektonische Gestaltung bestimmen sollten, andererseits als Kriterien zur Beurteilung der Architektur dienen sollten.
Unter dem Begriff „venustas“ (Anmut, Reiz oder Schönheit) fasst er die Maxime der Architektur zusammen und unterteilt sie in sechs Grundbegriffe: „ordinatio“, „dispositio“, „eurythmia“, „symmetria“, „decor“ und „distributio“.
„Ordinatio“, „eurythmia“ und „symmetria“ beziehen sich dabei auf die Proportionierung des Gebäudes. „Ordinatio“ steht für eine durchgängige Proportionierung der Teile nach Maßen oder Modulen, „eurythmia“ für die Wirkung der Proportionierung auf den Betrachter und „symmetria“ für den Einklang der einzelnen proportionierten Elemente untereinander. Unter Proportionierung versteht er dabei Verhältnisse ganzer Zahlen zueinander und gibt für die Proportionen der Säule im 4.Buch sogar konkrete Verhältnisse an (z. B. ein Verhältnis von Durchmesser zu Gesamthöhe von 1:7 bei der dorischen Säule). Das Verständnis von Zahl, Geometrie und den Maßverhältnissen in seinem Werk ist anthropologisch geprägt, und so beschreibt er auch Quadrat und Kreis als Formen, in die sich ein aufrecht stehender Mensch einschreiben lasse (der sog. Vitruvianische Mensch).
„Dispositio“ bezieht sich auf den Bauentwurf und seine Darstellungsmöglichkeiten, die er auf Grundriss, Schnitt und perspektivische Ansicht („ichnographia“, „orthographia“ und „scaenographia“) festlegt.
„Decor“ meint die Angemessenheit des gewählten „genus“(s. Säulenordnung) auf bestimmte religiöse Bauaufgaben, wurde aber in der Vitruvauslegung rasch auch auf die weltliche Baukunst bezogen. Für diese spielt auch der Begriff der „distributio“ eine Rolle, denn der Architekt soll nicht nur auf die Bequemlichkeit der Raumverteilung im Grundriss sondern auch auf die Angemessenheit der Aufteilung für den Auftraggeber achten.

Säulenordnungen

Auf das Werk gehen zudem die Vitruvschen Säulenordnungen zurück, ein kanonisches (verbindliches) System von Formen und Proportionen bei Säulen, für die er Proportionen auf dem Grundmaß des Moduls (der Radius an der Basis einer Säule) gibt, nach dem die Maße aller anderen Bauteile bestimmt wurden.
Vitruv verbindet die verschiedenen Ordnungen auch mit bestimmten Bauaufgaben. So sieht er die dorische Ordnung als eine wehrhafte und erste, die ionische als eine weibliche und kultivierte und die korinthische als eine feierliche und erhabene. Er verwendet allerdings den Begriff des „genus, genera“ (Art) der Säulen und nicht etwa „ordo, ordinis“ (Ordnungen), wie sie erst die Architekturtheoretiker der Renaissance formuliert haben.
Wiederaufgegriffen wurden diese Methode des Moduls in der Renaissance und im 20. Jahrhundert.

Quellen

Die „Zehn Bücher über Architektur“ bieten die erste umfassende Behandlung der antiken Technik (Zeitmessung, Baumaschinen, Wasserräder, Kriegsmaschinen), Architektur und Raumgestaltung. Zuvor dürfte es lediglich knappe Kompendien sowie Abhandlungen zu Einzelfragen gegeben haben. Vitruv konnte dank seiner langjährigen Tätigkeit aus einem reichen Erfahrungsschatz schöpfen. Daneben benutzte er zahllose griechische Quellen, die uns durch einen dem Werk beigefügten Katalog bekannt sind. In seinen Ausführungen über Tempelbau stützte er sich vor allem auf die Schriften des Architekten Hermogenes, das Kapitel über Astronomie geht wohl auf den Lehrdichter Aratos von Soloi zurück. Unter den römischen Autoren ist als Quelle vor allem Varro mit seinen Abhandlungen zur Baugeschichte zu nennen.

Stil

Die Sprache gilt gemeinhin als umständlich und wenig flüssig. Kennzeichen sind altertümliche Formen, Überfülle des Ausdrucks, grammatische Eigenheiten und gelegentliche Rückgriffe auf die Umgangssprache.

Rezeption

Proportionsschema der menschlichen Gestalt nach Vitruv – Skizze von Leonardo da Vinci, 1485/90, Venedig, Galleria dell' Accademia

Abgesehen von vereinzelten Erwähnungen, so bei Frontinus, Faventinus und Plinius dem Älteren, hat Vitruvs Schaffen in der antiken Literatur nur ein geringes Echo hervorgerufen. Dies ist mit Sicherheit der thematischen Hingabe zu technischen Beschreibungen und der Sprödheit der Sprache zurückzuführen, so dass eine größere Popularität des Autors in der Antike ausblieb. Möglicherweise wird das Werk von den Architekten der Kaiserzeit als Handbuch genutzt worden sein, doch sind die Beschreibungen des Vitruv, insbesondere in den Deteils, selten archäologisch nachzuweisen.

Der Text war während der Spätantike und des Mittelalters bekannt. Es existieren ca. 80 mittelalterliche Manuskripte, darunter ein angelsächsischer Text und ein karolingischer Text um 800, den Einhard kannte. Kopien gab es u. a. in St. Gallen, Cluny, Canterbury, Oxford.

Größere Bekanntheit erlangte Vitruv erst in späterer Zeit, besonders in der Renaissance. Durch Gianfrancesco Poggio Bracciolini, der die Schrift im 15. Jahrhundert wieder entdeckte, wurde eine neue Stilrichtung der Architektur beeinflusst, die sich die Antike zum Vorbild nahm. Gedruckt wurde das Buch zum ersten Mal von Giovanni Sulpicio 1486–1492 in Rom herausgegeben.

Da Vitruvs Werk nicht illustriert war, wurde es für die Rezeption in der Renaissance nötig, neben seinen (teils schwer verständlichen) theoretischen Erläuterungen auch die antiken Werke der Architektur zu betrachten um die Anweisungen aus den 10 Büchern umsetzen zu können.
Gleichzeitig wichen die erhaltenen antiken Gebäude von den Angaben Vitruvs ab. Dies schuf dem Architekten einen Spielraum in der Umsetzung, der es ermöglichte, über eine reine Antikenkopie hinauszugehen.

1511 erschien daher eine erste illustrierte Ausgabe in Venedig [1], 1521 der erste (ebenfalls illustrierte) Druck einer italienischen Ausgabe von Cesare Cesariano. Und obwohl Italienisch lange Zeit die führende Sprache der europäischen Architekturtheorie blieb, folgten rasch Übersetzungen in andere Sprachen.

Ausgehend vom 15. Jahrhundert beeinflusste Vitruv eine Vielzahl, wenn nicht im Grunde alle europäischen Architekturtraktate und die europäische Architekturtheorie. 1452 veröffentlichte Alberti sein „de re aedificatoria“, das in Aufbau und theoretischer Setzung an Vitruv anschloss.

Noch im 18. Jahrhundert griff François de Cuvilliés der Jüngere den Titel für sein Lehrbuch Vitruve Bavarois auf. Der englische Architekt William Newton (1735-1790), ein Nachfahre von Isaac Newton, verfasste einen französischsprachigen Kommentar zu Vitruv der im Jahr 1780 erschien; dies war die erste wissenschaftliche Auseinandersetzung mit "De architectura". Dieser Druck ist mit zahlreichen ganzseitigen Stichen versehen, ein Exemplar befindet sich in der Stadtbibliothek Mainz.

Eine zentrale Passage in Vitruvs Abhandlung stellt die Theorie des wohlgeformten Menschen (homo bene figuratus) vor. Anhand geometrischer Formen werden die Proportionen des Menschen zueinander beschrieben. Dies inspirierte mehrere Künstler der Renaissance zu Skizzen, unter anderem auch Albrecht Dürer. Die berühmteste Illustration stammt von Leonardo da Vinci und erlangte unter dem Namen „Der vitruvianische Mensch“ Berühmtheit. Gerade mit dieser Zeichnung bestätigt Leonardo die These Vitruvs, der aufrecht stehende Mensch füge sich sowohl in die geometrische Form des Quadrates wie des Kreises ein.

Die Methode des Moduls, die von Vitruv grundgelegt wurde, wurde im 20. Jahrhundert wiederaufgenommen als Modulor, einem Maßsystem des Architekten Le Corbusier, das auf dem goldenen Schnitt basiert.

Siehe auch

Zur eigenständigen Rezeption des Wortes „Modul“ siehe Modell.

Literatur

  • Vitruvii de architectura libri decem. / Vitruv. Zehn Bücher über Architektur. Übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Dr. Curt Fensterbusch. Primus Verlag, Darmstadt 1996, ISBN 3-89678-005-0.
  • Michael von Albrecht: Geschichte der römischen Literatur. Bd. 1, 2. bearb. Auflage. DTV, München 1997, S. 695–697, ISBN 3-598-11198-3.
  • B. Baldwin: The Date, Identity, and Career of Vitruvius. In: Latomus 49 (1990), S. 425–434.
  • H. Knell: Vitruvs Architekturtheorie. 2. verb. Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1991, ISBN 3-534-09399-2.
  • I. D. Rowland und T.N. Howe: Vitruvius. Ten Books on Architecture. Cambridge University Press, Cambridge 1999, ISBN 0-521-00292-3.
  • Stefan Schuler: Vitruv im Mittelalter. Die Rezeption von "De architectura" von der Antike bis in die frühe Neuzeit. Köln, Weimar, Wien 1999.
  • Hartmut Wulfram: Literarische Vitruvrezeption in Leon Battista Albertis De re aedificatoria (= Beiträge zur Altertumskunde 155). München, Leipzig 2001.
  • Julian Jachmann: Die Architekturbücher des Walter Hermann Ryff. Vitruvrezeption im Kontext mathematischer Wissenschaften. Hannover 2006.

Weblinks

Vitruvius on line: http://www.cesr.univ-tours.fr/architectura/Traite/Auteur/Vitruve.asp



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