- Vokativ
-
Unter Vokativ (auch Anredefall) versteht man gemeinhin ein spezielle Form eines Nomens, zumeist eines Substantivs, welche gebraucht wird, um jemanden direkt anzusprechen oder anzurufen. Einen Vokativ gab es sehr wahrscheinlich im Urindogermanischen, von welcher die meisten Sprachen Europas und des indoiranischen Sprachraums abstammen.
Inhaltsverzeichnis
Definitorisches
Der Vokativ wird in der deutschsprachigen Linguistik, in den europäischen Philologien und in der Indogermanistik üblicherweise als Kasus aufgefasst und als solcher in der Formenlehre (Morphologie) verortet; in der angelsächsischen Sprachwissenschaft dagegen wird „vocative“ häufig als Sprechakt verstanden, und fällt damit in das Teilgebiet der Pragmatik. Diese unterschiedlichen Definitionen führen oft zu Misserverständnissen; dieser Artikel baut, der deutschsprachigen Tradition folgend, indessen auf ersterer Definition auf.
Vokativ als Kasus
Der Vokativ wird in den Grammatiken der Klassischen Sprachen zu den Fällen (lat. Kasus) gezählt. Dies liegt darin begründet, dass er vor allem auf der Oberfläche wie ein Fall aussieht; man vergleiche folgendes lateinisches Deklinationsparadigma des Wortes servus „Diener“ für den Singular:
Nominativ serv-us Genitiv serv-ī Dativ serv-ō Akkusativ serv-um Ablativ serv-ō Vokativ serv-e! Der Vokativ sieht also aus wie ein Fall, er hat jedoch eine andere Funktion als die übrigen Fälle. Während Nominativ, Genitiv und die anderen Fälle dazu dienen, die Syntax, also den Satzaufbau einer Sprache zu gestalten, und das jeweilige Verhältnis zweier sprachlicher Denotate zueinander zum Ausdruck bringen, steht ein Nomen im Vokativ außerhalb des Satzes. Ein Vokativ dient – vereinfacht gesagt – dazu, den Kontakt zwischen Sprecher und angesprochener Person herzustellen (Anruf) oder aufrechtzuerhalten (Anrede).
Vokativbildung in den indogermanischen Sprachen
Der indogermanische Vokativ, der sich für gewöhnlich auf den Singular beschränkt, sei am Beispiel des Wortes für „Wolf“ illustriert, einem typischen maskulinen o-Stamm:
Urindogermanisch Sanskrit Altgriechisch Latein Gotisch Urslavisch Litauisch Kurmandschi Nominativ *wl̥kʷ=o-s vr̥k=a-s lýk=o-s lup=u-s wulf-s vlьk=ъ_ vilk=a-s gur_ (n) Vokativ *wl̥kʷ=e_ vr̥k=a_ lýk=e_ lup=e_ wulf_ vlьč=e_ vilk=e_ gur-o (m)
gur-ê (f)Erklärung zur Notation: Der sog. Themavokal wird vom jeweiligen Wortstamm mittels Gleichheitszeichen (=) getrennt, die eigentliche Kasusendung mittels Minuszeichen (-; im Nominativ zumeist -s). Der Unterstrich (_) bedeutet, dass keine Endung vorliegt (wo bei anderen Fällen eine Endung steht). Der Stern (*) vor den urindogermanischen Wörtern bedeutet, dass es sich um hypothetische Wortrekonstruktionen handelt, die nicht durch schriftliche Quellen belegt sind.
Wie man erkennen kann, wurde das Wortbildungssuffix -o- vermutlich bereits im Indogermanischen zu -e- abgelautet. Dieser Vokalwechsel hält sich auch in den wichtigsten Nachfolgesprachen, wenngleich -o- teilweise verändert wird.
In einigen indogermanischen Sprachen ist der Vokativ verschwunden, in anderen wiederum ist er erhalten. Eine kleine Übersicht:
Sprachfamilie Vokativ bewahrt maskuliner Vokativ erhalten,
femininer Vokativ verschwundenVokativ völlig verschwunden Vokativ neu gebildet Baltische Sprachen Litauisch Lettisch Germanische Sprachen: Ostgermanisch (Gotisch) West- und Südgermanisch Keltische Sprachen Bretonisch, Kymrisch Gälisch Romanische Sprachen: Lateinisch Portugiesisch, Spanisch,
Katalanisch, Provenzalisch,
Französisch, Rätoromanisch,
ItalienischRumänisch Slawische Sprachen: Bulgarisch, Makedonisch,
Niedersorbisch, Polnisch,
Kroatisch, Serbisch, Tschechisch,
UkrainischObersorbisch Slowakisch, Slowenisch, Weißrussisch Russisch Andere Sprachen: Kurdische und indische Sprachen Griechisch Persisch (Dari, Farsi) Albanisch Latein
Im Lateinischen ist der Vokativ fast immer mit dem Nominativ identisch. Als Fall mit unterscheidbarer Form erscheint er nur bei den (allerdings recht häufigen) maskulinen Wörtern der o-Deklination, die im Nominativ auf -us enden. In diesem Fall wird aus der Nominativendung (im Singular)-us im Vokativ die Endung -e (z. B. Brutus → Brute!, Christus → Christe!). Eine Ausnahme bilden im Nominativ auf -ius endende Wörter sowie bestimmte Formen des Possessivpronomens: erstere enden im Vokativ auf -iØ (z. B.: Claudia clamat: „Consule tibi, mi
filiefili!“ – Claudia ruft: „Sorge für dich, mein Sohn!“), letztere haben eigene Formen.Rumänisch
Das Rumänische als einzige romanische Standardsprache hat den Vokativ für Maskulina auf -e aus dem Lateinischen bewahrt und darüber hinaus Vokativformen auf -ule entwickelt; zudem kennt es heute einen Vokativ für Feminina auf -o, welcher vermutlich durch Sprachkontakt aus der benachbarten Slavia entlehnt worden ist. Es gibt jedoch auch einige Substantive, welche keine vom Nominativ verschiedene Vokativform ausgebildet haben, v.a. solche auf -e:
Maskulina Feminina Nominativ bărbat soț frate soră câțea soție Vokativ bărbate! soțulе! frate! sorо! câțeauo! soție! Übersetzung Mann Ehemann Bruder Schwester Hündin Ehefrau Eine weitere Besonderheit des Rumänischen besteht in einer Herausbildung von Vokativformen im Plural. Diese Formen stimmen, anders als die entsprechenden Singularformen, allerdings mit einer anderen Kasusform überein, nämlich dem Kasus obliquus im Plural, welcher in der rumänischen Sprachwissenschaft häufig Genitiv-Dativ genannt wird. Man vergleiche:
Maskulina Feminina Nominativ Plural bărbați frați fete soții Obliquus = Vokativ bărbaților fraților fetelor soțiilor Übersetzung Männer Brüder Mädchen Ehefrauen Der Gebrauch des Vokativs Plural ist jedoch nicht zwingend; auch ein Gebrauch des Nominativs für die Anrede ist möglich.
Griechisch
Im Griechischen ist der Vokativ Singular häufiger vom Nominativ verschieden, der Vokativ Plural ist aber immer identisch mit dem Nominativ Plural.
- Altgriechisch: Bei Maskulina der a-Deklination fällt das End-s (-ς) der Endungen -ēs (-ης) bzw. -as (-ας) weg; wenn der Endung -ēs (-ης) ein t (τ) vorangeht (-tēs, -της), ist die Endung -tă (-τᾰ). Beispiele: Nom. tamias (ταμίας), „Verwalter, Schatzmeister“ > Vok. tamia (ταμία); Nom. bouleutēs (βουλευτής), „Ratsmitglied“ > Vok. bouleuta (βουλευτά). In der o-Deklination wird – ähnlich dem Lateinischen – die Endung -os (-ος) zu -e (-ε): Nom. anthrōpos (ἄνθρωπος) „Mensch“ > Vok. anthrōpe (ἄνθρωπε). In der 3. Deklination entspricht der Vokativ fast immer dem Nominativ, es können aber Akzentverschiebungen oder Quantitätswechsel auftreten.
- Neugriechisch: Für das Neugriechische können die Regeln für das Altgriechische ungeachtet der unterschiedlichen Aussprache fast unverändert übernommen werden; es gelten folgende Ausnahmen:
- Bei Nomina auf -tis (-της) endet der Vokativ auf -ti (-τη).
- Bei zweisilbigen männlichen Namen auf -os (z. B. Giorgos) sowie mehrsilbigen zusammengesetzten Namen, deren zweiter Bestandteil ein zweisilbiger Name ist (z. B. Karakitsos aus kara + Kitsos) lautet der Vokativ nicht auf -e, sondern auf -o.
- Die archaische Form mit der Endung -ta (-τα) kann im gehobenen Sprachniveau sowie unter älteren oder konservativen Sprechern auch benutzt werden (siehe Katharevousa) oder zur scherzhaften Parodie dieser Sprachform dienen.
Irisch-Gälisch
Wie im Lateinischen betrifft die Vokativbildung nur Substantive, die der 1. Deklination angehören, welche etymologisch der lat. o-Deklination entspricht. Im Irischen ist die Nominativendung der o-Deklination (-os) seit langem geschwunden. auch die Vokativ-Endung -e ist nicht mehr vorhanden, jedoch kam es durch die Vokativendung zur Palatalisierung des Stammauslauts, welche jetzt die Vokativform anzeigt.
Im Plural der 1. Deklination tritt zudem die Endung -a im Vokativ auf.
Zusätzlich wird bei allen Substantiven der Vokativ durch eine vorgesetzte Vokativpartikel (a) angezeigt, welche den Anlaut des Substantivs verändert.
Beispiel:
Nominativ: Brian (ein Name), fear (Mann), fir (Männer)
Vokativ: a Bhriain! (Brian!), a fhir! (Mann!), a fheara! (Männer!)Slawische Sprachen
Die nicht belegte urslawische Sprache und das seit dem Mittelalter belegte Altkirchenslawische haben den indogermanischen Vokativ fortgeführt und formenreich ausgebaut; viele dieser Formen leben in den heutigen slawischen Sprachen fort, darunter im Tschechischen, Polnischen, Obersorbischen, Bulgarischen, Makedonischen, Ukrainischen,Kroatischen, Serbischen und in den Dialekten des Slowakischen.
Vokativ in der Standardsprache Vokativ im Substandard (Dialekte) Vokativ verschwunden Bulgarisch Slowakisch Niedersorbisch Makedonisch Weißrussisch Russisch Obersorbisch Slowenisch Polnisch Kroatisch Serbisch Tschechisch Ukrainisch Polnisch
Anders als im Lateinischen ist der Vokativ in den betreffenden slawischen Sprachen nahezu immer vom Nominativ verschieden. Hier einige Beispiele für die Bildung des Vokativ (poln. wołacz) im Polnischen:
Nominativ Vokativ Pani Ewa (Frau Eva) Pani Ewo! (Frau Eva!) Pan profesor (Herr Professor) Panie profesorze! (Herr Professor!) Krzysztof (Christoph) Krzysztofie! (Christoph!) Krzyś (Koseform von Krzysztof) Krzysiu! Ewusia (Koseform von Ewa) Ewusiu! Marek (Markus) Marku! Bóg (Gott) Boże! (O Gott!) Wenn die Person mit ihrem Namen angesprochen wird, benutzt man oft einfach den Nominativ. Grammatikalisch ist es falsch. Wenn man hier den Vokativ benutzt, kann es als gehoben klingen; es kann aber auch als sehr höflich und aufmerksam klingen, da man dem Sprecher anmerkt, dass er extra den gehobenen Ton wählte. Beispiel: „Paweł, …“ („Paul, …“) wäre die normale Alltagsanrede, während „Pawle, …“ höflich bzw. respektvoll klingt.
Russisch
Auch im Russischen haben sich Reste des Vokativs - als Ausdruck besonderen Respekts - erhalten. Beispiel: Bog (Nom.) - Bože (Vok.). Verwendung: Bože moj! - Mein Gott!
Kroatisch / Serbisch
Auch das Serbische, das Kroatische und das Bosnische besitzt den Vokativ, zum Beispiel: Frau žena (Nom.) – ženo (Vok.), Opa djed (Nom.) – djede (Vok.), Petar (Nom.) – Petre (Vok.), Aleksandar (Nom.) – Aleksandre (Vok.)
Sorbisch
Das in der Lausitz gesprochene (Ober-)Sorbisch besitzt ebenfalls einen Vokativ. Dieser tritt paradigmatisch nur bei männlichen Substantiven auf. Meistfrequentiert ist hierbei die Endung -o, doch tritt bisweilen auch -´e auf: Mann muž (Nom.) – mužo (Vok.), Opa dźěd (Nom.) – dźědo (Vok.), Peter Pětr (Nom.) – Pětrje (Vok.).
Von den Feminina hat nur ein Wort einen echten Vokativ: Mutter mać (Nom.) – maći (Vok.).
Bulgarisch
Im Bulgarischen wird der Vokativ üblicherweise nur bei einer gewissen Vertrautheit der Gesprächspartner, also im Freundes- und Familienkreis verwendet. Obwohl es völlig üblich ist, auch weibliche, Personen bezeichnende Nomina wie z. B. Mama (мама (Nom.) – мамо (Vok.)) in den Vokativ zu setzen, wird hingegen das Setzen weiblicher Vornamen in den Vokativ als grob und unhöflich bzw. sehr ordinär angesehen (z. B. Daniela Даниела (Nom.) – Даниело* (Vok.; Achtung – beleidigend![1])).
Ukrainisch
Das Ukrainische hat den urslawischen Vokativ bewahrt und ausgebaut; man vergleichende folgende Nominativ- und Vokativformen:
Maskulina Feminina Nominativ брат_ хлопец-ь син_ сестр-а сім'-я ніч Vokativ брат-е! хлоп_ч-е син-у! сестр-о! сім'-є! ноч-е! Übersetzung Bruder Junge Sohn Schwester Familie Nacht Weißrussisch
Im Weißrussischen wird der Vokativ überwiegend in den südlichen und westlichen Dialekten verwendet. Man vergleiche:
Maskulina Feminina Nominativ дзед_ сябар_ баб-а мам-а Vokativ дзед-у! сяб_р-а баб-о! мам-о! Übersetzung Opa Freund Oma Mama Kurdisch
Auch im Kurmandschi-Dialekt des Kurdischen existiert ein Vokativ. Er wird mit der Endung -o bei Maskulina und -ê bei Feminina markiert. Da das Kurdische viele arabische Namen übernommen hat, werden die häufigen arabischen abgekürzt und kurdisch artikularisiert.
Beispiele:
Arabischer Name Kurdischer Vokativ Mostafa (m) Misto Mahmud (m) Maho Sayyid (m) Saydo Zaynab (f) Zaynê Fatima (f) Fattê Darüber hinaus kann der Vokativ ohne Vokativ-Endung, sondern mit Hilfe eigenständiger Wörter gebildet werden. Hierfür werden die Vokativ-Wörter Lo (m) und Lê (f) benutzt.
Beispiele:
Name Vokativ Azad (m) Lo Azad! Diyar (m) Lo Diyar! Im Allgemeinen enden kurdische Frauennamen ohnehin auf -ê und die Männernamen auf -o. Beispiele: Nazê, Gulê, Derdo, Şemo, Aso, Memo.
Vokativphrasen
Auch Sprachen, welche keinen morphologischen Vokativ aufweisen, können vokativische Strukturen in ihrer Nominalphrase ausbilden.
Deutsch
Dies ist etwa im Deutschen der Fall, wo im Vokativ der Nullartikel gesetzt wird: Da ein Appellativum wie z.B. Gast in einer Prädikatphrase (also einem Satz mit Verb) für gewöhnlich nicht ohne Artikel steht (außer vor als), ergibt sich aus der artikellosen Verwendung (bzw. der Verwendung mit Nullartikel) eine Vokativphrase, welche üblicherweise mit einem Adjektivattribut angereichert wird. Dieses Attribut begleitet das Kopfnomen stets in seiner unbestimmten Form: Ø lieber Gast!
In der süddeutschen Umgangssprache und in den oberdeutschen Dialekten ist diese Art der Vokativphrase viel häufiger, da hier auch Eigennamen von Personen in der Prädikatphrase den bestimmten Artikel mit sich führen: Das ist der Peter. Aber: Lieber Peter!In den nordgermanischen Sprachen hat sich eine spezifische Vokativphrase etabliert, welcher vor allem für Zuschreibungen mittels Appellativa verwendet wird; in Verbindung mit Personennamen ist er nicht üblich. Als Vokativmarkierung dient der Possessivbegleiter der 2. Person Singular, also des Adressaten. Beispiele aus allen vier Sprachen:
Dänisch Schwedisch Norwegisch Isländisch Nominativ geni ängel svin fífl Vokativ dit geni! din ängel! ditt svin! fíflið þitt! Übersetzung du Genie! du Engel! du Schwein! du Idiot! Dabei wird im Isländischen zusätzlich das Definitheitssuffix (quasi der bestimmte Artikel) ans Substantiv angefügt.
Isländisch
Das Isländische kennt überdies vor allem für Eigennamen von Personen eine Vokativphrase, welche sich des Possessivbegleiters der 1. Person Singulars (also des Sprechers) bedient:
Jón minn! (Männername) / Helga mín! (Frauenname)Bemerkungen
- ↑ Der Beleidigungsgrad lässt sich am Vergleich folgender Sätze ablesen: Даниела, какво зяпаш бе? (Hi Daniela, warum guckst du denn?) vs. Даниело, какво зяпаш бе? (Daniela, was glotzt du so?)
Siehe auch
Wiktionary: Vokativ – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, ÜbersetzungenKategorie:- Grammatischer Kasus
Wikimedia Foundation.