Zirkusparteien

Zirkusparteien

In den Zirkusparteien (lat. partes, griech. demoi oder moirai; auch: Stadionparteien) war im Oströmischen bzw. Byzantinischen Reich von der Spätantike bis in das 9. Jahrhundert ein erheblicher Teil der wohl meist der Unterschicht zuzuordnende Masse der Stadtbevölkerung von Konstantinopel/Byzanz (heute Istanbul) organisiert. Sie erlangten politischen Einfluss, da sie das Volk über die Teilnahme an den Spielen, Theater und Wagenrennen im Hippodrom auch politisch und kirchenpolitisch mobilisieren bzw. instrumentalisieren konnten. Zeitweilig dehnten sich die Parteien auch auf andere Städte des Reiches aus. Ihr Einfluss auf die staatliche Zentralgewalt war mitunter bedeutend. Obwohl sie im 5. und 6. Jahrhundert auch noch im Westen des Mittelmeerraumes aktiv gewesen zu sein scheinen, wie zum Beispiel Äußerungen bei Cassiodor (Variae 3,51,11) belegen, waren sie doch ein weitgehend auf Ostrom beschränktes Phänomen.

Die Zirkusparteien entstanden bereits in der römischen Kaiserzeit, wobei zunächst vier gleichberechtigte Rennställe mit ihren Anhängern existierten: Grün, Blau, Rot und Weiß. Zumindest in späterer Zeit führte man die Farben auf die vier Elemente Feuer (rot), Wasser (blau), Luft (weiß) und Erde (grün) zurück. In der Spätantike hatten dann die beiden großen Parteien der Blauen und Grünen "Dependancen" in all jenen Großstädten, die über einen Circus oder ein Hippodrom verfügten. Da seit dem weitgehenden Zusammenbruch des Oströmischen Reiches im 7. Jahrhundert fast nur noch in Konstantinopel Wagenrennen veranstaltet wurden, beschränkte sich der Einfluss der Zirkusparteien ab dieser Zeit auf die Hauptstadt. Hier mussten sich die Kaiser im Circus regelmäßig dem Volk zeigen, dem die Zirkusparteien eine Stimme gaben: Die von ihnen orchestrierten Akklamationen waren das wichtigste Medium der Kommunikation zwischen dem spätrömischen Kaiser und seinen Untertanen.

Es gab in der späten Kaiserzeit faktisch nur noch die Partei der „Blauen“ (venetoi) (meist mit den „Weißen“ als „kleinerem Koalitionspartner“) und die der „Grünen“ (prasinoi) (mit den „Roten“), die im Wesentlichen mit den zeitweise auch als Bürgermiliz dienenden städtischen Bezirken (Demen) identisch waren und durch einen Demarchen geführt wurden. Lange Zeit galten in der Forschung die Blauen als traditionell chalkedonitisch-orthodox, die Grünen als monophysitisch. Es gibt jedoch auch gewichtige Gegenstimmen (Cameron), die eine solche Zuordnung für falsch halten; in der modernen Forschung wird dem weitgehend gefolgt. Da die spätantike Staatsordnung die weitgehend absolute Herrschaft des Kaisers vorsah, war eine Mitwirkung solcher Gruppen an der Politik auch kaum vorgesehen; zugleich aber galt die Zustimmung des Volkes als Voraussetzung einer legitimen Herrschaft. Faktisch bildeten die partes, wenigstens zeitweise, einen wesentlichen Faktor der Innenpolitik, den kein Kaiser ignorieren konnte. Eine Nahbeziehung zwischen einzelnen Kaisern und bestimmten partes ist dabei bereits für die frühe und hohe Kaiserzeit (Prinzipat) belegt; so ließ laut Cassius Dio Kaiser Caracalla im Jahr 211 den berühmten Wagenlenker Euprepes hinrichten, da dieser für eine andere als die vom Herrscher bevorzugte Partei fuhr (Cass. Dio 78,1,2). Doch in der Spätantike nahm dieses Phänomen an Bedeutung stark zu.

Es sind insbesondere seit dem 5. Jahrhundert zahlreiche Beispiele für die direkte Einflussnahme auf die Kaiser bzw. Verbindung zwischen Parteien und Kaiserhaus bekannt:

  • Ein Kaiser, von dem eine besondere Beziehung zu den partes bekannt ist, war Theodosius II., unter dem auch 445 die frühesten bezeugten Unruhen der Zirkusparteien in Konstantinopel stattfanden.
  • Kaiser Anastasios I., der sich ungewöhnlicherweise als Anhänger der Roten gab, war um 500 wiederholt mit schweren Zirkusunruhen konfrontiert, die sein Zeitgenosse Marcellinus Comes (ad ann. 493) sogar als bella civilia bezeichnete; der Staurotheis-Aufstand unter maßgeblicher Beteiligung der Grünen und Blauen hätte 512 fast zum Sturz des Kaisers geführt.
  • Kaiserin Theodora I. (Frau Kaiser Justinians I., 527-565) entstammte einer für die Partei der Grünen arbeitenden Familie. Sie war selbst wie die Mutter Tänzerin und Schauspielerin. Als nach dem Tode ihres Vaters die Mutter wieder heiratete, wurde der Stiefvater bei den Grünen nicht aufgenommen, dafür aber bei den Blauen. In der Regierungszeit Justinians I. eskalierten die Spannungen zwischen dem Kaiser und den Zirkusparteien 532 im Nika-Aufstand, nachdem Justinian die Führer beider Parteien hatte hinrichten lassen. Diese Anführer hatten sich offenbar gegen seine drückende Steuerlast empört. Als beide trotz eines unter ihrem Gewicht zusammenbrechenden Galgens ein weiteres Mal gehängt wurden, kam es zu Tumulten. Die Anhänger der Zirkusparteien formierten sich unter dem Kampfruf Nika! Nika! (Siege! Siege!) und proklamierten mit Hypatius sogar einen Gegenkaiser, doch gelang es Justinian I., eventuell unter Einflussnahme Theodoras, den Aufstand mit Hilfe seiner Feldherren Narses und Belisar zu unterdrücken.
  • Kaiser Maurikios (582-602) brachte ebenfalls beide Parteien gegen sich auf (mit den Grünen als treibender Kraft und den Blauen in der Rolle wohlwollender Beobachter), was zu seinem Sturz führte.
  • Die langjährige einseitige Parteinahme seines Nachfolgers, Kaiser Phokas (602-610) für die Blauen gegen die von ihm zunächst favorisierten Grünen stürzte das Reich in einen Bürgerkrieg.
  • Die erste Amtszeit Kaiser Justinians II. (685-695, 705-711) endete aufgrund eines Aufstandes, der von den Blauen angeführt wurde.
  • Kaiser Michael III. (842-867) war in seiner Jugend, während seine Mutter die Regentschaft führte, ein Favorit der blauen Partei.

Der politische Einfluss der Demarchen als Führer der Zirkusparteien endete während der Dynastie der Makedonen (Nachfahren Kaiser Basileios I., gest. 886) durch eine Umorganisation der Beamtenhierarchie.

Eine primär politische Ausrichtung der Zirkusparteien ist teilweise umstritten. Es wird eine auf die Organisation der Rennställe, das Zirkusgeschehen und andere Unterhaltungsformen wie Theater beschränkte Rolle gesehen und eine Parteinahme des Herrschers für eine Farbe eher als Ausdruck von „Volksnähe“ interpretiert (z.B. Alan Cameron, Circus Factions, Oxford 1976). Diese längere Zeit die Forschung dominierende Position ist in jüngerer Zeit aber wieder relativiert worden (z.B. Michael Whitby, Mischa Meier), und eine wirklich befriedigende Erklärung des Phänomens steht bislang aus.

Literatur

  • Alan Cameron: Circus factions. Blues and Greens at Rome and Byzantium. Clarendon Press, Oxford 1976. (Standardwerk zum Thema)
  • Mischa Meier: Anastasios I. Stuttgart 2009, S. 148-173.
  • M. Whitby: The violence of the circus factions. In: K. Hopwood (Hrsg.): Organized Crime in Antiquity. Wales 1999, S. 229–253. (Guter Überblick über die neuere Forschung)
  • Hans-Ulrich Wiemer: Akklamationen im spätrömischen Reich. Zur Typologie und Funktion eines Kommunikationsrituals. In: AKG 86, 2004, S.27–73.

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