Chronologie der tyrischen Könige (Flavius Josephus)

Chronologie der tyrischen Könige (Flavius Josephus)
Büste von Flavius Josephus

Die „Chronologie der tyrischen Könige“ ist Bestandteil des ersten Buches (117 und 121–126b) des apologetischen Werkes „Über die Ursprünglichkeit des Judentums“ (auch „Contra Apionem“), das Flavius Josephus Ende des ersten Jahrhunderts n. Chr. verfasste.

Tyros war ein historischer phönizischer Stadtstaat im heutigen Libanon. Der Handel stützte sich auf eine Vielzahl von Handelsfaktoreien an den Küsten. Dauerhafte Siedlungen und Kolonien wurden nur ausnahmsweise gegründet. Für die Gründung von Karthago im Jahr 814 v. Chr. soll der Sage nach die tyrische Königstochter Elissa/Dido verantwortlich sein. In der tyrischen Königschronik wird sie als „Schwester des Königs“ betitelt.

Inhaltsverzeichnis

Überlieferungen

Die von Benedikt Niese aus dem Jahr 1889 stammenden Textfassungen beinhalten zahlreiche Korruptelen. Zudem schrieb Niese in diesem Zusammenhang über Codices, ohne dass sie ihm vorlagen. Die armenische Fassung kannte er nur aus einer lateinischen „Übersetzung einer Übersetzung“.[1]

Die gefertigten Texte wurden von Karl Mras zwischenzeitlich überarbeitet und teilweise korrigiert, weshalb nach einer Beurteilung von Folker Siegert, Professor für Judaistik und Neues Testament an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster, die Werke von Karl Mras als „maßgeblich gelten“.[1] Folker Siegert hatte zudem in Ergänzung im Jahr 2008 erstmals seit Nieses Komplettausgabe eine Neubearbeitung aller verfügbaren Quellen vorgenommen.[2]

Direkte Überlieferungen

Überreste eines tyrischen Triumphbogens

Die „Chronologie der tyrischen Könige“ wurde nur teilweise direkt durch nachfolgende Quellen überliefert: Codex Laurentianus aus dem elften Jahrhundert n. Chr.; er enthält nur 38 Blätter. Im Codex Eliensis aus dem 15. Jahrhundert n. Chr. ist der Inhalt von Buch 1 erhalten geblieben. Der Codex Schleusingensis wurde vor 1544 verfasst und enthält nur eine sehr stark verkürzte Überlieferung.

Indirekte Überlieferungen

Für seine Überlieferungen stützte sich Eusebius von Caesarea im vierten Jahrhundert n. Chr. in Buch 1 der „Chronik“ auf Auszüge der Texte von Flavius Josephus. Buch 1 ist nur in armenischer Sprache erhalten geblieben. Buch 2 der „Chronik“ beinhaltet größtenteils nur die in lateinischer Sprache verfasste Überlieferung des Hieronymus; einzelne Bruchstücke des ursprünglichen Textes liegen in Zitatform vor. Die überlieferten Eusebius-Zitate zählen wegen ihrer hohen Genauigkeit zu den wichtigen geschichtlichen Textzeugen.[1]

Der griechische Urtext konnte bislang noch nicht einer kritischen Prüfung unterzogen werden, da die benutzten Zitate sich nur aus späteren Weiterverarbeitungen heraustrennen lassen könnten. Dies aber macht eine Entscheidung hinsichtlich problematischer Passagen unmöglich. Insofern stellt der erste Teil der Eusebius-Chronik nur eine in bedenklichem Zustand vorliegende Quelle dar.[1]

Georgios Synkellos übernahm zunächst um etwa 800 n. Chr. Texte von Panodorus von Alexandrien als Zwischenstufe und verwendete zusätzlich in griechischer Sprache vorliegende Fragmente. Theophilus von Antiochien, an sich ein wertvoller Textzeuge, zitierte im dritten Buch der „Ad Autolycum“ (3:20-22) verkürzend eine Textpassage aus Buch 1, 93–126.[3] Grundlage der von ihm verwendeten Josephus-Texte bildete sein Interesse, eine Verbindung der biblischen Geschichte mit der altägyptischen Chronologie herzustellen.[4]

Exzerpte

Aus dem neunten Jahrhundert n. Chr. datiert das byzantinische Exzerpt der „Anecdota“, die selbige schlechte Qualität wie die Eusebius-Überlieferung aufweist. Die Excerpta Constantiniana wurden zwischen 913 und 957 n. Chr. im Auftrag von Konstantin Porphyrogennetos gefertigt und existieren nur noch in fragmentarischem Zustand. Die sich zur Zeit in Florenz beziehungsweise im Vatikan befindlichen Codices M und V enthalten neben überlieferten Zitaten von Manetho und Berossos auch die phönizischen Chroniken, die in Buch 1, 73–159 wiedergegeben sind.

Chronologie der tyrischen Könige

In der altägyptischen Chronologie wird der Feldzug des Königs (Pharao) Scheschonq I. beschrieben, der ihn nach Retjenu führte. Im Alten Testament führt Scheschonq I. den Namen Schischak, der in Rehabeams fünften Regierungsjahr den Tempel des Salomon geplündert haben soll. Dieses Ereignis fand nach der biblischen Chronologie von Edwin Thiele im Jahr 925 v. Chr. und damit im Zeitraum der hier beschriebenen tyrischen Königschronologie statt. Ob es sich dabei allerdings um den Tempel Salomons handelte, konnte bis heute nicht durch archäologische Funde bestätigt werden.

Liste der tyrischen Könige von Abi-ba'l bis zur Gründung Karthagos

Vers [5] König [5] Regierungslänge [5] Alter
(bei der Krönung) [5]
Alter
(bei Tod) [5]
Kommentar von Flavius Josephus [5]
117[6]
Abi-ba'l
???
?? Jahre
?? Jahre
Vater des Hirom
117[6]
121[6]
126a[7]
126b[6]
Hirom
34 Jahre
19 Jahre
53 Jahre
Eigener Sohn von Abiba'l. Im zwölften Jahr seiner Herrschaft erbaute er den Tempel zu Jerusalem; von dessen Erbauung bis zur Gründung Karthagos verstrichen 143 Jahre und acht Monate. Es beläuft sich der gesamte Zeitraum von der Regierungszeit Hiroms bis zur Gründung Karthagos auf 155 Jahre und acht Monate.
121[6]
Ba'l-manzer
17 Jahre
26 Jahre
43 Jahre
Sohn des Hirom
122[6]
'Abd'-aštart
9 Jahre
30 Jahre
39 Jahre
Sohn des Ba'lmanzer. Auf 'Abd'-aštart verübten die vier Stiefbrüder einen Anschlag und töteten ihn.
122[6]
Metu'-aštart
12 Jahre
42 Jahre
54 Jahre
Sohn des Delai'-aštart. Ältester der vier Stiefbrüder.
123[6]
'Aštarum
9 Jahre
49 Jahre
58 Jahre
Bruder des Metu'-aštart. 'Aštarum wurde von seinem Bruder Pelles getötet.
123[6]
Pelles
8 Monate
49 Jahre
50 Jahre
Bruder des Metu'-aštart und des 'Aštarum. Pelles wurde von Ito-ba'l beseitigt.
123[6]
Ito-ba'l
32 Jahre
16 Jahre
48 Jahre
Priester der 'Aštart.
124[6]
Ba'l-'ezor
6 Jahre
39 Jahre
45 Jahre
Sohn des Ito-ba'l.
124[6]
Metten
29 Jahre
3 Jahre
32 Jahre
Sohn des Ba'l-'ezor.
125[6]
Phygmalion
47 Jahre
11 Jahre
58 Jahre
Nachfolger des Metten. Im siebten Jahr seiner Herrschaft erbaute seine Schwester, die geflohen war, in Libyen die Stadt Karthago.

Bewertung der Quellen von Flavius Josephus

Theophilus von Antiochien bewertet diese Angaben von Flavius Josephus als mögliche Quelle von Menander von Ephesus. Untersuchungen des Textmaterials machen es jedoch wahrscheinlich, dass die vorliegende „Chronik der tyrischen Könige“ weder von Flavius Josephus noch von Menander von Ephesus stammt. Ein unbekannter jüdischer Exzerptor wird wohl die verwendeten Angaben von Flavius Josephus angefertigt haben. Die Einzelheiten und Verweise beinhalten als weitere Textquelle das alttestamentliche erste Buch der Könige (6,38 EU). Die textliche Sprache der „Chronik der tyrischen Könige“ trägt mehrheitlich jüdische Stilmittel. Daneben stammen einige Abschnitte offenbar von einem byzantinischen Abschreiber, der wohl Details verkürzte, woraus sich mathematische Fehler in der Berechnung ergaben.[8]

Die Beweggründe, warum die tyrische Königschronik in das Werk von Flavius Josephus eingebunden wurde, liegen im Interesse des beziehungsweise der Schreiber, die die Geschichte Israels historisch belegen wollen. Die inhaltlichen Ausführungen beinhalten Widersprüche und Fehler. Um den Tempelbau von Jerusalem mit „143 Jahren und acht Monaten“ vor der Gründung Karthagos bestimmen zu können, muss ein Rückgriff auf andere Quellen erfolgt sein, deren Herkunft jedoch verschwiegen wird. Aus Parallelüberlieferungen wird klar, dass jene Datierung biblischen Quellen entnommen wurde. Dort wird der Tempelbau abweichend im elften Regierungsjahr des Hirom genannt. Die Behauptung von Flavius Josephus, dass in den Urkunden der Phönizier der Tempelbau vermerkt wurde, ist wohl unwahrscheinlich. Die möglicherweise vorliegenden Quellen des Dios und Menander von Ephesus wurden missverstanden, da dort im Zusammenhang mit Hirom nicht vom Tempelbau Jerusalems die Rede ist, sondern vom Tempel der Stadt Tyros, für dessen Errichtung das benötigte Holz aus dem Libanon-Gebirge bestimmt gewesen war.[9]

Die Informationen über die Regierungszeiten der tyrischen Könige waren bereits bei Einbau in die Josephus-Texte fehlerhaft. König „Ito-ba'l“ soll seinen Sohn „Ba'l-'ezor“ schon im Alter von acht Jahren gezeugt haben; „Ba'l-manzer“ seinen Sohn „'Abd'-aštart“ bereits mit zwölf Jahren. Dagegen sind die überlieferten „155 Jahre und acht Monate“ durch Parallelbezeugungen als gesichert anzusehen. Die Schreiber, die jene Informationen übernahmen, rechneten offensichtlich die Angaben nicht nach, da ansonsten sicherlich eine Angleichung vorgenommen worden wäre. Die Erwähnung, dass Salomos Tempel im zwölften Jahr fertiggestellt war, ist ein Rückschluss desjenigen, der sich für die Berechnungen verantwortlich zeichnet. Die Texte des griechischen Ethnographen Menander von Ephesus, Schüler des Aristarchs, sind als seriöse Textquelle einzuordnen. Die Altersangaben der tyrischen Könige sind daher zweifelsfrei keiner historischen Quelle entnommen.[10]

Bewertung weiterer inhaltlicher Aussagen

Golf von Tunis aus dem All

Einzig der Historiker Junianus Justinus nennt die Gründung Karthagos in Verbindung mit „Elissa“, punisch „'Išt“. Elissa soll die Tochter des Königs Mutto gewesen sein. Aufgrund ihrer Verfolgung durch ihren Bruder Phygmalion gelangte sie über Zypern an den Golf von Tunis. Anschließend soll sie von Einheimischen Land erworben haben, um die Stadt Karthago zu gründen. Der Name „'Išt“ ist in der punischen Onomastik mehrfach bezeugt, wobei dessen Bedeutung „die Aktive“ nicht sicher geklärt ist.[11]

In der tyrischen Onomastik ist hingegen der Name „Phygmalion“ unbekannt. Dass eine Frau eine so weitreichende Expedition leitete, entspricht nicht den damaligen Gegebenheiten und ist daher wenig glaubhaft. Ebenfalls umstritten ist das Bestehen eines „Elissa-Kultes“. Die vorherige Flucht hat außerdem legendenhafte Züge. Weitere Einzelheiten der Geschichte sind aufgrund der griechischen Volksetymologie entstanden. Insgesamt ist daher die „Quelle Justinus“ als wenig zuverlässig zu werten. Sichere Belege für die Gründung Karthagos fehlen damit vollständig.[11]

Siehe auch

Literatur

  • Folker Siegert: Flavius Josephus: Über die Ursprünglichkeit des Judentums (Contra Apionem). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2008, ISBN 978-3-525-54206-4
    • Bd. 1: Erstmalige Kollation der gesamten Überlieferung (griechisch, lateinisch, armenisch), literarkritische Analyse und deutsche Übersetzung (Schriften des Institutum Judaicum Delitzschianum 6,1).
    • Bd. 2: Beigaben, Anmerkungen, griechischer Text (Schriften des Institutum Judaicum Delitzschianum 6,2).
  • Dagmar Labow: Flavius Josephus „Contra Apionem“, Buch I: Einleitung, Text, textkritischer Apparat, Übersetzung und Kommentar. Stuttgart 2005. ISBN 3-17-018791-0
  • Karl Mras: Eusebius Werke, Bd. 8.1: Die Praeparatio evangelica: Einleitung, die Bücher I - X. Hinrichs, Leipzig 1954
  • Karl Mras: Eusebius Werke, Bd. 8.2: Die Praeparatio evangelica, Die Bücher XI - XV. Hinrichs, Leipzig 1956

Einzelnachweise

  1. a b c d Folker Siegert: Flavius Josephus: Über die Ursprünglichkeit des Judentums, Bd. 1. S. 70.
  2. Folker Siegert: Flavius Josephus: Über die Ursprünglichkeit des Judentums, Bd. 1. S. 65.
  3. Folker Siegert: Flavius Josephus: Über die Ursprünglichkeit des Judentums, Bd. 1.. S. 71.
  4. Folker Siegert: Flavius Josephus: Über die Ursprünglichkeit des Judentums, Bd. 2. S. 45.
  5. a b c d e f Folker Siegert: Flavius Josephus: Über die Ursprünglichkeit des Judentums, Bd. 1. S. 119 und 121–122.
  6. a b c d e f g h i j k l m Überliefert in: „Anecdota“, Eusebius (lateinische Fassung), „Codex Laurentianus“, „Codex Schleusingensis“, „Codex Eliensis“, „Codex M“, Theophilus von Antiochien und Georgios Synkellos.
  7. Überliefert in: „Anecdota“, Eusebius (lateinische Fassung), „Codex Laurentianus“, „Codex Schleusingensis“ und „Codex Eliensis“.
  8. Folker Siegert: Flavius Josephus: Über die Ursprünglichkeit des Judentums, Bd. 1. S. 120–121.
  9. Folker Siegert: Flavius Josephus: Über die Ursprünglichkeit des Judentums, Bd. 2. S. 51.
  10. Folker Siegert: Flavius Josephus: Über die Ursprünglichkeit des Judentums, Bd. 1. S. 35.
  11. a b Werner Huss: Geschichte der Karthager (Abteilung 3, Teil 8). Beck, München 1985, ISBN 3-406-30654-3, S. 41–42.

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