Die Karawane und die Auferstehung

Die Karawane und die Auferstehung

Die Karawane und die Auferstehung ist eine kurze Erzählung von Ingeborg Bachmann, die am 25. Dezember 1949 in der „Wiener Tageszeitung“ mit einem Holzschnitt von Werner Berg[1] unter dem Titel „Karawane im Jenseits“ abgedruckt wurde.[2] Eine Zweitfassung brachte der „Wiener Kurier“ zu Ostern 1952.[3][A 1]

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

Handlung

Ein gestorbener Greis findet sich im Jenseits wandernd in einer Wüste wieder. Darin sind einige irdische Gesetze der Logik anscheinend aufgehoben. Obwohl der Alte erst kurze Zeit unterwegs ist, kann er die Einöde nicht überblicken. In einem Zwielicht sind weder Schatten noch Farben erkennbar. Während der Tote anfangs allein marschierte, gesellt sich nun ein fröhlicher kleiner Junge ihm zu. Dem nicht genug. Der Leichenzug wächst an zur Karawane, die außerdem noch aus einem jungen Mädchen, einem jungen Versehrten und einer Greisin besteht. Keiner der drei Hinzugekommenen ist fröhlich, doch jeder hat noch ein paar von seinen Gedanken festhalten können - an die Familie, an die Mitmenschen, an seinen Tod vor Gott oder an die Jahreszeit Frühling am Todestag. Der kleine Junge weiß nichts von der Familie, von Mitmenschen, vom Sterben vor Gott, geschweige denn vom Frühling. Sein ganzes kurzes Leben hat er ohne einen Mucks auf dem Fleck im Waisenhaus gelegen. Die Leere und die Weite der oben beschriebenen Wüste sind ihm vertraut. Da überkommt dem Kleinen - initiiert durch furchtbar laut ertönenden Glockenklang - eine nicht gekannte Fröhlichkeit. Die treibt ihn an. Er springt vor zu dem Greis an den Kopf der Karawane. Als der kleine Junge mit dem alten Mann reden will, bekommt er keine Antwort. Niemand der anderen drei Toten antwortet. Der Junge brennt. Die Wanderer „sind nicht mehr“[4]. Anstelle des Kleinen brennt ein Flämmchen in der hereingebrochenen totalen Finsternis.

Form

Als der Kleine spricht und der junge Versehrte ihm antworten möchte, aber nicht mehr kann, geht Ingeborg Bachmann für den Rest des kurzen Textes vom Präteritum in das Präsens über.

Rezeption

Die Autorin habe die Karawane der Toten aus der Vorstellungswelt des Alten Orients übernommen und an die Stelle der garstigen Dämonen in der sonst menschenleeren Wüste den schauerlich dröhnenden Glockenklang gesetzt[5]. Als der kleine Junge nach jenem akustischen Einbruch in die Abgeschiedenheit auf einmal aller Sprachen gewärtig ist, ohne eine einzige zu sprechen[6], wird Bartsch[7] an Wittgensteins Tractatus erinnert: Erkennte der Mensch diese Welt auch außerhalb unserer Sphäre, könnte er seine famose Erkenntnis uns doch nicht mitteilen, eben weil sie unaussprechlich sei. Dennoch habe Ingeborg Bachmann für jenes Unaussprechliche das Bild der reinen Flamme - offenbar vom brennenden Dornbusch entlehnt - gefunden. Die Auferstehung - mit Metaphern wie Feuer verbunden - sei zwar nicht verifizierbar, wohl aber durch jenes mystische Bild von der „Überwindung des Diffusen“[8] durch diese Flamme vermittelbar. Noch eingängiger als Bartschs „Erklärung“ des oben genannten Sprachenwunders ist Weigels Referenz auf das Pfingstwunder.[9]

Beicken[10] sieht das Tröstliche in dieser Allegorie. Gerade das angreifbare Individuum könne unter Umständen erlöst werden.

Literatur

Textausgaben

Verwendete Ausgabe
  • Christine Koschel (Hrsg.), Inge von Weidenbaum (Hrsg.), Clemens Münster (Hrsg.): Ingeborg Bachmann. Werke. Zweiter Band: Erzählungen. 609 Seiten. Piper, München 1978 (5. Aufl. 1993), ISBN 3-492-11702-3, S. 23-27

Sekundärliteratur

  • Otto Bareiss, Frauke Ohloff: Ingeborg Bachmann. Eine Bibliographie. Mit einem Geleitwort von Heinrich Böll. Piper, München 1978. ISBN 3-492-02366-5
  • Peter Beicken: Ingeborg Bachmann. Beck, München 1988. ISBN 3-406-32277-8 (Beck'sche Reihe: Autorenbücher, Bd. 605)
  • Kurt Bartsch: Ingeborg Bachmann. Metzler, Stuttgart 1997 (2. Aufl., Sammlung Metzler. Band 242). ISBN 3-476-12242-5
  • Monika Albrecht (Hrsg.), Dirk Göttsche (Hrsg.): Bachmann-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Metzler, Stuttgart 2002. ISBN 3-476-01810-5
  • Sigrid Weigel: Ingeborg Bachmann. Hinterlassenschaften unter Wahrung des Briefgeheimnisses. dtv, München 2003 (Zsolnay, Wien 1999). ISBN 3-423-34035-5, S. 52-53 und S. 69-71

Anmerkung

  1. Nach Weigel (Weigel, S. 52-53 oben) markiert das kleine Prosastück einen temporären Wendepunkt in Ingeborg Bachmanns Schaffen. Ihr Auftritt ein paar Wochen später in Niendorf leitete den Aufstieg als Lyrikerin ein.

Einzelnachweise

  1. Bareiss, Ohloff, S. 18, Eintrag 42
  2. Verwendete Ausgabe, S. 602, letzter Eintrag
  3. Weigel, S. 52 Mitte
  4. Verwendete Ausgabe, S. 27, 4. Z.v.u.
  5. Jost Schneider in: Albrecht und Göttsche, S. 108, rechte Spalte, Mitte
  6. Verwendete Ausgabe, S. 27, 2. Z.v.o.
  7. Bartsch, S. 46 unten
  8. Bartsch, S. 47 Mitte
  9. Weigel, S. 70 Mitte
  10. Beicken, S. 63 unten

Wikimedia Foundation.

Игры ⚽ Поможем сделать НИР

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Die Zikaden — ist ein Hörspiel von Ingeborg Bachmann, das Ende 1954 in Neapel[1] entstand und am 25. März 1955 mit Musik von Hans Werner Henze im NWDR Hamburg gesendet wurde. Im selben Jahr lag der Text im Druck vor („Hörspielbuch 1955“ (Bd. 6), Europäische… …   Deutsch Wikipedia

  • Die Fähre (Ingeborg Bachmann) — Die Fähre ist die erste Veröffentlichung von Ingeborg Bachmann.[1] Die kleine Erzählung erschien am 31. Juli 1946 in der Kärntner Illustrierten in Klagenfurt.[2] Die Autorin hatte den Text Anfang Juli 1945 entworfen. Eine Überarbeitung wurde am… …   Deutsch Wikipedia

  • Die Geschichten Jaakobs — Joseph und seine Brüder ist eine Roman Tetralogie von Thomas Mann. Es ist das umfangreichste Romanwerk des Autors. Die vier Teile wurden zwischen 1933 und 1943 veröffentlicht. Inspiriert durch eine Palästinareise im Jahr 1925, begann Thomas Mann… …   Deutsch Wikipedia

  • Im Himmel und auf Erden (Ingeborg Bachmann) — Im Himmel und auf Erden ist eine kurze Erzählung von Ingeborg Bachmann, die am 29. Mai 1949 in der „Wiener Tageszeitung“ publiziert wurde.[1][2] Inhaltsverzeichnis 1 Inhalt 1.1 Handlung 2 …   Deutsch Wikipedia

  • Joseph und seine Brüder — ist eine Roman Tetralogie von Thomas Mann. Es ist das umfangreichste Romanwerk des Autors. Die vier Teile wurden zwischen 1933 und 1943 veröffentlicht. Inspiriert durch eine Palästinareise im Jahr 1925 begann Thomas Mann 1926 in München mit der… …   Deutsch Wikipedia

  • Ingeborg Bachmann — Büste in Klagenfurt Ingeborg Bachmann (* 25. Juni 1926 in Klagenfurt; † 17. Oktober 1973 in …   Deutsch Wikipedia

  • Das dreißigste Jahr — ist ein von Ingeborg Bachmann zuerst 1961 veröffentlichter Zyklus von sieben Erzählungen, die sich mit Themen der Nachkriegszeit in Österreich und Deutschland beschäftigen. Obgleich die Öffentlichkeit auf diesen ersten Prosatext der Autorin… …   Deutsch Wikipedia

  • Wettlauf nach Bombay — Filmdaten Deutscher Titel Wettlauf nach Bombay Originaltitel La nouvelle malle des Indes …   Deutsch Wikipedia

  • Reklame (Ingeborg Bachmann) — Reklame ist eines der bekanntesten Gedichte der österreichischen Lyrikerin Ingeborg Bachmann. Es wurde 1956 in ihrem zweiten Gedichtband Anrufung des großen Bären veröffentlicht. Seitdem wurde Reklame in zahlreichen Anthologien der… …   Deutsch Wikipedia

  • Der Fall Franza — ist ein unvollendeter Roman von Ingeborg Bachmann, der 1966[1] abgebrochen wurde. Im selben Jahr las die Autorin im NDR Hannover aus dem Werk[2]. Ingeborg Bachman hat in dem Fragment unter anderem ihre Ägypten/Sudan Reise vom Frühjahr 1964… …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”