Nikolaus Riehl

Nikolaus Riehl

Nikolaus Riehl (* 5. Dezember 1901 in Sankt Petersburg; † 1990) war ein russisch-deutscher Nuklearchemiker.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Seine Mutter war Russin, sein Vater war ein Ingenieur bei Siemens & Halske. Riehl sprach fließend russisch und deutsch. Er lebte bis 1919 in Russland.

Im Rahmen der deutsch-sowjetischen Militärkooperation studierte er von 1920 bis 1927 an der Staatlichen Polytechnischen Universität Sankt Petersburg und der Humboldt-Universität zu Berlin. 1927 promovierte er über einen Geigerzähler für Beta-Strahlen-Spektroskopie. [1] [2]

Auergesellschaft

Riehl fand eine Anstellung bei der Auergesellschaft, die zum Phöbuskartell gehörte, Glühlampen (mit Glühfäden aus Wolfram), Röntgenartikel und radioaktiven Stoffe herstellte (Thorium-X wurde als Zahncreme Doramad) und schon in den 1930er Jahren der umsatzstärkste Gasmaskenproduzent des Deutschen Reichs war. Riehl firmierte in dieser Zeit als Leiter der wissenschaftlichen Laboratorien der Auergesellschaft und war in der Akquisition tätig.

Im Rahmen von Akquisition hatte Riehl Kontakt mit Hans-Joachim Born, Alexander Catsch und Karl Zimmer, welche im Institut für Experimentelle Genetik der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft in Berlin-Buch unter Nikolai Wladimirowitsch Timofejew-Ressowski forschten. Mit Paul Max Wolf, einem Mitarbeiter der wissenschaftlichen Laboratorien der Auergesellschaft, und Karl Zimmer (1911–1988) wurden Forschungen mit Röntgen-Bestrahlung in der Genetik durchgeführt. Als Ergebnis veröffentlichten Nikolai Wladimirowitsch Timofejew-Ressowski, Max Delbrück, Zimmer und Riehl 1935 die interdisziplinäre Studie Über die Natur der Genmutation und Genstruktur[3]. In dieser Studie wurde die Treffertheorie der biologischen Strahlenwirkung postuliert. [4]

Am 9. September 1939 wurde Riehl Leiter der Uranproduktion der Auergesellschaft. Paul Max Wolf wurde Leiter der radiologischen Abteilung der Auergesellschaft. Hans-Joachim Born vom Chemischen Laboratorium Philipp Hoernes war Fabrikleiter des Werkes seltene Erden in Oranienburg der Auergesellschaft.

Am 1. Oktober 1938 besetzten deutsche Truppen das Sudetenland und die Auergesellschaft beutete nun Uranminen in Jáchymov aus. [5] Von 1939 bis 1945 war die Auergesellschaft dem SS-Wirtschaftsbetrieb Seltene Erden Oranienburg angegliedert welcher von Egon Ihwe geleitet wurde, und belieferte das Uranprojekt mit Uran. Unter der Leitung von Abraham Robert Esau arbeitete seit dem 29. April 1939 der »Uranverein« in Berlin. Paul Harteck machte in einem Schreiben vom 24. April 1939 an Erich Schumann (Wissenschaftler) auf die Bedeutung der Kernspaltung aufmerksam, worauf der Uranverein dem Heereswaffenamt unterstellt wurde.

Als nächstes wurden für die Auergesellschaft die Bestände des französischen Unternehmens Joliot beschlagnahmt. Der Leiter des Unternehmens Henry Joliot war 1870/71 Mitglied der Pariser Kommune gewesen. Als er nach einer Amnestie aus Belgien zurückkehrte eröffnete er einen Handel mit seltenen Erden aus Belgisch Kongo. Sein jüngster Sohn, der bekannte Physiker Frédéric Joliot-Curie bestellte 1939 sechs Tonnen Uran-Oxid in Belgisch Kongo für das Curie Institut in Paris. [6] Joliot ließ über Jacques Allier im Februar 1940 185 Kilogramm schweres Wasser von der "Norsk-Hydro" aus Rjukan liefern. [7]

Unter der Aufsicht von Oswald Maier wurde das Unternehmen Joliot nach der deutschen Besetzung Frankreichs beschlagnahmt und die geraubten Metalle nach Oranienburg zur Auergesellschaft verbracht. Als die US-Amerikaner über die Alsos-Mission in Straßburg erfuhren, dass die Schwermetalloxide in einem Werk 15 Meilen nördlich von Berlin gesammelt wurden, wurde das Werk Ziel eines alliierten Luftangriffs. Am 15. März 1945 warfen 612 Boeing B-17 der 8. US-Luftflotte nach einer Planung von Carl A. Spaatz innerhalb von 30 Minuten 1.506 Tonnen Spreng- und 178 Tonnen Brandbomben auf das Werk der Auergesellschaft in Oranienburg ab. Um das Ziel des Angriffes zu kaschieren wurde auch das Oberkommando bei Zossen angegriffen. Im Entschädigungsantrag der Auergesellschaft von Anfang April 1945, wurde der Schaden, im Werk Oranienburg, basierend auf der Bilanzunterlagen vom Juni 1944, mit 61 Millionen Reichsmark beziffert.

Riehl in der Sowjetunion

Am 21. April 1945 untersuchten sowjetische Experten den zerstörten Betrieb in Oranienburg. Riehl wurde, wie andere leitende Mitarbeiter, von Georgi Nikolajewitsch Fljorow und Lew Andrejewitsch Arzimowitsch verhört, Patente, Dokumente, Laborausrüstung, Schwermetalle beschlagnahmt. Zu den beschlagnahmten Schwermetallen gehörten: 900 Tonnen Monazitsand, 125 Tonnen Thoriumverbindungen, etwa 100 Tonnen Zirkon. [8] Etwa 40 der knapp 100 russischen Wissenschaftler des sowjetischen Atombombenprojektes im Labor 2 suchten in den von der Roten Armee eroberten Gebieten nach Wissenschaftlern und Uran. Nach Gesprächen mit Juli Borissowitsch Chariton in Berlin wurden am 9. Juli 1945 eine Reihe deutscher Wissenschaftlern mit ihren Familien in die UdSSR ausgeflogen. Vom NKWD wurden unter Anderen Manfred von Ardenne, Gustav Hertz, Peter Adolf Thiessen und Max Volmer „rekrutiert“ und in die Sowjetunion gebracht. [9] Die Rote Armee stellte in Oranienburg annähernd 100 Tonnen Uranoxid sicher, was etwa 25 bis 40 % des Urans entsprach welches insgesamt aus dem Gebiet des Deutschen Reiches und Tschechiens kurz nach dem 8. Mai 1945 in die Sowjetunion gebracht wurde. Chariton schätzte den durch das gefundene Uran erzielten Zeitgewinn bei der Förderung und Anreicherung von Uran zum Erstellen der ersten sowjetischen Bombe auf etwa ein Jahr ein.

Von 1945 bis 1950 leitete Riehl die Uran-Produktion im Werk Nr. 12 in Elektrostal (Электросталь). Unter der Leitung von Riehl arbeiteten im Werk 12 aus dem Deutschen Reich: A. Baroni, Hans-Joachim Born, Alexander Catsch, Werner Kirst, H. E. Ortmann, Przybilla, Herbert Schmitz, Walter Sommerfeldt, Herbert Thieme, Tobein, Günter Wirths und Karl Günter Zimmer. Das Werk Nr. 12 in Elektrostal lieferte ab dem letzten Quartal des Jahres 1946 pro Woche etwa drei Tonnen metallisches Uran an das Labor Nr. 2. Am 29. August 1949 wurde die erste sowjetische Atombombe gezündet.[10] Ab 1950 wurde die Produktion auf etwa eine Tonne pro Tag gesteigert, wobei das Werk nicht die einzige Anreicherungsstätte für Uran war.

Nach der Zündung der ersten sowjetischen Atombombe war Riehl im Werk 12 nicht mehr erforderlich. Von 1950 bis 1952 leitete Riehl ein Institut im Labor B in Sungul (Объект 0211), wohin schon 1947 Hans-Joachim Born, Alexander Catsch und Karl Zimmer versetzt wurden. Mit Riehl kamen nun H. E. Ortmann, A. Baroni und Herbert Schmitz nach Sungul. In Sungul waren nie mehr als 26 Deutsche, bei insgesamt 95 Mitarbeitern 1946 und 451 im Jahr 1955.

In diesem Institut arbeiteten neben Anderen folgende Deutsche: Renata von Ardenne (die Schwester von Manfred von Ardenne), Wilhelm Menke, Willi Lange, Joachim Pani, Kurt Rintelen, Werner Czulius, Hans Jürgen von Oertzen, Ernst Rexer und Carl Friedrich Weiss[11]. Im Institut Sungul wurden radioaktive Stoffe, welche in den Reaktoren erzeugt wurden, verarbeitet und es wurde Forschung auf den Gebieten Radiobiologie, Radiochemie und Dosimetrie betrieben. Das Institut hatte auch den Namen Labor B, und wurde vom 9. Direktorat des MVD überwacht.

Nikolai Wladimirowitsch Timofejew-Ressowski war in Berlin vom NKWD verhaftet worden und zu zehn Jahren Gulag verurteilt worden. 1947 wurde die Strafe in einen Aufenthalt in einem Gefängnislabor (einer Scharaschka) umgewandelt. Timofejew-Ressowski wurde dort gesund gepflegt und nach Sungul geschickt, wo er sich an der Entwicklung der sowjetischen Atombombe beteiligte und die Radiobiologie leitete. Sergej Aleksandrovich Voznesenskij leitete die Radiochemie. Im Labor B, forschten Born, Catsch, und Zimmer an ähnlichen Themen wie in Berlin-Buch.

Für seine Arbeiten am sowjetischen Kernforschungsprojekt erhielt Riehl den Stalinpreis, den Leninpreis und den Orden des Roten Banners der Arbeit. Zu den Preisen gehörte auch eine Datscha westlich von Moskau.

Riehl in der Bundesrepublik Deutschland

1952 bekundet Riehl den Willen zurück nach Deutschland zu wollen, worauf er von 1952 bis 1954 nach Agudzera im Distrikt Gulripsh verbannt wurde.

Am 4. April 1955 kam Riehl in der Deutschen Demokratischen Republik an und reiste Anfang Juli 1955 in die Bundesrepublik Deutschland weiter.

Er ging an das Institut für Physik der Technische Universität München, wo er bei Heinz Maier-Leibnitz arbeitete und 1957 an der Einrichtung des Forschungsreaktors in Garching beteiligt war. 1961 erhielt er eine ordentliche Professur für Physik und konzentrierte sich auf die Festkörperphysik, im Besonderen auf die Physik von Eis und der Spektroskopie von Festkörpern. [12]

Riehl und seine Frau Ilse hatten zwei Töchter Ingeborg, Irene und einen Sohn.

Werke

  • Nikolaus Riehl und Heinrich Ortmann: Über den Aufbau der Zinksulfid-Luminophor (Verl. Chemie, 1957)
  • Heinz Barwich and Elfi Barwich: Das rote Atom (Fischer-TB.-Vlg., 1984)
  • Riehl, Nikolaus, Bernhard Bullemer, und Hermann Engelhardt (Hrsg.): Physics of Ice. Proceedings of the International Symposium, München, 1968 (Plenum, 1969)
  • Fred Fischer und Nikolaus Riehl: Einführung in die Lumineszenz (Thiemig, 1971)
  • Nikolaus Riehl Stalin´s Captive. Nikolaus Riehl and the soviet race for the bomb, American Chemical Society 1996 (Übersetzung und Vorwort Frederick Seitz)

Literatur

  • Albrecht, Ulrich, Andreas Heinemann-Grüder, und Arend Wellmann: Die Spezialisten : Deutsche Naturwissenschaftler und Techniker in der Sowjetunion nach 1945. Dietz, 1992
  • Heinemann-Grüder, Andreas: Die sowjetische Atombombe. Westfälisches Dampfboot, 1992

Siehe Auch

Göttinger Achtzehn

Einzelnachweise

  1. Nikolaus Riehl, Frederick Seitz, Stalin's captive:Nikolaus Riehl and the Soviet race for the bomb
  2. http://zs.thulb.uni-jena.de/servlets/MCRSearchServlet?mode=results&id=tipqammvkd1gg02kf5k8&numPerPage=10
  3. Nachrichten von der Gesellschaft der Wissenschaft zu Göttingen, Über die Natur der Genmutation und Genstruktur
  4. Florian Schmaltz, Kampfstoff-Forschung im Nationalsozialismus: Zur Kooperation von Kaiser-Wilhelm-Instituten, Militär und Industrie. Geschichte der Kaiser-Wilhelm- Gesellschaft im Nationalsozialismus, Göttingen: Wallstein, 2005. 676S. S. 252
  5. So groß wie eine Ananas .... In: Der Spiegel. Nr. 23, 1967 (29. Mai 1967, online).
  6. Le Monde, August 15, 1958, OBITUARY of FREDERIC JOLIOT-CURIE
  7. Heiße Grapefruit. In: Der Spiegel. Nr. 29, 1993 (19. Juli 1993, online).
  8. Rainer Karlsch, Zbynek Zeman, Urangeheimnisse: das Erzgebirge im Brennpunkt der Weltpolitik 1933 - 1960 S. 32
  9. Zhores A. Medvedev, Roy Aleksandrovich Medvedev, Ellen Dahrendorf, The unknown Stalin, S. 120
  10. http://www.zeit.de/1999/35/Eine_perfekte_Kopie
  11. Die Abteilung V für Atomphysik und physikalischer Chemie der Physikalisch-Technische Reichsanstalt unter Leitung von Dr. Carl-Friedrich Weiss wurde wegen Platzmangels in Weida nach Ronneburg in die Firmenräume der Firma Clad umgesetzt.
  12. http://www.physik.tu-muenchen.de/einrichtungen/department/history

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