- Evangelisch-lutherische Russlanddeutsche
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Evangelisch-lutherische Russlanddeutsche sind die bedeutendste konfessionell gekennzeichnete Gruppe der deutschen Minderheit in Russland.
Inhaltsverzeichnis
Geschichte der evangelischen Russlanddeutschen
Anfänge im Zarenreich
Bereits im 16. Jahrhundert lebte eine Anzahl evangelisch-lutherischer Deutscher im Zarenreich. Evangelisch-lutherische Russlanddeutsche sind aber im Wesentlichen die Nachfahren der Deutschen, die ab 1763 als Siedler nach Russland gerufen wurden. Den Kolonisten war Glaubensfreiheit zugesichert worden. Von Anfang an gehörte die überwiegende Mehrheit der Russlanddeutschen der evangelisch-lutherischen Konfession an. Was die Kopfstärke betraf, so stellte die evangelisch-lutherische Kirche nach der Russischen Orthodoxen Kirche und nach der Katholischen Kirche für einige Zeit die drittgrößte christliche Kirche in Russland dar. 1897 gehörten 76% der Deutschen im Zarenreich der evangelisch-lutherischen Konfession an, 3,6% waren Reformierte. Pietistische Gruppierungen, die sog. „Brüder“, spielten eine bedeutende Rolle.
Aufbau bis zum Ende des Zarenreichs
Der Aufbau einer Kirchenorganisation vollzog sich schleppend. Schließlich rief Zar Nikolaus I. als Oberhaupt aller Kirchen in seinem Reich 1832 per Dekret die „Evangelisch-Lutherische Kirche in Russland“ ins Leben. Diese Kirche umfasste erstmals (nahezu) das ganze russische Reich. Sie war in verschiedene Konsistorien untergliedert. Die lutherische Kirche erhielt im Vergleich zur Russisch-Orthodoxen Kirche den Rang einer Kirche minderen Rechts, die Lutheraner gehörten nur einer geduldeten Konfession an. Mission unter den Orthodoxen blieb wie schon zuvor verboten; die Russisch-Orthodoxe Kirche durfte aber unter den anderen christlichen Konfessionen missionieren.
Neuaufbau nach der Oktoberrevolution 1917
Die Abdankung von Zar Nikolaus II. 1917 bedeutete für die Evangelisch-Lutherische Kirche den Verlust sowohl der bisherigen staatlichen Obrigkeit als auch des obersten Kirchenherrn. Einen neuen Rahmen gab die bolschewistische Regierung vor, die mit der Oktoberrevolution an die Macht gekommen war. Sie liquidierte am 2./15. November 1917 a.St./n.St. die Vorrechte aller christlichen Bekenntnisse und am 11./24. Dezember 1917 a.St./n.St. den Religionsunterricht in den Schulen. Mit dem 20. Januar/2. Februar 1918 a.St./n.St. folgte das Gesetz über die Trennung von Staat und Kirche.
Die nach der Revolution in der Evangelisch-Lutherischen Kirche notwendig gewordenen Reformen beschloss 1924 eine Generalsynode. Sie entschied sich für eine synodale Verfassung und einen dreistufigen Kirchenaufbau. Die Verfassung sah auf der unteren Stufe Einzelgemeinden und Kirchspiele vor. Darüber angesiedelt waren die Propstbezirke, die wiederum unter der Generalsynode standen.
Verfolgung und Zerstörung
In der Sowjetunion wurde eine atheistische Staatsideologie eingeführt. Sie zielte auf die Entkirchlichung der Bevölkerung und letzten Endes auf die Zerstörung des Glaubens bzw. auf die Vernichtung derer, die glaubten. Nach einer kurzen und relativ ruhigen Konsolidierungsphase erlitten die evangelisch-lutherischen Russlanddeutschen wie die anderen Konfessionen und Religionsgemeinschaften massive Verfolgungen. Die Sicherheitsbehörden verhafteten zahlreiche Pastoren, engagierte Laien und einfache Gläubige; ein großer Teil von ihnen kam u.a. in Lagern ums Leben. Alle Kirchengebäude mussten schließen und keine der Gemeinden konnte mehr arbeiten. Ohne dass sie offiziell verboten worden wäre, wurde die Evangelisch-Lutherische Kirche in der Sowjetunion zwischen 1929 und 1938 faktisch vernichtet. Am 7. August 1938 wurde mit der Petri-Pauli-Kirche in Moskau die letzte offene Kirche der deutschen Lutheraner in der Sowjetunion geschlossen.
Parallel dazu erlitten die Russlanddeutschen bereits in den 1930er Jahren massive Deportationen. Schließlich wurde in Reaktion auf den deutschen Überfall auf die Sowjetunion ab 1941 die Masse der russlanddeutschen Bevölkerung in Gebiete östlich des Urals verbracht. Die Lage wurde noch durch die vielfache Inhaftierung Russlanddeutscher in besonderen Lagern verschärft.
Einzelgemeinden nach Ende des Zweiten Weltkriegs
Während und nach dem Krieg konnten die evangelisch-lutherischen Russlanddeutschen ihren Glauben nur im Geheimen ausüben. Heimlich traf man sich in Wälder, Bergwerkstollen oder in abgelegenen Gebäuden. Praktizierende Christen mussten mit Verhaftung und hohen Strafen rechnen. Dennoch sammelten sich nach und nach kleine, pietistisch geprägte Gruppen und Gemeinden. Diese Gemeinden waren z. B. auf Grund der unter den Brüdergemeinden traditionell geübten selbständigen Bibelstudien und Schriftauslegung in der Lage, in der Verfolgungssituation auch ohne Kirchenorganisation und Versorgung durch Pastoren zu überleben. Bis zur Entlassung der Männer, die in viel stärkerem Maße als Frauen in die GULags verschleppt wurden, führten vor allem Frauen die Gemeinden.
Erstmals konnte 1957 in Akmolinsk eine Gemeinde von den Behörden „registriert“, also legalisiert werden, allerdings um den Preis der Anerkennung einschneidender staatlicher Vorschriften, wozu die Auflage gehörte, Kindern und Jugendlichen den Zugang zum Gottesdienst zu verwehren. Daher war in den Gemeinden der Schritt der Registrierung sehr umstritten. Bei allen methodischen und empirischen Schwierigkeiten hinsichtlich verlässlich quantifizierender Angaben ist die vorsichtige Schätzung erlaubt, dass es 1975 etwa 40 registrierte Gemeinden (1969: ca. 8 oder 9; 1980/81: ca. 150) bei vermutlich rund 280 existierenden Gemeinden (1969: ca. 160; 1980/81: ca. 500) gegeben hat. Ein Teil der Gemeinden durfte eigene Bethäuser errichten.
Zu den besonders ausstrahlungskräftigen Gemeinden zählten z. B. Akmolinsk (auch: Zelinograd/Akmola)/Oblast Zelinograd, Alma-Ata/Oblast Alma-Ata, Karaganda/Oblast Karaganda, Komsomolez/Oblast Kustanai, Krasnokamenka/Oblast Koktschetaw?, Krupskoje (Krupskaja)/Oblast Taldy Kurgan, Nagornoje/Oblast Koktschetaw, Semipalatinsk/Oblast Semipalatinsk, Taldykorgan/Oblast Taldy-Kurgan, Viktorowka/Oblast Koktschetaw, Kotowo (Kuttuvo/Kotschowar)/Oblast Wolgograd, Nischni Tagil/Oblast Swerdlowsk, Nowosibirsk/Oblast Nowosibirsk, Omsk/Oblast Omsk, Tomsk/Oblast Tomsk, Prochladnyj/Karb.-Balk. ASR (Nordkaukasus), Sosnowka/Oblast Omsk, Sot Oktjabrskij/Baschkortostan, Sysran/Oblast Kujbyschewsk, Boglastny (=Niwoga?), Frunse/Oblast Frunse, Kant/Oblast Kant, Tokmak/Oblast Frunse und Duschanbe/Duschanbe
Die Gemeinden wurden nahezu ausschließlich von pietistisch geprägten Laien geleitet. Offenbar hatten von etwa 100 Geistlichen um 1929 nur vier Pastoren die Verfolgungen überlebt: Eugen Bachmann, Arthur Pfeiffer und Johannes Schlundt sowie David Schaible (Scheible). Die ersten drei spielten jedoch eine nicht zu unterschätzende Rolle beim Wiederaufbau des Gemeindelebens. Zu den vielen Einzelaspekten, die in den Blick kommen, zählt die Herausbildung ritueller Besonderheiten (wie „Murmelgebet“ und „Fernbeerdigung“). Eine besondere Schwierigkeit bestand in der Versorgung der Gemeinden mit geistlicher Literatur. Deutschsprachige Bibeln, Predigt- und Gesangbücher waren auf legalem Wege nur sehr schwer und nie in ausreichender Menge zu erhalten. Daher gingen viele dazu über, die benötigte Literatur in mühsamer Arbeit mit der eigenen Hand anzufertigen. So waren z.B. zahlreiche Gemeinden bis in die 1990er Jahre hinein ganz überwiegend mit handgeschriebenen, teilweise mehrere Hundert Seiten starken Liederbüchern ausgestattet.
Der Umstand, dass Deutsch fast ausnahmslos die Verkündigungssprache in den Gemeinden blieb, stabilisierte die Gemeinden zunächst. Andererseits war damit die Grundlage für eine langfristig Existenz bedrohende Entwicklung gelegt: Unter den Russlanddeutschen wuchs eine Generation heran, die bei zunehmend geringeren eigenen Deutschkenntnissen immer stärker zur Verwendung des Russischen überging.
Übergemeindliche Kontakte in der Sowjetunion
Jahrzehntelang gab es auf dem riesigen Territorium der Sowjetunion nur wenige, schwach ausgeprägte übergemeindliche Kontakte. Zu ihnen gehörten z.B. die Besuchsreisen der wenigen überlebenden Pastoren und einer Reihe von Brüdern. Daneben stehen die gelegentlichen, quellenmäßig nur schwer zu fassenden „Brüderkonferenzen“. Dagegen spielten bestimmte Auslandskontakte eine beachtliche Rolle. Hier sind zunächst die Verbindungen von Karl Rose von der Humboldt-Universität Berlin zu nennen (in den späten 1940er und den 1950er Jahren), dann die Verbindungen des 1970 in Ostberlin gegründeten „Arbeitskreises für russische Kirchengeschichte“ und schließlich die Kontakte des etwa gleichzeitig in der Bundesrepublik begründeten „Andreaskreises“. Beide Kreise hielten geheime Kontakte zu evangelischen Gemeinden in der Sowjetunion, wenngleich das Ministerium für Staatssicherheit beide im Visier hatte, den einen mehr, den anderen weniger. Beide Kreise waren für die jeweiligen Landeskirchen der Evangelischen Union in Deutschland bzw. der EKD und sogar für den Lutherischen Weltbund bedeutende Informationsquellen.
Situation seit der Perestroika
Wiederbegründung einer Gesamtkirche
Der Aufstieg des Rigaer Pastors Harald Kalnins zu der Leitgestalt der evangelisch-lutherischen Russlanddeutschen hing mit seinen Auslandskontakten zusammen; auch seine Wahl zum Bischof, verbunden mit der nun schon im Zeichen der Perestroika erfolgenden Wiedergründung einer Gesamtkirche der russlanddeutschen Gemeinden im Jahre 1988, war eng mit Auslandskontakten verknüpft.
Auf Gemeindeebene ist der Niedergang der „Brüdergemeinden“ – vor allem durch die Massenmigration nach Deutschland und die weitgehende Beibehaltung der deutschen Verkündigungssprache – zu konstatieren, ebenso die gegenläufige Bewegung der Bildung eines neuen Gemeindetyps, der im Kontext des kulturnationalen Erwachens der Russlanddeutschen (Autonomiediskussion und Streben nach dem Status einer anerkannten Minderheit) entstand. Die neuen Gemeinden werden in Anlehnung an die gleichnamige Kulturorganisation etwas irreführend „Wiedergeburtsgemeinden“ genannt. Unter den um 2003 existierenden ca. 500 Gemeinden der Gesamtkirche halten sich der alte und der neue Gemeindetyp in etwa die Waage.
In den meisten ehemaligen Sowjetrepubliken haben sich regionale evangelisch-lutherische Kirchen konstituiert. Ihre Gemeinschaft bildet die Gesamtkirche, die „Evangelisch-Lutherische Kirche in Russland, der Ukraine, in Kasachstan und Mittelasien (ELKRAS)“. Die Leitungsorgane der Kirche, an deren Spitze ein Erzbischof steht, haben ihren Sitz in Sankt Petersburg. Seit der Gründung hat es eine Reihe von Spannungen, Konflikten und Neugründungen gegeben.
Aussiedeln nach Deutschland
Seit Beginn der Perestroika hat sich etwa eine Million einreisender Russlanddeutscher als evangelisch-lutherisch bekannt; sie sind ganz überwiegend den Landeskirchen beigetreten. Diese Konfession stellt somit unter allen russlanddeutschen Aussiedlern die zahlenmäßig mit Abstand größte Gruppe dar. Die Evangelische Kirche in Deutschland und ihre Landeskirchen, die Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche und einzelne Gemeinden boten v.a. in den 1990er Jahren besondere Betreuungsprogramme für Aussiedler an.
Außerdem bildeten sich ca. 350 Brüdergemeinden, die sich zu einem größeren Teil im landeskirchlichen Rahmen, zu einem kleineren außerhalb davon bewegen. Ihre Mitglieder stellen schätzungsweise bis zu 5% der evangelisch-lutherischen Aussiedler aus der früheren Sowjetunion. Die Brüdergemeinden zeichnen sich vor dem Hintergrund der Mehrheit der russlanddeutschen Aussiedler durch ein besonders intensives Glaubensleben aus. Dagegen besitzen viele Aussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion, die nicht zu den Brüdergemeinden zählen, nur ein sehr geringes Wissen über die wichtigsten Glaubensinhalte. Dieser Umstand hängt u.a. damit zusammen, dass in der atheistischen Sowjetunion die christliche Lehre weitgehend unterentwickelt war bzw. von Seiten der Behörden behindert wurde.
Die Brüdergemeinden sind untereinander nur lose vernetzt. Allerdings orientiert sich eine Anzahl der in Deutschland entstandenen russlanddeutschen Brüdergemeinden an der „Kirchlichen Gemeinschaft der Evangelisch-Lutherischen Deutschen aus Rußland e.V.“ in Bad Sooden-Allendorf.
Evangelisch-lutherische Russlanddeutsche bilden in Städten und Regionen wie z.B. im Emsland, Hannover, Ingolstadt, Neustadt an der Weinstraße, Paderborn, Gifhorn, Fulda[1] und in Wolfsburg besondere Schwerpunkte.
Literatur
- Amburger, Erik, Geschichte des Protestantismus in Rußland, Stuttgart 1961.
- Diedrich, Hans-Christian, "Wohin sollen wir gehen...". Der Weg der Christen durch die sowjetische Religionsverfolgung. Eine russische Kirchengeschichte des 20. Jahrhunderts in ökumenischer Perspektive, Erlangen 2007.
- Eyselein, Christian, Rußlanddeutsche Aussiedler verstehen. Praktisch-theologische Zugänge, Leipzig 2006.
- Graßmann, Walter, Geschichte der evangelisch-lutherischen Rußlanddeutschen in der Sowjetunion, der GUS und in Deutschland in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Gemeinde, Kirche, Sprache und Tradition, München 2006.
- Kahle, Wilhelm, Geschichte der evangelisch-lutherischen Gemeinden in der Sovetunion 1917-1938, Leiden 1974 (Studien zur Osteuropäischen Geschichte, Bd. 16).
- Kahle, Wilhelm, Die lutherischen Kirchen und Gemeinden in der Sowjetunion –seit 1938/1940 –, Gütersloh 1985 (Die Lutherische Kirche, Geschichte und Gestalten, Bd. 8).
- Kretschmar, Georg/Rathke, Heinrich, Evangelisch-Lutherische Kirche in Rußland, der Ukraine, Kasachstan und Mittelasien, St. Petersburg 1995.
- Курило, Ольга Вадимовна, Лютеранская церковь в советской России (1918-1950 гг). Документы и матералы, Москва 1997.
- Курило, Ольга Вадимовна, Очерки по истории лютеран в России (XVI-XX вв.), Москва 1996.
- Курило, Ольга Вадимовна, Лютеране в России. XVI-XX вв., Москва 2002.
- Лиценбергер, Ольга А., Евангелическо-лютеранская церковь и советское государство (1917-1938), Москва 1999.
- Stricker, Gerd, Deutsches Kirchenwesen, in: Gerd Stricker (Hg.), Deutsche Geschichte im Osten Europas. Rußland, Berlin 1997 (Deutsche Geschichte im Osten Europas, Bd. 8), S. 324-419.
- Willems, Joachim, Lutheraner und lutherische Gemeinden in Russland. Eine empirische Studie über Religion im postsowjetischen Kontext, Erlangen 2005.
- Willems, Joachim, Russian German Lutheran “Brotherhoods” in the Soviet Union and in the CIS: Comments on their Confessional Identity and on their Position in ELCROS, in: Religion, State & Society 3/30 (September 2002), S. 219-228.
Weblinks
- Graßmann, Walter, Geschichte der evangelisch-lutherischen Rußlanddeutschen in der Sowjetunion, der GUS und in Deutschland in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. - Gemeinde, Kirche, Sprache und Tradition, München 2006, URL, Stand 13. August 2006
Einzelnachweise
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