Evangelische Gesellschaft Stuttgart

Evangelische Gesellschaft Stuttgart

Die Evangelische Gesellschaft Stuttgart, die heute kurz „eva“ genannt wird, ist eine der bedeutendsten Einrichtungen der Diakonie in Deutschland.

Inhaltsverzeichnis

Entstehung der Evangelischen Gesellschaft Stuttgart

Im Jahr 1830 gründeten Esslinger Bürger auf Vorschlag des Vikars Christoph Ulrich Hahn eine „Gesellschaft zur Ausbreitung kleiner religiöser Schriften“, die nach zwei Jahren bereits 39.000, nach zwanzig Jahren rund 2.000.000. Schriften verteilt hatte. Die Verbreitung von Bibeln und evangelischer Erbauungsliteratur war anfangs, dem Geist der Zeit folgend, die zentrale Aufgabe der jungen Gesellschaft, die bald auch das Wochenblatt „Altes und Neues aus dem Reiche Gottes“ herausgab, eine Leihbibliothek betrieb und sich um die Weitergabe von Spenden an Bedürftige kümmerte.

1835 siedelte die Gesellschaft nach Stuttgart über. Das Geschäft der Schriftenverteilung wurde neu organisiert, 1846 wird ein erster „Kolporteur“ angestellt, der über Land reist und evangelisches Schrifttum vertreibt.

Vom Traktatverein zur Inneren Mission

Eine neue Richtung erhielt die Evangelische Gesellschaft, als Johann Heinrich Wichern 1848 auf dem Wittenberger Kirchentag den Anstoß zur Inneren Mission gibt und im Jahr darauf seine Ideen in Stuttgart vorstellte. Die Evangelische Gesellschaft richtete einen Besuchsdienst bei den Armen der Stadt ein, die Stadtmission entstand. Stadtmissionare kümmerten sich um Strafgefangene und die stetig wachsende Zahl der Industriearbeiterinnen und -arbeiter. Sie führten seelsorgerliche Gespräche und leisteten praktische Unterstützung. Treibende Kraft dieser Jahre war der Apotheker Gottlieb Scholl, der seit 1849 im Vorstand der Gesellschaft tätig war.

1858 erwarb die Gesellschaft ihre erste Immobilie und errichtete einen Saal für Vorträge und Erbauungsveranstaltungen. 1874 gründete sie die Buchhandlung und den Verlag. Im Jubiläumsjahr 1880 standen elf Kolporteure, drei Stadtmissionare, ein Sekretär, ein Geschäftsführer und Kassierer und drei Büroangestellte in Diensten der Evangelischen Gesellschaft. Seit 1903 betrieb sie ihr erstes Wohnheim für Mädchen, das Charlottenheim. 1905 erscheint erstmals das „Evangelische Gemeindeblatt für Stuttgart“, heute das „Evangelische Gemeindeblatt für Württemberg“.

Die Not der Kriegsjahre 1914 bis 1918 stellte die Stadtmission vor neue und große Herausforderungen. Die hungernde Bevölkerung wurde mit Naturalien versorgt. Auch das hundertjährige Jubiläum 1930 fiel in eine unruhige Zeit, in der die Arbeitslosigkeit viele Familien ins Elend stürzte. Seit 1926 betrieb die Evangelische Gesellschaft ein Übergangswohnheim für Mädchen, den Margaretenhort, drei Jahre später kam das Burg Reichenberg bei Oppenweiler als Auffangstelle für Prostituierte hinzu. Seit 1932 war die Mitternachtsmission Anlaufpunkt im Stuttgarter Rotlichtviertel.

Den Regierungsantritt der Nationalsozialisten registrierte man in der Evangelischen Gesellschaft zunächst hoffnungsvoll, dies jedoch nur kurze Zeit. Bereits im Sommer 1933 wurden Seelsorgebesuche in den Gefängnissen untersagt, die Kolporteure erhielten keine Gewerbebescheinigung mehr, die Stadtmission wurde als reichsfeindliche Organisation eingestuft. Während des Kirchenkampfes veröffentlichte der Verlag die Bekenntnispredigten von Bischof Theophil Wurm. 1939 wurde die Spenderzeitschrift „Schatten und Licht“ verboten. Auch der Vertrieb des Gemeindeblattes wurde zunehmend behindert, 1941 musste es sein Erscheinen einstellen. Durch die Bombardierungen verlor die Gesellschaft alle Heime und Häuser.

Neuanfang nach dem Zweiten Weltkrieg

Das Ende des Krieges brachte auch der Evangelischen Gesellschaft eine Vielzahl neuer Aufgaben. Sie betrieb nun eine Hilfsstelle für Rasseverfolgte und eine Stadtmission, bei der Obdachlose, Durchreisende, Flüchtlinge und Heimkehrer Rat und Hilfe suchen. Luftschutzbunker wurden zu Männerwohnheimen umfunktioniert. Bald begann der Wiederaufbau der zerstörten Häuser und Heime, darunter vor allem das 1966 fertig gestellte Männerwohnheim in Stuttgart-Rot, das heute nach seinem ersten Leiter Immanuel-Grözinger-Haus heißt. Mit 154 Zimmern auf dreizehn Stockwerken machte es Bunkerunterkünfte in Stuttgart weitgehend überflüssig.

Die Entwicklung der nächsten Jahre war rasant: „Wir können nicht bestimmen, was wir tun wollen. Die Arbeit wird uns vorgelegt“, heißt es im Jahresbericht 1956/57. Auch konzeptionell wurden neue Wege beschritten. Pfarrer Otto Kehr, der Gesamtleiter von 1959 bis 1981, schrieb: „Mit dem Ende der 50er und dem Beginn der 60er Jahre setzte ein tiefer Wandel der Gestaltung von Sozialhilfe und Diakonie ein.“ Die Betreuungsdiakonie der „drei S“ – Seife, Suppe, Seelenheil – wurde in eine Befähigungsdiakonie überführt, die sich am Grundsatz „Hilfe zur Selbsthilfe“ orientiert. Beratung und Begleitung rückten in den Mittelpunkt diakonischer Arbeit.

Die technische Entwicklung schaffte Möglichkeiten für innovative Projekte: Am 2. Mai 1960 nahm die Telefonseelsorge ihren Dienst auf, 1963 der Ausländerdienst. 1970 entstand die bundesweit erste Gesellschaft für mobile Jugendarbeit, 1975 folgte die bundesweit erste Jugendtagesgruppe im Flattichhaus (benannt nach dem Pfarrer und Erzieher Johann Friedrich Flattich), 1977 eröffnete die Evangelische Gesellschaft die erste Schwangerschaftsberatung der Diakonie in Württemberg, 1978 gründete sie gemeinsam mit dem Diakonischen Werk Württemberg den Arbeitshilfeträger „Neue Arbeit“. 1981 starteten die Dienste für seelische Gesundheit, 1986 entstand die bundesweit erste Aidsberatung in diakonischer Trägerschaft, 1987 die Schuldnerberatung (gemeinsam mit Stadt und Caritas), 1989 die Alzheimerberatung, 1994 der Schlupfwinkel für Straßenkinder, 1997 die Sozialräumlichen Erziehungshilfen in Stuttgart-Nord. 1999 lief im Rahmen eines Bundesmodellprojekts der Besuchsdienst „Vierte Lebensphase“ an. 2001 wurde das Gradmann-Haus eröffnet, das bundesweit erste Zentrum für demenziell Erkrankte. Ebenfalls seit 2001 gibt das (gemeinsam mit dem Evangelischen Schuldekanat Tübingen und der Agentur Mehrwert gegründete) baden-württembergische Pilotprojekt „Schule und Diakonie“ Lehrern Einblicke in die diakonische Arbeit. Zwischen 1998 und 2003 nehmen Projekte für junge Menschen ohne Arbeit – „JobConnections“, „One Day Job“ und „future“ – ihre Beratungstätigkeit auf.

Derzeit besteht „eva“ mit ihren Töchtern aus siebzig Diensten mit rund 800 hauptamtlichen und rund 630 ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.

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