Falsche Merowinger

Falsche Merowinger

Falsche Merowinger sind reale oder (meist) fiktive Personen, denen zu Unrecht – irrtümlich oder absichtlich – eine Abstammung vom Königsgeschlecht der Merowinger zugeschrieben wurde. Es gibt unterschiedliche Gründe für diese Behauptungen. Zumeist ging es darum, späteren Herrscherfamilien oder einzelnen Personen eine besondere Legitimation über diese königliche Abstammung zu verschaffen.

Inhaltsverzeichnis

Marcomir und Faramund

Der Liber Historiae Francorum aus dem frühen 8. Jahrhundert nennt einen König namens Faramund: er sei ein Sohn des (historischen) Marcomer und Vater Chlodios gewesen. Faramund wurde lange Zeit als erster König aus der Familie der Merowinger angesehen. Erst Ende des 19. Jahrhunderts wurde seine Existenz als mythisch erkannt. Der Autor des Liber Historiae Francorum fasst die sechs ersten Bücher des Geschichtswerks Gregors von Tours zusammen und fügt dabei Zusatzangaben hinzu, darunter die zu Faramund. Er besaß aber für den fraglichen Zeitraum keine Quelle, deren Kenntnisstand über denjenigen Gregors hinausginge. Es ist nicht anzunehmen, dass er Zugang zu korrekten genealogischen Informationen hatte, die Gregor unbekannt waren.

Childesinde

Der Liber Historiae Francorum nennt Childesinde als Person des Epos Chilperich verstößt Audovera. Godefroid Kurth schreibt in seiner Histoire Poétique des Mérovingiens, dass die zum ersten Mal 692 niedergeschriebene Geschichte, die Mitte des 6. Jahrhundert geschehen sein soll, jeglicher Glaubwürdigkeit entbehre.

In diesem Epos ist Childesinde die Tochter des Königs Chilperich I. von Neustrien († 584) und der Königin Audovera († 580), deren Taufe Fredegunde missbrauchte, um Audoveras Trennung von ihrem Ehemann zu erreichen. Fredegunde nutzte Audoveras Naivität aus und ließ sie selbst ihr sechstes Kind, Childesinde, bei der Taufe halten. Die Königin wusste nicht, dass sie dadurch Taufpatin ihres eigenen Kindes wurde und in den Augen der Kirche einen schweren Fehler begangen hatte: sie konnte nun nicht mehr die Ehefrau Chilperichs sein, ohne sich dem Vorwurf des Inzestes auszusetzen. Nach seiner Rückkehr von einem Feldzug sah sich Chilperich – von Audovera in Kenntnis gesetzt – dazu gezwungen, Audovera zu verstoßen, um nicht selbst exkommuniziert zu werden. Audovera wurde in ein Kloster in Le Mans gebracht.

Blithilde, Ansbert und Arnold

Ende des 9. Jahrhunderts wurde von Mönchen der Abtei Fontenelle (Abtei Saint-Wandrille) das Leben des heiligen Wandregisel niedergeschrieben. Dabei konstruierten sie eine Abstammung der Karolinger von den Merowingern: Sie führten eine Tochter des Frankenkönigs Chlothar II. († 629) ein, Blithilde, der sie mit Ansbert von Sachsen einen Ehemann gaben; als deren Sohn bezeichneten sie Arnold von Sachsen, der wiederum der Vater des historischen Arnulf von Metz († wohl 640), Stammvater der Arnulfinger, vor allem aber der Karolinger, gewesen sein soll.

Ermenchilde

In den Gesta Episcoporum Tullensis (Taten der Bischöfe von Toul) aus dem 12. Jahrhundert wird Ermenchilde als Ehefrau des Königs Childebert III. († 711) erwähnt. Zwar war Childebert III. verheiratet, der Name seiner Ehefrau ist jedoch nicht bekannt; die Gesta selbst dürfte hierzu aufgrund des zeitlichen Abstands von vier Jahrhunderten zu den Personen kaum Aussagekraft besitzen.

Boggis und Bertram

Die Charta von Alaon nennt zwei Söhne des Frankenkönigs Charibert II. († 632), Boggis und Bertram. Boggis wird als Vater des historischen Herzogs Eudo von Aquitanien († 735), Bertram als Vater des heiligen Hubertus von Lüttich († 727) bezeichnet. Sie konstruiert somit ein Bindeglied zwischen den Merowingern und dem ersten aquitanischen Herzogshaus. Dadurch konnten bedeutende Familien des französischen Hochadels (z.B. die Gallard, Gramont, Montesquiou, La Rochefoucauld, Comminges und Lupé) eine Abstammung von den Merowingern behaupten, und auf dieser Basis als Nachkommen souveräner Könige eine Anerkennung als Princes étrangers anstreben. Der Historiker Joseph-François Rabanis [1] wies jedoch Mitte des 19. Jahrhunderts nach, dass die Charta von Alaon eine Fälschung des 17. Jahrhunderts ist.

Sigibert IV. und Sigibert V.

Sigibert IV. war nach Pierre Plantard der Sohn des Königs Dagobert II. 1967 erklärt Plantard in seinem Buch Le Trésor maudit – ohne Beleg – sich selbst zum Nachkommen Sigiberts IV., genannt le Plantard, und dessen Sohns Sigibert V.

Gisela

Gisela soll die Ehefrau des Königs Childerich III. gewesen sein. Diese Aussage stammt von Johannes Aventinus (1477-1534)[2], die er Dokumenten zur heiligen Kisyla (Gisela), einer Nonne und Wohltäterin der Abtei Kochel am See im 8. Jahrhundert, entnahm. In diesen Unterlagen wird Kisyla als regina bezeichnet sowie als Angehörige der fränkischen Königsfamilie. Aventinus übersetzte regina mit Königin und sah Kisyla dadurch als Ehefrau eines Merowingers. In der Chronologie käme dafür nur Childerich III. in Frage. Tatsächlich wurden zur Zeit Kisylas weibliche Angehörige einer königlichen Familie häufig mit dem Titel regina belegt. Paul Ruf wies 1929 den Status Königin zurück und bezeichnete sie als Angehörige einer bayerischen Adelsfamilie des 8. Jahrhunderts[3]. 1931 gestand Bernhard Bischoff Kisyla königliche Abstammung zu und setzte sie mit Gisela, der Schwester Karls des Großen und von 788 bis 810 Äbtissin von Chelles gleich[4]. Alain Stoclet schloss 1986, dass hier zwei Frauen dieses Namens miteinander vermischt worden seien: zum einen eine Adlige, die Ende des 8. Jahrhunderts bei Gauting lebte, zum anderen eine Tochter von Ludwig II. von Italien und Äbtissin von Brescia[5].

1975 schlug Szabolcs de Vajay vor, die Ehefrau des Grafen Heribert von Laon als Gisela zu identifizieren, um dadurch die Häufung dieses Namens in der Familie der Karolinger zu erklären. Konsequenterweise wird dann Gisela von Laon und Gisela, die (hypothetische) Ehefrau Childerichs III., in engere Verwandtschaft gebracht, um dadurch die Abstammung der Karolinger von den Merowingern zu untermauern [6]

Frotmund

Der Schriftsteller Laurence Gardner hat Frotmund als Vater des bereits mythischen Frankenkönigs Faramund (englisch und französisch Pharamond) eingeführt. In seinem Buch Bloodline of the Holy Grail (dt. Das Vermächtnis des Heiligen Gral) behauptet er ohne Beleg, dass Chlodwig I. ein Nachkomme Jesus von Nazareths sei. Er will den Namen Frotmund von einem Abt des Klosters Saint-Amant-de-Boixe (Charente) vom Ende des 11. Jahrhunderts haben.

Fußnoten

  1. Joseph-François Rabanis, Les Mérovingiens d'Aquitaine, essai historique et critique sur la charte d'Alaon, Paris 1856
  2. Iohannes Turmair, genannt Aventinus, Annales ducum Boiariae, S. Riezler, München, 1882-84
  3. Paul Ruf, Kisyla von Kochel und ihre angeblichen Schenkungen, in: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktiner-Ordens, 1929, Band 16, Seiten 461-476
  4. Bernhard Bischoff, Wer ist die Nonne von Heidenheim?, in: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktiner-Ordens und seiner Zweige, 1931, Band 19, Seite 387/88
  5. Alain Stoclet: Gisèle, Kysala, Chelles, Benediktbeuren et Kochel. Scriptoria, Bibliothèques et politique à l'époque carolingienne : une mise au point, in: Revue Bénédictine 96, 1986
  6. Szabolcz de Vajay: Die Namenswahl der Karolinger. Die Onomastik als Leitfaden zur Bestimmung einer merowingischen Abstammung Karls des Großen. Genealogisches Jahrbuch 15, 1975, Seiten 5-24. Siehe auch Christian Settipani, a) La préhistoire des Capétiens 481-987, Prémière partie, Mérovingiens, Carolingiens et Robertiens, Seite 129/130, und b) Les ancêtres de Charlemagne, S. 21f

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