Gewöhnliche stochastische Ordnung

Gewöhnliche stochastische Ordnung

Stochastische Ordnungen sind Ordnungsrelationen für Zufallsvariablen. Sie verallgemeinern das Konzept von größer und kleiner auf zufällige Größen und dienen zum Beispiel dem Vergleich von Risiken in der Versicherungswirtschaft. Die Theorie der stochastischen Ordnungen ist ein jüngeres mathematisches Teilgebiet und hat in den letzten Jahrzehnten eine starke Entwicklung erfahren und eine breite Anwendung in Finanzmathematik, ökonomischer Forschung und Operations Research gefunden. Spezielle stochastische Ordnungen wurden schon in der Nachkriegszeit erforscht, die erste umfassende Monographie des Themas von Dietrich Stoyan wurde 1977 veröffentlicht. Es werden zahlreiche stochastische Ordnungen mit jeweils unterschiedlichen Anwendungsbereichen betrachtet, die Theorie der Integralordnungen ermöglicht es dabei, unterschiedliche Ordnungen mit einheitlichen Methoden zu untersuchen.

Inhaltsverzeichnis

Ordnung im Mittel

Eine in der Praxis oft genutzte Ad-hoc-Ordnung entsteht aus dem Vergleich von Erwartungswerten. Man sagt die reelle Zufallsvariable X ist im Mittel kleiner als die Zufallsvariable Y, wenn \mathbb E[X] < \mathbb E[Y] gilt. Diese Ordnung berücksichtigt keine weiteren Eigenschaften der Verteilungen wie Varianz oder Schiefe.

Gewöhnliche stochastische Ordnung

Eine besondere Rolle spielt die gewöhnliche stochastische Ordnung (engl.: usual stochastic order). Ausgehend von der Notwendigkeit, Bewertungen und Entscheidungen auch unter Unsicherheit vornehmen zu können, überträgt sie den anschaulichen Ordnungsbegriff reeller Zahlen (formalisiert durch die Ordnungsaxiome reeller Zahlen) auf reellwertige Zufallsvariablen. Sie wurde vor anderen stochastischen Ordnungen untersucht und 1947 (Mann und Whitney) und 1956 (Lehmann) in mathematischen Arbeiten verwendet. Von Samuel Karlin wurde sie 1960 in das Operations Research eingeführt. In der ökonomischen Literatur ist sie als first order stochastic dominance bekannt.[1]

N(0, 1) ≼ N(0.75, 1).
N(0, 1) und N(0.25, 1.5) sind nicht vergleichbar.

Definition: Seien X und Y reelle Zufallsvariablen. Y ist größer-gleich X bezüglich der gewöhnlichen stochastischen Ordnung, wenn für alle b \in \mathbb R gilt

\mathbb P(X \ge b) \le \mathbb P(Y \ge b).

Das heißt für eine beliebige Schranke b liegen die Werte von Y mit größerer (oder gleicher) Wahrscheinlichkeit über b als die Werte von X. Als Symbol wird häufig X \preceq_{st} Y eingeführt. Das lässt sich ebenfalls als Kriterium für die Verteilungsfunktionen FX und FY formulieren:

F_X(b) \ge F_Y(b) für alle b \in \mathbb R.

Eine äquivalente Definition lautet

 X \preceq_{st} Y :\Leftrightarrow \mathbb E[f(X)] \le \mathbb E[f(Y)] für alle monoton wachsenden Funktionen  f \in C_b(\mathbb R).

Diese Definition lässt sich für Zufallsvariablen mit Werten in einem topologischen Raum E, auf dem eine Halbordnung \le definiert sind, auf natürliche Weise verallgemeinern (wobei die Ordnung mit der Topologie verträglich sein muss und daher die Abgeschlossenheit der Menge \{x \le y, x,y \in E\} gefordert wird.)

Der Satz von Strassen macht die Aussage, dass  X \preceq_{st} Y für Zufallsvariablen X,Y mit Werten in einem polnischen Raum mit Halbordnung äquivalent dazu ist, dass ein Wahrscheinlichkeitsraum und zwei Zufallsvariablen  \tilde X und  \tilde Y existieren, welche wie X respektive Y verteilt sind und

\mathbb P(\tilde X \le \tilde Y) = 1

erfüllen. Der Beweis dieser Existenzaussage ist außer in einfachen Fällen nicht konstruktiv.

Zufallsgrößen mit dem gleichen Erwartungswert und unterschiedlicher Verteilung kann man mit der gewöhnlichen stochastischen Ordnung nicht vergleichen, je nach Anwendung ist es erforderlich, andere stochastische Ordnungen zu betrachten.

Integralordnungen

Viele stochastische Ordnungen von Interesse (für Zufallsvariablen mit Werten in einem geordneten polnischen Raum E ) lassen sich ebenso wie die gewöhnliche stochastische Ordnung über Klassen von „Testfunktionen“ \mathcal F (mit \mathcal F \subset \{f\colon E \rightarrow \mathbb R, f \text{borel-messbar}\})

(\star)\quad  X \preceq_{\mathcal F} Y :\Leftrightarrow \mathbb E[f(X)] \le \mathbb E[f(Y)] für alle  f \in \mathcal F für die beide Erwartungswerte definiert sind

definieren. Solche stochastischen Ordnungen heißen Integralordnungen, \preceq_{\mathcal F} heißt die von \mathcal F generierte stochastische Ordnung, \mathcal F ihr Generator. Die so definierte Operation \preceq_{\mathcal F} ist nicht unbedingt transitiv, eine Möglichkeit, dieses Problem zu umgehen, ist die Einschränkung auf solche Funktionen und Zufallsvariablen, für die alle Erwartungswerte existieren.

Dies ist eine wahrscheinlichkeitstheoretische Begriffsbildung – das heißt es kommt nur auf die Verteilungen von X und Y an und Integralordnungen lassen sich ebenso für Verteilungen auf geordneten polnischen Räumen (E, \tau, \le) ausgestattet mit der σ-Algebra der Borelmengen definieren:

 P \preceq_{\mathcal F} Q :\Leftrightarrow \mathbb \int f dP \le \int f dQ für alle  f \in \mathcal F für die beide Integrale definiert sind,

wobei P,Q Wahrscheinlichkeitsmaße auf (E, \mathcal B) seien.

Oft wird eine Ordnung schon von einer Unterklasse von \mathcal F generiert (es reicht also aus, die rechte Seite von (\star) für einen Teil der Funktionen aus \mathcal F überprüfen, um  X \preceq_{\mathcal F} Y zu folgern), im Fall der gewöhnlichen stochastischen Ordnung zum Beispiel für alle isotonen messbaren Indikatorfunktionen oder für alle unendlich oft differenzierbaren isotonen Funktionen.

In der Anwendung der Ordnung ist oft von Interesse, aus der linken Seite von (\star) die Gültigkeit der rechte Seite für eine bestimmte Funktion f0 zu folgern. Die Frage danach, für welche Funktionen dies möglich ist, führte A. W. Marshall 1991 zum Begriff des maximalen Generator. [2]

Bei der Bestimmung eines maximalen Generators wird wie bei der Sicherung der Transitivität eine Einschränkung auf bestimmte Funktionen benötigt. Es werden eine Gewichtsfunktion b: E \rightarrow [0,\infty) eingeführt und nur b-beschränkte Funktionen \{f\colon \sup_{x \in E}|\frac{f(x)}{b(x)}| < \infty\} und Maße, bezüglich denen b integrierbar ist, betrachtet.

Stop-loss order

Die für die Versicherungsmathematik wichtige stop-loss order \preceq_{sl} ist ein weiteres Beispiel für eine Integralordnung. Sie wird generiert von der Klasse der reellen Funktionen der Gestalt  x \mapsto (x - a)^+, a \in \mathbb R. Die stop-loss order ist schwächer als die gewöhnliche stochastische Ordnung und wird unter anderem beim Vergleich von Schadenssummen und als Kriterium bei der Wahl eines Prämienprinzips eingesetzt. Werden X und Y als Risiken interpretiert, bedeutet  X \preceq_{sl} Y, dass die Stop-Loss-Rückversicherungsprämie für das Risiko Y größer ist als die für X bei jeder Wahl des Selbstbehalts a.[3]

Abhängigkeitsordnungen

Sind (X1,X2) und (Y1,Y2) Zufallsvektoren im \mathbb R^2, so ist über den Vergleich der Kovarianzen

 \operatorname{Cov}(X_1, X_2) \le \operatorname{Cov}(Y_1, Y_2)

ein Vergleich des Grades der gegenseitigen Abhängigkeit der Komponenten der beiden Vektoren möglich. Abhängigkeitsordnungen (engl. dependence orders) verallgemeinern dieses Konzept und sind unter anderem von Interesse für die Versicherungswirtschaft, wo Häufung und Abhängigkeit von Risiken wie Hagel- oder Hochwasserschäden ein finanzielles Risiko für die Versicherer darstellen und die traditionell in der Versicherungsmathematik gemachte Annahme der Unabhängigkeit der Risiken zu einer Unterschätzung der Ruin-Wahrscheinlichkeit führt.

Zu den Abhängigkeitsordnungen gehört die supermodulare Ordnung \preceq_{sm}. Sie wird generiert von der Klasse der supermodularen Funktionen

\mathcal F_{sm} := \{f \in C^2(\mathbb R^n, \mathbb R)\colon  \partial_i \partial_j f(x) \ge 0 \;\forall x \in \mathbb R^n, 1 \le i < j \le d\}.

Sie ermöglicht zusammen mit der stop-loss order den Vergleich von multivariaten Risiko-Portfolios mit abhängigen Risiken.

Genauer gilt: Seien X = (X_1, \dots, X_n) und Y = (Y_1, \dots, Y_n) zwei Risiko-Portfolios mit gleichen Randverteilungen. Ist der Vektor der Risiken von Portfolio X supermodular kleiner als der von Portfolio Y, ist die Zufallsvariable der Schadenssumme von Portfolio X kleiner als die von Portfolio Y bezüglich der stop-loss order, und damit auch der Preis einer Stop-Loss-Rückversicherung:[4]

X \preceq_{sm} Y \Rightarrow \sum_{i=1}^n X_i \preceq_{sl} \sum_{i=1}^n Y_i.

Einzelnachweise

  1. Alfred Müller, Dietrich Stoyan: Comparison methods for stochastic models and risks. Wiley, Chichester 2002, ISBN 9780471494461, S. 2.
  2. A. W. Marshall: Multivariate Stochastic Orderings and generating cones of functions. In: Mosler K. und Scarsini M. (Editoren): Stochastic Orders and Decision under Risk. IMS Lecture Notes - Monograph Series 1991, Band 19, S. 231- 247.
  3. Nicole Bäuerle, Alfred Müller: Modeling and Comparing Dependencies in Multivariate Risk Portfolios. In: ASTIN Bulletin International Actuarial Association, Brüssel 1998, Band 28:1, S. 62. (pdf)
  4. Nicole Bäuerle, Alfred Müller: Modeling and Comparing Dependencies in Multivariate Risk Portfolios. In: ASTIN Bulletin International Actuarial Association, Brüssel 1998, Band 28:1, S. 64. (pdf)

Literatur

  • Dietrich Stoyan: Qualitative Eigenschaften und Abschatzungen stochastischer Modelle. R. Oldenbourg, München 1977.
  • Alfred Müller, Dietrich Stoyan: Comparison methods for stochastic models and risks. Wiley, Chichester 2002, ISBN 9780471494461.
  • R. Szekli: Stochastic Ordering and Dependence in Applied Probability (Lecture Notes in Statistics). Springer, New York 1995, ISBN 978-0387944500.
  • Klaus D. Schmidt: Versicherungsmathematik. Springer, Berlin/Heidelberg/New York 2005, ISBN 9783540290971.

Wikimedia Foundation.

Игры ⚽ Нужен реферат?

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Stochastische Ordnung — Stochastische Ordnungen sind Ordnungsrelationen für Zufallsvariablen. Sie verallgemeinern das Konzept von größer und kleiner auf zufällige Größen und dienen zum Beispiel dem Vergleich von Risiken in der Versicherungswirtschaft. Die Theorie der… …   Deutsch Wikipedia

  • FKG-Ungleichung — Als Korrelationsungleichungen werden eine Gruppe von mathematischen Ungleichungen bezeichnet, welche den Begriff der positiven Korrelation auf partiell geordnete Mengen (POSETs) und distributive Verbände übertragen. Sie haben darüber hinaus eine… …   Deutsch Wikipedia

  • Differentialgleichungen — Eine Differentialgleichung, oder auch „Differenzialgleichung“, (oft durch DGL oder DG abgekürzt) ist eine mathematische Gleichung, in der eine gesuchte Funktion y(x), die von einer oder mehreren Variablen abhängt, und Ableitungen dieser Funktion… …   Deutsch Wikipedia

  • Differentialgleichungssystem — Eine Differentialgleichung, oder auch „Differenzialgleichung“, (oft durch DGL oder DG abgekürzt) ist eine mathematische Gleichung, in der eine gesuchte Funktion y(x), die von einer oder mehreren Variablen abhängt, und Ableitungen dieser Funktion… …   Deutsch Wikipedia

  • Differenzialgleichung — Eine Differentialgleichung, oder auch „Differenzialgleichung“, (oft durch DGL oder DG abgekürzt) ist eine mathematische Gleichung, in der eine gesuchte Funktion y(x), die von einer oder mehreren Variablen abhängt, und Ableitungen dieser Funktion… …   Deutsch Wikipedia

  • Differentialgleichung — Eine Differentialgleichung (auch Differenzialgleichung, oft durch DGL oder DG abgekürzt) ist eine mathematische Gleichung für eine gesuchte Funktion y(x), die von einer oder mehreren Variablen x abhängt und in welcher Ableitungen der Funktion… …   Deutsch Wikipedia

  • Lineare Gleichung — Eine lineare Gleichung ist eine mathematische Bestimmungsgleichung, in der ausschließlich Linearkombinationen der Unbekannten vorkommen. Typischerweise sind die Unbekannten einer linearen Gleichung Skalare, meist reelle Zahlen. Im einfachsten… …   Deutsch Wikipedia

  • Gleichung — In der Mathematik ist eine Gleichung eine Aussage, in der die Gleichheit zweier Terme durch mathematische Symbole ausgedrückt wird. Dies wird durch das Gleichheitszeichen („=“) symbolisiert. Formal hat eine Gleichung die Gestalt T1 = T2 mit zwei… …   Deutsch Wikipedia

  • Euler-Cauchy-Verfahren — Das eulersche Polygonzugverfahren oder explizite Euler Verfahren (auch Euler Cauchy Verfahren) ist das einfachste Verfahren zur numerischen Lösung eines Anfangswertproblems. Es wurde von Leonhard Euler 1768 in seinem Buch Institutiones Calculi… …   Deutsch Wikipedia

  • Explizites Euler-Verfahren — Das eulersche Polygonzugverfahren oder explizite Euler Verfahren (auch Euler Cauchy Verfahren) ist das einfachste Verfahren zur numerischen Lösung eines Anfangswertproblems. Es wurde von Leonhard Euler 1768 in seinem Buch Institutiones Calculi… …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”