- Erwartungswert
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Der Erwartungswert (selten und doppeldeutig Mittelwert) ist ein Grundbegriff der Stochastik. Der Erwartungswert einer Zufallsvariablen ist jener Wert, der sich (in der Regel) bei oftmaligem Wiederholen des zugrunde liegenden Experiments als Mittelwert der Ergebnisse ergibt. Er bestimmt die Lokalisation (Lage) einer Verteilung und ist vergleichbar mit dem empirischen arithmetischen Mittel einer Häufigkeitsverteilung in der deskriptiven Statistik. Das Gesetz der großen Zahlen sichert in vielen Fällen zu, dass der Stichprobenmittelwert bei wachsender Stichprobengröße gegen den Erwartungswert konvergiert.
Ein Erwartungswert muss kein mögliches Ergebnis des zugrunde liegenden Zufallsexperiments sein. Insbesondere kann der Erwartungswert die Werte annehmen.
Inhaltsverzeichnis
Motivation
Die Definition des Erwartungswerts geschieht in Anlehnung an den Mittelwert von Zahlen, zum Beispiel 4, 2, 10, 3, 8, 9, 3, 10, 3, 8,
- ,
der alternativ berechnet werden kann, indem zunächst gleiche Werte zusammengefasst und nach relativer Häufigkeit gewichtet werden
- .
Sind die Zahlen zufällig, genauer unabhängige Ausprägungen einer Zufallsvariable X, so ist auch ihr Mittelwert vom Zufall abhängig. Der Erwartungswert kann in diesem einfachen Beispiel als eine feste Kennzahl der Zufallsvariable verstanden werden: hier die Summe der möglichen Ausprägungen, gewichtet nach ihrer theoretischen Wahrscheinlichkeit, anstelle ihrer vom Zufall abhängigen, gemessenen Häufigkeit.
Definitionen
Der Erwartungswert wird entsprechend als das Integral bezüglich des Wahrscheinlichkeitsmaßes definiert: Ist X eine P-integrierbare oder P-quasiintegrierbare Zufallsvariable von einem Wahrscheinlichkeitsraum (Ω,Σ,P) nach , wobei die Borelsche σ-Algebra über ist, so definiert man
- .
Die Zufallsvariable X besitzt genau dann einen Erwartungswert, wenn sie quasiintegrierbar ist, also
gilt, wobei X + und X − den Positiv- sowie den Negativteil von X bezeichnen. Er ist genau dann endlich wenn X integrierbar ist, also
gilt. In diesem Fall schreiben viele Autoren, der Erwartungswert existiere oder X sei eine Zufallsvariable mit existierendem Erwartungswert, und schließen damit den Fall bzw. aus.
Der Erwartungswert einer Zufallsvariablen wird auch als erstes Moment bezeichnet.
Ist eine Zufallsvariable diskret oder besitzt sie eine Dichte, so existieren einfachere Formeln für den Erwartungswert, die im Folgenden aufgeführt sind.
Erwartungswert einer diskreten reellen Zufallsvariablen
Im reellen diskreten Fall errechnet sich der Erwartungswert als die Summe der Produkte aus den Wahrscheinlichkeiten jedes möglichen Ergebnisses des Experiments und den „Werten“ dieser Ergebnisse.
Ist X eine reelle diskrete Zufallsvariable, die die Werte mit den jeweiligen Wahrscheinlichkeiten annimmt (mit I als abzählbare Indexmenge), so errechnet sich der Erwartungswert im Falle der Existenz mit:
Ist , so besitzt X genau dann einen endlichen Erwartungswert , wenn die Konvergenzbedingung
- erfüllt ist, d. h. die Reihe für den Erwartungswert absolut konvergent ist.
Erwartungswert einer reellen Zufallsvariablen mit Dichtefunktion
Hat eine reelle Zufallsvariable X eine Wahrscheinlichkeitsdichtefunktion f, das heißt hat das Bildmaß PX diese Dichte bezüglich dem Lebesgue-Maß λ, so berechnet sich der Erwartungswert im Falle der Existenz als
- .
In vielen Anwendungsfällen liegt Riemann-Integrierbarkeit vor und man hat
- Beispiel
Gegeben ist die reelle Zufallsvariable X mit der Dichtefunktion
Der Erwartungswert berechnet sich als
Erwartungswert von zwei Zufallsvariablen mit gemeinsamer Dichtefunktion
Haben die integrierbaren Zufallsvariablen X und Y eine gemeinsame Wahrscheinlichkeitsdichtefunktion f(x,y), so berechnet sich der Erwartungswert einer Funktion g(X,Y) von X und Y zu
Der Erwartungswert existiert nur, wenn das Integral konvergiert.
Insbesondere ist:
Aus der Randdichte errechnet sich der Erwartungswert wie bei univariaten Verteilungen:
Darin erfolgt die Randdichte fX(x) aus
Beispiele
Würfeln
Das Experiment sei ein Würfelwurf. Als Zufallsvariable X betrachten wir die gewürfelte Augenzahl, wobei jede der Zahlen 1 bis 6 mit einer Wahrscheinlichkeit von jeweils 1/6 gewürfelt wird.
Wenn man beispielsweise 1000 Mal würfelt, d. h. das Zufallsexperiment 1000 mal wiederholt, die geworfenen Augenzahlen zusammenzählt und durch 1000 dividiert, ergibt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Wert in der Nähe von 3,5. Es ist jedoch unmöglich, diesen Wert mit einem einzigen Würfelwurf zu erzielen.
St. Petersburger Spiel
Das sogenannte St. Petersburger Spiel ist ein Spiel, dessen zufälliger Gewinn X einen unendlichen Erwartungswert hat. Man wirft eine Münze. Zeigt sie Kopf, erhält man 2 Euro und das Spiel ist beendet, zeigt sie Zahl, darf man nochmals werfen. Wirft man nun Kopf, erhält man 4 Euro und das Spiel ist beendet, wirft man wieder Zahl, so darf man ein drittes Mal werfen. Der Erwartungswert des Gewinnes X ist unendlich:
Rechenregeln
Der Erwartungswert ist linear für alle integrierbaren Zufallsvariablen, da das Integral ein linearer Operator ist. Daraus ergeben sich die folgenden zwei sehr nützlichen Regeln:
Erwartungswert der Summe von n Zufallsvariablen
Der Erwartungswert der Summe von n integrierbaren Zufallsvariablen Xi lässt sich als Summe der einzelnen Erwartungswerte berechnen:
Dies gilt auch für diskrete Zufallsvariablen und auch, falls sie nicht stochastisch unabhängig sind.
Lineare Transformation
Seien X und Y zwei integrierbare Zufallsvariablen, so gilt für die Lineare Transformation mit :
- ,
insbesondere auch
Erwartungswert des Produkts von n stochastisch unabhängigen Zufallsvariablen
Wenn die Zufallsvariablen Xi stochastisch voneinander unabhängig und integrierbar sind, gilt:
insbesondere auch
- für
Wahrscheinlichkeiten als Erwartungswerte
Wahrscheinlichkeiten von Ereignissen lassen sich auch über den Erwartungswert ausdrücken. Für jedes Ereignis A gilt
- ,
wobei χA die Indikatorfunktion von A ist.
Dieser Zusammenhang ist oft nützlich, etwa zum Beweis der Tschebyschow-Ungleichung.
Erwartungswerte von Funktionen von Zufallsvariablen
Wenn Y = g(X) wieder eine Zufallsvariable ist, so kann man den Erwartungswert von Y, statt mittels der Definition, auch mittels der Formel
berechnen. Auch in diesem Fall existiert der Erwartungswert nur, wenn
konvergiert.
Bei einer diskreten Zufallsvariable verwendet man eine Summe:
Ist die Summe nicht endlich, dann muss die Reihe absolut konvergieren, damit der Erwartungswert existiert.
Quantenmechanischer Erwartungswert
Ist die Wellenfunktion eines Teilchens in einem bestimmten Zustand und ist ein Operator, so ist
der quantenmechanische Erwartungswert von im Zustand . M ist hierbei der Ortsraum, in dem sich das Teilchen bewegt, n ist die Dimension von M, und ein hochgestellter Stern steht für komplexe Konjugation.
Lässt sich als formale Potenzreihe schreiben (und das ist oft so), so verwendet man die Formel
Der Index an der Erwartungswertsklammer wird nicht nur wie hier abgekürzt, sondern manchmal auch ganz weggelassen.
- Beispiel
Der Erwartungswert des Aufenthaltsorts in Ortsdarstellung ist
Der Erwartungswert des Aufenthaltsorts in Impulsdarstellung ist
wobei wir die Wahrscheinlichkeitsdichtefunktion der Quantenmechanik im Ortsraum identifiziert haben. In der Physik schreibt man ρ (rho) statt f.
Erwartungswert von Matrizen
Ist X eine Matrix, dann ist der Erwartungswert der Matrix definiert als:
Begriff und Notation
Der Konzept des Erwartungwert geht auf Christiaan Huygens zurück. In einer Abhandlung über Glückspiele von 1656, „Van rekeningh in spelen van geluck“ bezeichnet Huygens den erwarteteten Gewinn eines Spiels als „het is my soo veel weerdt“. Frans van Schoten führte in seiner Übersetzung von Huygens' Text ins Lateinische den Begriff expectatio. Bernoulli übernahm in seiner Ars conjectandi den von van Schoten eingeführten Begriff in der Form valor expectationis.[1]
Im westlichen Bereich wird für den Operator verwendet, speziell in anglophoner Literatur . In der russischsprachigen Literatur finden sich Bezeichnungen M(X). Die Bezeichnung μX betont die Eigenschaft als nicht vom Zufall abhängiger erster Moment. In der Physik findet die Bra-Ket-Notation Verwendung. [2]
Siehe auch
- Varianz
- Parameter (Statistik)
- Moment
- Momenterzeugende Funktion
- Charakteristische Funktion (Stochastik)
- Bedingter Erwartungswert
- Erwartungsnutzenfunktion
Literatur
- Erich Härtter: Wahrscheinlichkeitsrechnung für Wirtschafts- und Naturwissenschaftler. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1974, ISBN 3-525-03114-9
Weblinks
- Erwartungswert Zufallsvariable, Wahrscheinlichkeitsverteilungen, Erwartungswert
Einzelnachweise
- ↑ Norbert Henze: Stochastik für Einsteiger. Vieweg+Teubner, 2008. ISBN 978-3-8348-9465-6. S. 79.
- ↑ John Aldrich: Earliest Uses of Symbols in Probability and Statistics. [1].
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