Melencolia I

Melencolia I
Albrecht Dürer: Melencolia I
24 x 19 cm

Melencolia I (aus dem Jahre 1514) ist einer der drei Meisterstiche Albrecht Dürers (vgl.: Ritter, Tod und Teufel und Der heilige Hieronymus im Gehäus). Er gilt als das rätselhafteste Werk Dürers und zeichnet sich – wie viele seiner Werke – durch eine komplexe Ikonographie und Symbolik aus.

Inhaltsverzeichnis

Bildinhalt und Symbolik

  • Die das Bild beherrschende Figur ist eine weiblich gekleidete und engelhaft geflügelte, menschliche Gestalt, die auf einer Stufe sitzt und in ihrem Schoß einen Zirkel und ein verschlossenes Buch hält.
  • An ihrer Seite sitzt auf einem Mühlstein (= Lebensrad) ein Knabe, dessen linker Stummelflügel ihren rechten Flügel berührt; er sitzt geometrisch exakt im Fadenkreuz des Goldenen Schnitts als „Entwurf zum Menschen“ mitten in die Welt gesetzt, in der er zum Göttlichen aufsteigen oder aber auch tierisch entarten kann. Hier lernt er noch eifrig unter Anleitung, auf ein Täfelchen schreibend oder zeichnend.
  • Bei der dritten Figur mit nur vorgeblichen Flügeln des fälschlich als Fledermaus beschriebenen Tieres, handelt es sich um einen aufgespannten Tier-Balg (ohne Innereien), in dessen verbliebene Decke das Anagramm „Melencolia § I“ eingeschrieben ist. Das nur diesen Balg kennzeichnende Etikett lautet „Cameleon § LI I“. „Camelon“ ist die Gattungsbezeichnung für Mensch in Pico della Mirandolas Rede über die Menschenwürde, 1486. „§ LI“ ist das 51. Kapitel im 8. Buch der Naturgeschichte von Plinius d.Ä., das nur vom Cameleon handelt; die römische Eins ist der Quell aller Zahlen: Gott. Der Tier-Balg also illustriert den Rest des nach Pico tierisch entarteten Menschen, während die mit 12 Stengeln (= Sternen) bekränzte Frau auf der 6. Stufe der (Himmels-) Leiter in der Bildmitte bereits zur Gottebenbildlichkeit aufgestiegen ist (entsprechend dem angelo terrestre in Picos Commento sopra una canzone d'amore, 1486).
  • Zu ihren Füßen liegt ein Hund, ein Tier, das auch in anderen Stichen Dürers vorkommt und für Treue steht, wobei der hier dargestellte Hund einen eher kränklichen Eindruck vermittelt. Der Hund kann als ein traditionelles Symbol für die Melancholie betrachtet werden.
  • Auf dem Boden liegen Gegenstände verstreut herum: Hammer, Zange, Nägel, Säge, Hobel, Richtscheit und ein siebentes, nicht zu identifizierendes Gerät. All diese Gegenstände sind Werkzeuge des Künstlers und Handwerkers (vorwiegend des Zimmermanns).
  • Eine Kugel und ein Polyeder (ein an zwei Ecken abgestumpftes Parallelepiped. Die Seitenflächen sind zwei reguläre Dreiecke und sechs nicht-reguläre Fünfecke; die zwölf Ecken gehören zwei Typen an: in sechs Ecken stoßen je ein gleichseitiges Dreieck und zwei Fünfecke zusammen, in sechs Ecken je drei Fünfecke. Zwischen Kugel und Hund ein nicht identifizierter Gegenstand, möglicherweise ein Weihrauchfaß.
  • Alchimie: Zwischen Polyeder und Meer ein Becken voll brennender Kohlen, darauf ein dreieckiger Schmelztiegel, daneben eine Pinzette.
  • Am Gebäude hinter den beiden Figuren hängen eine Waage (das Abwägen als Ursache für Melancholie, aber auch das „Messen und Wiegen von Taten”), eine kombinierte Sand- und Sonnenuhr (Tod und Vergänglichkeit), wobei die Sonnenuhr keine Zeit anzeigt, und eine Glocke (Totenglocke, Bezeichnung eines bestimmten Zeitpunktes). An der Wand lehnt eine Leiter, die als Verbindung zum Himmel gedeutet werden kann.
  • Unterhalb der Glocke ist ein magisches Quadrat in die Mauer graviert. Es enthält die Zahl 1514, das Jahr, in dem das Kunstwerk geschaffen wurde (wiederholt zusammen mit dem üblichen AD-Signet auf der Stufe am rechten Bildrand) und zudem das Todesjahr von Dürers Mutter. Um die Jahreszahl 1514 befinden sich die Zahlen 4 und 1, die für die Initialen DA stehen, wenn man sie als Position im Alphabet interpretiert. Wie die geometrischen Figuren und der Zirkel in der Hand der engelhaften Gestalt ein Symbol für die Geometrie und Mathematik, mit der sich Dürer intensiv beschäftigt hatte.
  • Des Weiteren findet sich im Quadrat eine verschlüsselte Botschaft. Man kann jede Zeile aufsummieren und man erhält die Zahl 34, dasselbe gilt für jede Spalte. Dreht man die Zahl 34 um, so erhält man die Zahl 43, die das Alter Dürers im Jahr 1514 wiedergibt. Auch in den beiden Diagonalen, in etlichen weiteren symmetrisch angeordneten Zahlengruppen (16+13+4+1, 5+3+14+12, 5+8+9+12) und in den in der Form eines Drachenvierecks liegenden Kästchen (3+5+11+15) ist die Summe 34 versteckt. Ebenso ergeben die Zahlen in den vier Quadranten, den vier Zahlen im Zentrum und den vier Zahlen in den Ecken 34. Bildet man die Quersumme der zweistelligen Zahlen (also 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16) und summiert diese auch wieder nach Zeilen und Spalten auf (also 1+6+3+2+1+3 für Zeile 1), erhält man die Zahl 16 (Das trifft auch für die Diagonalen und die oben erwähnten in symmetrischer Anordnung verteilten Kästchen zu.), außer in der dritten Zeile und der ersten Spalte, dort beträgt die Summe 25. Die Ziffer 9 im Kreuzungspunkt der dritten Zeile und der ersten Spalte ist in einer älteren Schreibvariante oder in Spiegelschrift dargestellt, die 5 im Feld darüber, die eine an gleicher Stelle zuvor vorhandene 6 ersetzt, ebenfalls in einer älteren Schreibvariante (vgl. die andere 5) oder kopfstehend.
  • Im Bildhintergrund erblickt man in der linken Hälfte (unten, in tieferen Sphären) Meer, Land und eine Stadt. Der dunkle Himmel darüber wird von einem strahlenden Gestirn erhellt (Sinnbild für überirdische Einflüsse) und von einem Regenbogen (Sinnbild der Versöhnung und des Bundes zwischen Gott und den Menschen) überspannt. In der rechten Bildhälfte weisen Leiter und Gebäude in die Höhe. Der Lichteinfall von rechts korrespondiert mit Dunkelheit auf der linken Seite. Die Stunde bleibt unbestimmt. Die verschiedenen Deutungen benennen das Gestirn unterschiedlich (Saturn für Melancholie oder Komet für Zeitenwende).

Deutung

Dieses äußerst rätselhafte Werk verschließt sich einer vollständigen Interpretation. Ein Ansatz besteht darin, es als eine Allegorie der Melancholie oder Depression zu sehen. Naheliegender ist die Beziehung zu den anderen Meisterstichen Dürers. Ähnlich wie die Temperamentenlehre sich in den Vier Aposteln widerspiegelt, stellen die drei Meisterstiche drei unterschiedliche Lebensformen dar. Den mittelalterlichen Vorstellungen der vita activa des Ritters und der vita contemplativa des Hieronymus stellt Dürer eine dritte Lebenshaltung gegenüber, die vita intuitiva im Sinne von Vision und ahnender Vorwegnahme.

Der Stich ist im Übergang vom Mittelalter zur (deutschen) Renaissance entstanden. Das herumliegende Werkzeug und der mit einem Stichel an einer Platte arbeitende Putto trägt der mittelalterlichen Verbindung von Kunst und Handwerk Rechnung, Polyeder und magisches Quadrat verweisen auf die Verbindung von Wissenschaft und Kunst in der Renaissance.

Dürer kannte von seinen Italienreisen die Renaissance, die nördlich der Alpen erst ca. 100 Jahre später einsetzte. Ihr könnte die sinnende Frauengestalt entgegensehen. Das Mittelalter geht zu Ende (Stundenglas), eine neue Zeit wird bald eingeläutet (Glocke), es geht aufwärts (siebensprossige Leiter), Licht (Erkenntnis) verbreitet seine Strahlen am Himmel, überwölbt von einem Regenbogen (Segen). Das Gewohnte ist bald dahin (Abschied und Melancholie). Für die künftigen Aufschwünge (Flügel) in Wissenschaft und Kunst ist die noch reglos sitzende Frauengestalt bereits mit frischen Zweigen bekränzt. Das hässliche kleine Flugtier und Fabelwesen, das das Spruchband trägt, steht für die Gefahr, im Sinnen stecken zu bleiben, sich nicht aufzuraffen.

Albrecht Dürer, der auch wissenschaftliche Werke (über Mathematik, zur Perspektive und über menschliche Körperproportionen) verfasst hat, scheint viel von seinem Selbstverständnis in das Bild eingearbeitet zu haben. Der Stich ist auf unzählige Weisen interpretierbar und verwehrt sich einer endgültigen Auslegung. Dieser Ambiguität wegen und nicht nur wegen der großen Kunstfertigkeit wird er zu Recht zu den „Meisterstichen“ gezählt.

Rezeption

Gottfried Keller inspirierte Dürers Blatt zu dem Gedicht Melancholie. In dessen letzter Strophe deutet der Dichter die Engelsgestalt im Sinne der Romantik als Verkörperung der künstlerischen Phantasie.

Der ursprüngliche Titel von Jean-Paul Sartres Roman Der Ekel sollte, nach Dürers Kupferstich „Melancholia” sein. Der endgültige Titel, französisch „La nausée”, wurde ihm erst vom Verleger Sartres verliehen.[1]

Thomas Mann beschreibt das magische Quadrat und dessen fatale Stimmigkeit in seinem Roman «Doktor Faustus», Kapitel XII. Eine Reproduktion des Dürerstichs hängt an prominenten Platz über dem Pianino des Komponisten Adrian Leverkühn in dessen Studentenwohnung in Halle. Es könnte für ein zentrales Motiv dieses Romans stehen, für die stimmige Bezogenheit der Motive untereinander im Roman als Kunstgattung („Beziehung ist alles. Und willst du sie näher bei Namen nennen, so ist ihr Name «Zweideutigkeit»“, VII. Kapitel) und in der Musik (strenger Satz).

Bei Günter Grass („Aus dem Tagebuch einer Schnecke”) ist die Melencolia das einzige Bild, das der vor den Nationalsozialisten fliehende Lehrer Zweifel mitnimmt.

Auch in dem Roman „The Lost Symbol” (Deutsche Ausgabe: Das verlorene Symbol) von Dan Brown wird auf das magische Quadrat in Melencolia I von Albrecht Dürer Bezug genommen. Es dient dort zur Entschlüsselung einer geheimen Botschaft, genau wie im sieben Jahre zuvor veröffentlichten Roman „Das Jesusfragment” von Henri Loevenbruck.

Literatur

  • Karl Giehlow: Dürers Stich Melencolia I und der maximilianische Humanistenkreis. In: Mitteilungen der Gesellschaft für vervielfältigende Kunst 26 (1903), Nr. 2, S. 29–41; 27 (1904), Nr. 3, S. 6–18, Nr. 4, S. 57–78.
  • Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. (1928) In: Gesammelte Schriften Band I.1. Frankfurt a.M. 1991. S. 203–430. Zu den Sinnbildern Hund, Kugel und Stein und zu Dürer S. 326ff.
  • Hartmut Böhme: Die literarische Wirkungsgeschichte von Dürers Kupferstich "Melencolia I". In: Jörg Schönert / Harro Segeberg (Hg.): Polyperspektivik in der literarischen Moderne. Studien zur Theorie, Geschichte und Wirkung der Literatur. Festschrift Karl Robert Mandelkow; Frankfurt/M. 1988, S. 0–123. Online: Die literarische Wirkungsgeschichte von Dürers Kupferstich "Melencolia I".
  • Hartmut Böhme: Albrecht Dürer, Melencolia I : im Labyrinth der Deutung Fischer, 1989, ISBN 3-596-23958-3,
  • Raymond Klibansky, Erwin Panofsky und Fritz Saxl: Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst. Suhrkamp: Frankfurt, 1990, ISBN 3-518-57981-9,
  • Franzen Georg: " Der Verlust der Mitte.Betrachtungen zu Albrecht Dürers "Melencolia I". In: Musik-,Tanz-und Kunsttherapie,5, S.232-239.Göttingen:Hogrefe.
  • Friedrich Wolfram Heubach: Ein Bild und sein Schatten. Zwei randständige Betrachtungen zum Bild der Melancholie und zur Erscheinung der Depression. Bonn 1997
  • Peter-Klaus Schuster: Melencolia I : Dürers Denkbild.Berlin 1991, (2 Bände) ISBN 3-7861-1188-X
  • Ewald Lassnig: Dürers "MELENCOLIA-I" und die Erkenntnistheorie bei Ulrich Pinder. In: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte 57 (2008), S. 51-95. Online bei Google Books.
  • Ernst Theodor Mayer: Melencolia § I – der "angelo terrestre" und sein gleichzeitiges doppeltes Sehvermögen. Befunderhebung aufgrund der visuellen Geometrie von Dürers verschlüsseltem Selbstbildnis (1514). In: Musik-,Tanz- und Kunsttherapie, Vol. 20, 2009, Nr. 1, S. 8–22.
  • Martin Büchsel: Albrecht Dürers Stich MELENCOLIA, I. Zeichen und Emotion. Die Logik einer kunsthistorischen Debatte. Paderborn 2010, ISBN 3-7705-4962-7

Weblinks

 Commons: Melencolia I – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Jean-Paul Sartre: „Der Ekel”; Rowohlt Taschenbuch; Reinbek 2003

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