N1 (Rakete)

N1 (Rakete)

Die N1 (GRAU-Index 11A52) war eine sowjetische Trägerrakete, die im Rahmen des sowjetischen bemannten Mondprogramms entwickelt wurde.

Inhaltsverzeichnis

Ausgangslage

Nach den frühen Erfolgen der sowjetischen Raumfahrt betrieb auch die Sowjetunion den „Wettlauf zum Mond“ gegen die USA. Während dort für das Apollo-Programm alle Ressourcen auf die Saturn-Raketen konzentriert wurden, arbeiteten in der UdSSR zwei Teams parallel an neuen Raketenprojekten. Eines davon war das OKB-1 (heute RKK Energija), das ab 1959 unter der Leitung von Sergei Koroljow die Mondrakete N1 entwickelte. Der ursprüngliche Entwurf von Koroljow sah allerdings die militärische Nutzung im Vordergrund. Im Rahmen der Anfang der 1960er-Jahre auch durch die UdSSR geplanten Nutzung des Kosmos für militärische Ziele (Regierungserlass 715-296 vom 23. Juni 1960) wurde von ihm die N1 unter anderem als Träger für schwere Aufklärungssatelliten, defensive Militärnutzlasten und als offensives Trägermittel für Schläge gegen jeden beliebigen Punkt auf der Erde angeboten.

Als problematisch erwies sich die Entwicklung der benötigten leistungsstarken Raketentriebwerke. Der bisherige Partner für Triebwerksentwicklung von Koroljows OKB-1, das OKB-456 von Walentin Petrowitsch Gluschko, arbeitete jetzt eng mit dem konkurrierenden Konstruktionsbüro OKB-52 von Wladimir Tschelomei zusammen. Koroljow und Gluschko hatten sich hoffnungslos unter anderem über die Triebwerkkonstruktion (Einkammer- gegen Vierkammertriebwerk) und die zu verwendende Treibstoffkombination (RP-1/Sauerstoff gegenüber UDMH/Distickstofftetroxid) zerstritten. Koroljow kooperierte daher mit dem OKB-276 von Nikolai Kusnezow, das bisher vor allem Luftstrahltriebwerke und Propellerturbinen (darunter das weltgrößte Propellerturbinentriebwerk NK-12 mit etwa 11.000 kW) entwickelt hatte. Aufgrund der bis dahin mangelnden Erfahrungen mit Raketentriebwerken verlief die Entwicklung der Triebwerke mit großen Verzögerungen.

Technik

Darstellung der N1 mit den wichtigsten technischen Angaben
Darstellung der N-1-Nutzlast im Schnitt
Darstellung und Größenvergleich der amerikanischen Saturn 5 und der sowjetischen N1
Darstellung und Größenvergleich der sowjetischen- und der amerikanischen Landefähre

Die N1 war mit 105 m Höhe die größte je gebaute sowjetische Rakete und in ihren Abmessungen vergleichbar mit der Saturn V. Sie sollte in ihrer ursprünglichen Version eine Nutzlast von 75 Tonnen in den niedrigen Erdorbit (engl. Low Earth Orbit oder LEO) bringen, später sollten zusätzliche Triebwerke, das Kühlen des Kerosins in den Tanks und leicht modifizierte Bahnparameter eine Nutzlast von etwa 95 t möglich machen. Die N1 war durch die Triebwerksanordnung sowie das Treibstoff- und das Kontrollsystem hochkomplex und daher störanfällig. Aufgrund des geringen Schubes der verwendeten Kusnezow-NK-15-Triebwerke (je 1,544 MN Vakuumschub) mussten in der ersten Stufe insgesamt 30 Triebwerke eingesetzt werden. Diese waren in einem äußeren Ring mit 24 Triebwerken und einem inneren Ring mit sechs Triebwerken angeordnet. Dabei wurde Luft zwischen den äußeren und inneren Triebwerksringen geführt, dies ergab für die inneren Triebwerke eine Art Aerospikeeffekt mit höherer Treibstoffeffizienz. Allerdings wurden die hochkomplexen Strömungsverhältnisse einer derartigen Konfiguration in dem zu überstreichenden Geschwindigkeitsbereich völlig unterschätzt.

Bei allen Flugerprobungen kamen die Kusnezow-Triebwerke NK-15 (1. Stufe) bzw NK-15V (2. Stufe) zum Einsatz. Die erste Stufe der N1 produzierte insgesamt einen Startschub von etwa 43.300 kN. Die Triebwerke wurden später zu Kusnezow NK-33 (je 1,5102 bzw. 1,638 MN Meeresniveau/Vakuumschub) weiterentwickelt. Die verbesserten Triebwerke NK-33 (1. Stufe) und NK-43 (2. Stufe) standen ab dem Jahre 1974 zum Einsatz in der Modifikation N1F bereit (LEO-Nutzlast 105 Tonnen), erlebten aber durch den Programmabbruch nie einen Start.

Insgesamt wurden elf oder zwölf Exemplare geplant, darunter Mock-ups (s/n: N1-1M1) und zehn flugfähige Raketen (N1-3L bis N1F-12L). Die Verwendung der verbesserten Triebwerke NK-33 war ab dem für August 1974 geplanten Test der N1F-8L (in der verbesserten Version N1F) vorgesehen. Mit der N1F-L10 war die erste bemannte sowjetische Mondlandung für etwa 1976 vorgesehen.

Namen

Die N1-Rakete erhielt niemals einen echten Namen. Die gelegentlich in verschiedenen Publikationen erwähnten Namen „Gerkules“ (russisch für „Herkules“), „Raskat“,„Lenin“,„Nauka“ oder „Gigant“ sind rein spekulativ.

Entwicklung bis Koroljows Tod und die Zeit danach

Im Mai 1962 war der ungewöhnliche kegelförmige Entwurf mit kugelförmigen Tanks einer dreistufigen N1 fertiggestellt. Sie sollte eine Startmasse von 2200 Tonnen und eine Nutzlast von 75 Tonnen für den erdnahen Bereich haben. Das Projekt wurde am 24. September 1962 durch die sowjetische Regierung bestätigt und als Frist zur Realisierung wurden drei Jahre angesetzt. Es waren 500 Organisationen aus 26 Ministerien an dem Projekt beteiligt, was im weiteren Verlauf zu Schwierigkeiten bei der Projektorganisation durch mangelnde Mitarbeit und Koordination sowie Konkurrenzgerangel führte.

Am 1. August 1964 wurde durch Erlass des Ministerrates (655-268) das sowjetische bemannte Mondprogramm endgültig in zwei Projekte gespalten. Mit der Bezeichnung LK-1 bzw. später Zond lief im OKB-52 von Tschelomei ein Umrundungsprogramm. Das OKB von Koroljow erhielt mit seinem Projekt N1-L3 den Zuschlag für die Mondlandung. Der erste Mondflug war ehrgeizig für den November 1967 geplant. Die Rakete musste dafür umkonstruiert werden, da nun ein Direktstart zum Mond geplant war, was die erforderliche Nutzlast auf 95 Tonnen erhöhte. Dazu wurden die erste Stufe um sechs zusätzliche Triebwerke ergänzt, die Kugeltanks durch zylindrische Zwischenstücke vergrößert und geplant, das Kerosin zur Erhöhung der Dichte gekühlt zu tanken. Dadurch stieg die Startmasse auf 2750 Tonnen. Nach dem Tode Koroljows im Januar 1966 übernahm Wassili Mischin, der maßgeblich am Nachbau der deutschen A4-Rakete und an der Entwicklung der ersten sowjetischen Interkontinentalrakete Semjorka R-7 mitgewirkt hatte, die Leitung des OKB-1. Schnell zeigte sich aber, dass ihm politisches Gespür und Geschick seines Vorgängers fehlten – einer der Gründe für die Verzögerungen und das spätere Scheitern des Projekts. Am 4. Februar 1967 erhielt das Mondprogramm durch den Regierungsbeschluss Nr. 115-46 die seit langem geforderte hohe Priorität und die erforderlichen Geldmittel. So stellte nun das Militär im großen Umfang Arbeiter, um die Bodenarbeiten für die Startanlagen abzuschließen. Als die Startrampe PU 38 fertiggestellt war, konnte man 1967 jedoch nur eine Attrappe der Rakete zur Startrampe rollen, da die erste Rakete bis 1969 auf sich warten ließ.

Aus Zeit- und Kostengründen wurde auf einen Prüfstand für die komplette erste Stufe verzichtet. Da der Baikonur-Komplex nicht von schweren Transportern angefahren werden konnte, musste die N1 zerlegt und vor Ort wieder zusammengesetzt werden. So kam es, dass Vibrationen sowie Strömungsprobleme der Antriebsgase vor dem Flug nicht richtig bewertet wurden. Auch die Lageregelung um die Längsachse beim Betrieb der ersten Stufe erwies sich als mangelhaft. Man verzichtete auf eigene Lageregelungstriebwerke und verwendete regelbare Abgasdüsen der Turbopumpen zur Lageregelung. Erst nach dem daraus resultierenden Absturz des dritten Prototyps wurden regelbare Triebwerke zur Rollstabilisierung eingesetzt.[1]

Gescheiterte Testflüge

Die N1 hat schließlich keinen Flug erfolgreich absolviert. Alle vier Testflüge zwischen 1969 und 1972 endeten mit einem Absturz – noch vor dem Zünden der zweiten Stufe bzw. dem unmittelbar danach erfolgenden Brennschluss der ersten Stufe. Ein schon für 1968 geplanter unbemannter Versuch (N1-4L) musste nach dem Aufrichten der Rakete abgesagt werden, da sich Haarrisse im Sauerstofftank der ersten Stufe fanden.

  • Der erste Startversuch (N1-3L) fand am 21. Februar 1969 statt. Bereits kurz nach dem Abheben entwickelte sich im Heck der Rakete ein Brand. Das Kontrollsystem der Triebwerke entdeckte diesen Brand (nach ca. 54 s) und schaltete irrtümlich alle Triebwerke nach 68,7 s ab. Als Nutzlast fand eine Modifikation 7K-L1A des für die Mondumrundung entwickelten 7K-L1 Verwendung. Das Rettungssystem trennte das Raumschiff vor der Explosion der N1-3L, es landete sicher am Fallschirm.
  • Der zweite Startversuch (N1-5L) erfolgte am 3. Juli 1969, also nur knapp drei Wochen vor der erfolgreichen Apollo-11-Mondlandung. Bereits während des Abhebens kam es durch einen „Fremdkörper“ (eventuell einen Metallspan), der in eine der Sauerstoffpumpen (Nr. 8) geriet, zu deren Explosion. Die automatische Triebwerkskontrolle schaltete in einer Folge von Fehlern daraufhin nach insgesamt ca. 10 s letztlich 29 der 30 Erststufentriebwerke ab. Die Rakete fiel mit noch einem laufenden Triebwerk in Schräglage aus 200 m Höhe zurück und schlug nach ca. 23 s auf. Bei der Explosion wurden zahlreiche Anlagen am Startplatz zerstört. Daraufhin wurde durch die Leitung des Startkomplexes zu dessen Schutz kategorisch ein seitliches Abschwenken der N1 unmittelbar nach dem Abheben verlangt. Auch sollten die Triebwerke der ersten Stufe nach dem Abheben in keinem Fall zu zeitig abgeschaltet werden können. Das einzige, was funktionierte, war wiederum das Rettungssystem; ca. 15 s nach dem Abheben beförderte es das Raumschiff 7K-L1S (s/n 5) aus der Gefahrenzone.
  • Für den dritten Start am 26. Juni 1971 wurden die verlangten Modifikationen realisiert. Die N1-6L hob durch asymmetrischen Schub der Haupttriebwerke seitlich ab und ging dann in den Steigflug über. Die aerodynamischen Besonderheiten dieses Manövers (seitliche Anströmung der Rakete und der asymmetrische Abgasstrahl) resultierten in einem durch die Lageregelung nicht mehr beherrschbaren Rollen, das zwischen der 45. und 50. Sekunde nach dem Abheben zum Kontrollverlust und der beginnenden Zerlegung der Struktur führte. Die verwendete zwangsweise Unterdrückung eines automatisierten Abschaltens der Triebwerke endete plangemäß nach 50 s, worauf die Lagekontrolle die Triebwerke in der 51. Sekunde abschaltete. Daraufhin wurde die Rakete durch Funkbefehl zerstört. Die begrenzte Rollstabilisierung der N1 war ursprünglich nicht für ein solch komplexes seitliches Manövrieren vorgesehen. Zumindest hatten aber bei diesem Versuch alle Triebwerke der ersten Stufe bis zum Abbruch zufriedenstellend gearbeitet. Als Nutzlast fanden Dummys Verwendung, daher verzichtete man auch auf das Rettungssystem.
  • Der vierte Start der weitgehend verbesserten N1-7L am 23. November 1972 lief bis zum Brennschluss der sechs zentralen Erststufentriebwerke problemlos ab. Deren abruptes Abschalten zur Vermeidung einer strukturellen Überbelastung führte zu Verdichtungsstößen im Treibstoffsystem, dem Zerreißen mindestens einer Sauerstoffleitung, der Explosion von Triebwerk Nr. 4 und letztlich dem Absturz der N1-7L nach etwa 107 Sekunden. Die Explosion erfolgte nur sieben Sekunden vor der geplanten Trennung der ersten und zweiten Stufe. Spätere Analysen zeigten, dass bei einer Trennung ca. 2 s vor der Explosion von Triebwerk Nr. 4 die bis dahin erreichte Fluggeschwindigkeit und -höhe eine erfolgreiche Fortsetzung der Mission gestattet hätte. Allerdings war ein solches Szenario vorab nie in Erwägung gezogen worden. Erstmals wurden Mockups des Mondraumschiffes 7K-LOK und des erfolgreich erprobten Landers LK mitgeführt.

Auswirkungen

Die Pläne für eine bemannte sowjetische Mondlandung wurden daraufhin Schritt um Schritt weiter verschoben und 1974 endgültig abgesagt. Wassili Mischin setzte zwar die Arbeit an der N1 fort, in der Hoffnung, sie unter anderem als Trägerrakete für den Transport einer bemannten Raumstation, vergleichbar dem US-amerikanischen Skylab, einsetzen zu können. Das gesamte N1-Programm wurde aber 1974 endgültig beendet, nachdem das OKB-1 mit der Gründung der Produktionsvereinigung RKK Energija am 22. Mai 1974 unter der Leitung von Walentin Gluschko in dieser aufging. Dieser Abbruch erfolgte vor einem nach Ansicht der Ingenieure aussichtsreichen weiteren Testflug der mit NK-33 ausgestatteten N1F-8L im letzten Quartal 1974. Zum Zeitpunkt des Programmabbruches war auch die N1F-9L bereits weitgehend fertiggestellt. Beide Missionen hatten unbemannte Landungen des Mondlanders LK zum Ziel. Die in Baikonur verbliebene 8L wurde zerlegt und viele Teile als Baumaterial in Stadt und deren Umgebung zweckentfremdet.

Technische Daten

  • Fünfstufige Flüssigkeitsrakete
  • Entwicklungsbeginn: 1960
  • Erstflug: 21. Februar 1969
  • Letzter Flug: 23. November 1972
  • Anzahl der Starts: 4
  • Fehlstarts: 4
  • Zuverlässigkeit: 0 %
  • Höhe: 105,3 m
  • Startmasse: 2750 t
  • Gesamtschub: 43,3 MN
  • Leermasse: 277 t
  • Nutzlast (LEO): 70 t (N1), später 95 t geplant (N1F)
  • Treibstoff: RP-1 (Kerosin-Art)/Flüssigsauerstoff

Startliste

Dies ist eine vollständige Startliste der Rakete N1.

Lauf. Nr. Datum (UTC) Typ S/N Startplatz Nutzlast Art der Nutzlast Nutzlast in kg (brutto) Orbit Anmerkungen
1 21. Februar 1969, 09:18 N1/Blok-G/Blok-D 3L Ba LC-110R Zond (L1S), L3 Modell unbemanntes Mondtestmodul  ? - Fehlschlag
Brand der Erststufe, Abschaltung der Triebwerke und Absturz nach 68,7 s
2 3. Juli 1969, 20:18 N1/Blok-G/Blok-D 5L Ba LC-110R Zond (L1S), L3 Modell unbemanntes Mondtestmodul  ? - Fehlschlag
Absturz nach Zerstörung einer Pumpe durch Fremdkörper in einer Sauerstoffleitung; Explosion mit Zerstörung der Starteinrichtung
3 26. Juni 1971, 23:15 N1/Blok-G/Blok-D 6L Ba LC-110L LOK Modell, L3 Modell unbemanntes Mondtestmodul  ? - Fehlschlag
Versagen der Lagestabilisierung, Selbstzerstörung der Rakete nach 50,9 s
4 23. November 1972, 06:11 N1/Blok-G/Blok-D 7L Ba LC-110L Zond (LOK), L3 Modell unbemanntes Mondtestmodul  ? - Fehlschlag
Zerstörung von Treibstoffleitungen nach Brennschluss der sechs zentralen Triebwerke, Explosion von Triebwerk Nr. 4, Absturz nach 106,9 s

Weblinks

 Commons: N1 (Rakete) – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. FliegerRevue Juni 2011, S. 42-45, Koroljows letzte Liebe: die Mondrakete N1

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