Nachruf-Affäre

Nachruf-Affäre

Franz Roman Nüßlein (* 12. Oktober 1909 in Kassel; † 9. Februar 2003 in Bad Homburg vor der Höhe) war ein deutscher Diplomat und Staatsanwalt, Auslöser des Nachruf-Erlasses im Auswärtigen Amt 2003, aus dem sich 2004 die Nachruf-Affäre entwickelte.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Nüßlein studierte Rechtswissenschaft in Göttingen und wurde dort Mitglied der katholischen Studentenverbindung K.St.V. Winfridia im KV. In Göttingen wurde er zum Dr. jur. promoviert. 1936 legte er sein Assessorexamen ab, trat 1937 der NSDAP bei (Mitgliedsnummer 4628997) und wurde 1940 als Staatsanwalt in Brünn und Prag (Reichsprotektorat Böhmen und Mähren) eingesetzt. Der Reichsprotektor Reinhard Heydrich lobte sein „Verständnis für die Notwendigkeit“ einer „entschlossenen Bekämpfung“ von „Reichsfeinden“. Nüßlein wurde daraufhin zum Oberstaatsanwalt befördert. Ab 1942 war er in der Funktion des stellvertretenden Generalstaatsanwalts in Prag tätig und stieg zum Generalstaatsanwalt, damit höchster Ankläger, auf. Als Kriegsverbrecher 1947 zu 20 Jahren Haft verurteilt, wurde er 1955 nach seiner Auslieferung an Deutschland in das Auswärtige Amt übernommen und war dort in verschiedenen Referaten als Referent eingesetzt, bis er schließlich Referatsleiter in der Zentralabteilung (Grundsatzfragen, Organisation, Öffentliches Recht) wurde. Danach war er 1962 bis 1972 Generalkonsul in Barcelona. 1959 wurde Nüßlein – in Unkenntnis seiner Vergangenheit bis 1955 – Ehrenphilister des K.St.V. Arminia in Bonn, dem er sich als Junggeselle in seiner Freizeit angeschlossen hatte.

Beteiligung an Todesurteilen 1940–1945

Neben seiner Weisungsbefugnis gegenüber den Staatsanwaltschaften bei den Sondergerichten in der Tschechoslowakei bearbeitete Nüßlein die Gnadensachen. 95 Prozent der Gnadengesuche wurden abgelehnt. Insgesamt soll Franz Nüßlein an etwa 900 Todesurteilen beteiligt gewesen sein. In mehr als 100 Fällen lehnte er eine Begnadigung ab und ordnete die Vollstreckung der Todesstrafe an. 1947 verfasste Nüßlein für den Prozess in der Tschechoslowakei gegen ihn einen Lebenslauf. Dort beschrieb er seine Tätigkeit als „Hilfstätigkeit beim Entgegennehmen eines Teils der Gnadengesuche und Interventionen.“ „In allen Fällen konnte durch meine Tätigkeit natürlich nie etwas verschlechtert werden.“

Verurteilung als Kriegsverbrecher

Nüßlein flüchtete nach Kriegsende zunächst nach Süddeutschland, wo ihn die Amerikaner verhafteten und internierten. Da Nüßleins Name an vorderer Stelle auf der Liste der mutmaßlichen Kriegsverbrecher stand, welche die Tschechoslowakei den Amerikanern mit der Bitte um Überstellung übergeben hatte, lieferten die Amerikaner Nüßlein 1947 aus. 1948 wurde Nüßlein in der Tschechoslowakei zu 20 Jahren Zuchthaus verurteilt. Im Zuge der Entlassung von Kriegsgefangenen wurde er 1955 von der Tschechoslowakei als „nicht amnestierter Kriegsverbrecher“ in die Bundesrepublik abgeschoben. Dort wurde Nüßlein ohne Prüfung seiner entsprechenden Angaben als Spätheimkehrer behandelt und erhielt Haftentschädigung.

Nachruf-Erlass 2003 und Nachruf-Affäre 2004

Nach seinem Tode erhielt Nüßlein in der Mitarbeiterzeitung des Auswärtigen Amtes den üblichen ehrenden Nachruf. Die pensionierte Übersetzerin Marga Henseler, die um Nüßleins Tätigkeit in Prag wusste, beanstandete den Nachruf bei Außenminister Joschka Fischer. Nachdem dieser auf ein Schreiben von Henseler nicht reagierte, beschwerte sie sich über Fischer bei Bundeskanzler Gerhard Schröder. Dieser machte die Angelegenheit zur Chefsache. Die Gedenkpraxis des Auswärtigen Amtes für dessen verstorbene Diplomaten, die früher NSDAP-Mitglieder waren, wurde geändert. Es wurde verfügt, dass diese fortan keinen ehrenden Nachruf mehr in der Mitarbeiterzeitung des Amtes erhalten. Hiergegen erhob sich öffentlicher Protest auch im aktiven Dienst des Auswärtigen Amtes stehender Diplomaten, bisher der einzige öffentliche Aufstand pensionierter und auch aktiver Diplomaten in der Geschichte des Auswärtigen Amtes. Hinzu kam, dass von den Regeln der neuen Nachrufpraxis unter anderem auch Walter Scheel und Hans-Dietrich Genscher, zwei ehemalige Außenminister der sozial-liberalen sowie der christlich-liberalen Regierungskoalition, betroffen sind, die demnach nach ihrem Tode keinen Nachruf erhalten würden. Außenminister Joschka Fischer kündigte zur Rechtfertigung seines Erlasses eine Historikerkommission an, welche die personelle Kontinuität nach 1945 und den internen und externen Umgang des Ministeriums mit der eigenen Vergangenheit erforschen soll. Im Frühjahr 2005 wurde die Kommission aus den Deutschen Eckart Conze, Norbert Frei und Klaus Hildebrand, dem Amerikaner Henry A. Turner (Yale) und dem in Jerusalem lehrenden Moshe Zimmermann eingesetzt.

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