Nichtsein

Nichtsein

Der Frage, ob sich Nichts denken lässt oder nicht – und wenn ja, wie – ist in der Philosophiegeschichte auf sehr verschiedene Arten nachgegangen worden. Dabei wurde meist unterschieden zwischen einem relativen Nichts, das als Mangel oder Verneinung verstanden werden kann und einem absoluten Nichts, welches, da es sich nicht aus der Verneinung eines Seienden ergibt, bezugslos und differenzlos ist und damit potentiell undenkbar.

Der Umgang mit dieser Frage kann aus der Perspektive verschiedener philosophischer Disziplinen geschehen, Nichts kann als Thema der Metaphysik und Ontologie behandelt werden, wie bei Platon oder Hegel. Nichts kann aber auch als existentielle Erfahrung philosophisch beschrieben werden, wie bei Martin Heidegger oder Jean-Paul Sartre. Die Spuren von Nichts können als sprachphilosophische und logische Phänomene wie Verneinung oder Falschheit analysiert werden.

Inhaltsverzeichnis

Vorsokratische Beschäftigung mit dem Nichts

Die Frage nach dem Nichts beschäftigt die westliche Philosophie seit ihrem allerersten vorsokratischen Anfang. Der griechische Philosoph Parmenides von Elea behandelt das Thema in dem einzigen von ihm erhaltenen Fragment, seinem Lehrgedicht Über die Natur:

„Wohlan, so will ich denn verkünden (Du aber nimm mein Wort zu Ohren), welche Wege der Forschung allein denkbar sind: der eine Weg, daß (das Seiende) ist und daß es unmöglich nicht sein kann, das ist der Weg der Überzeugung (denn er folgt der Wahrheit), der andere aber, daß es nicht ist und daß dies Nichtsein notwendig sei, dieser Pfad ist (so künde ich Dir) gänzlich unerforschbar. Denn das Nichtseiende kannst Du weder erkennen (es ist ja unausführbar) noch aussprechen.“

Aus diesen Zeilen lässt sich die Handlungsanweisung entnehmen, sich nicht mit dem Nichtseienden zu befassen und alle Aufmerksamkeit stattdessen allein dem Seienden zukommen zu lassen. Es ist nämlich unmöglich, über das Nichtseiende zu sprechen, da im selben Moment, als man von diesem etwas aussagt, dessen Sein wieder voraussetzt. Außerdem sind Sein und Denken äquivalent: Über das Nichts kann man demnach nicht nachdenken. Auf diese Weise entsteht eine Definition der Aufgabe von Wissenschaft: lohnende Forschung kann alles zum Thema haben, nur nicht das Nichts. Der Spruch des Parmenides von Elea gilt als erste Formulierung abstrakter metaphysischer Reflexion im antiken Griechenland und dient Platons Dialog Sophistes als Ausgangspunkt.

Platons Bestimmung von Nichts als Verschiedenheit

Platon relativiert die Position des Parmenides vom absoluten Nichts. In dem Dialog Sophistes bestimmt er das Nichts als Nichtseiendes und dieses schließlich in einer längeren Argumentationskette als Verschiedenheit. Dabei werden fünf höchste Kategorien/Ideen entwickelt, die irreduzibel sind und an denen alle anderen Ideen teilhaben. Durch die Teilhabe an diesen fünf Ideen wird alles andere erst, was es ist, ohne mit den fünf Ideen identisch zu sein. Die fünf Ideen sind Sein, Ruhe und Bewegung, Identität und Verschiedenheit. Jede dieser Ideen ist mit sich selbst identisch und hat teil an den anderen Ideen. Durch die Verschiedenheit wird die Möglichkeit des Nichtseins aufgemacht. Die Idee der Ruhe ist mit sich selbst identisch, aber verschieden von den anderen vier Ideen. Sie hat Anteil z.B. an der Idee des Seins, sie ist jedoch nicht die Idee des Seins. Die Idee der Verschiedenheit eröffnet also die Möglichkeit des Nichtseins.

Spätantike und Mittelalter

In der frühchristlichen Philosophie stellt sich das Problem bei der Diskussion der göttlichen Schöpfung: sie kann nach Augustin nur ex nihilo, aus dem Nichts erfolgt sein, denn alles andere wäre keine Schöpfung, sondern lediglich eine Umwandlung. Tertullian differenziert zwei Sprechweisen und korrigiert Augustin: dieser meine die Schöpfung eigentlich a nihilo, 'von nichts her', ohne eigene Ursache. Ex nihilo hingegen bedeutete, das Nichts als eine Substanz zu fassen; dies führt nach Tertullian zur Gnosis. Nikolaus von Kues versteht unter dem Nichts die alteritas, die 'Andersheit', die je spezifisch zu einem möglichen Sein angelegt ist.

Hegels Bestimmung von Nichts

Das Nichts ist der Gegenbegriff zum Sein.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel beginnt seine Wissenschaft der Logik mit den drei Bestimmungen „Sein“, „Nichts“, „Werden“. Sein, „reines Sein“ soll als unbestimmtes Unmittelbares verstanden werden. Da das reine Sein unbestimmt sein soll, kann es keine Qualität haben, keine irgendwie geartete innere Komplexität, es können auch keine Beziehungen zu anderen Dingen oder Gedanken bestehen. Die Unmittelbarkeit des reinen Seins betont noch einmal, dass das reine Sein keinen äußeren Bedingungen unterliegt, keine Ursache hat, sondern einfach nur es selbst ist. Der Gedanke des reinen Seins erweist sich somit als vollkommen leer und das, was in diesem leeren Gedanken gedacht wird, ist eigentlich nichts. Die Bestimmungen vom reinen Sein und vom reinen Nichts erweisen sich als dieselben und auch der Gedanke vom reinen Nichts ist mit dem Gedanken vom reinen Sein identisch.

„Dies reine Sein ist nun die reine Abstraktion, damit das Absolut-Negative, welches, gleichfalls unmittelbar genommen, das Nichts ist.“ (Enzyklopädie, § 87)

Kerngedanken dieses Zitats:

  • Das reine Sein ist für Hegel „reine Abstraktion“.
  • Aus dieser Eigenschaft lässt er folgen, dass das Sein das „Absolut-Negative“ sei.
  • Ist das Sein das Absolut-Negative, so ist es Nichts.

Bestimmung vom Nichts als existentielle Erfahrung

Nach Martin Heideggers Vortrag Was ist Metaphysik? gehören das „Nichts“ und das „Sein“ zusammen. Sie sind nicht dasselbe, aber sie bedingen sich und gehören zusammen. Erst durch das „Nichts“ offenbart sich das „Sein“ als eine „Befremdlichkeit“ oder als das „Andere“. Deutlich spürbar ist dieses „Nichts“ in der „Stimmung“ der Angst, nicht in der Furcht vor etwas Bestimmtem, sondern in der tiefen, in uns verborgenen „Angst vor“, oder „wegen“. Nicht ganz unbestimmt, aber auch nicht in Worten fassbar, eben die Angst vor dem „Nichts“. In einer solchen Angst ist einem alles gleichgültig und zwar gleichermaßen gleichgültig. Ob Tisch oder Stuhl, Tod oder Leben, es hat keine Relevanz. Eine merkwürdige Ruhe durchzieht einen, fast wie in der Stimmung der Langeweile, die dem Sein am spürbar nächsten ist, und doch nicht ganz. Dieser kleine, von uns gefühlte Unterschied zwischen den beiden Stimmungen, wieder nicht in Worten fassbar, aber als etwas „Fehlendes“ fühlbar, ist das „Nichts“.

Sartres Bestimmung vom „Nichts“ als Freiheit

Jean-Paul Sartre bestimmt den Menschen in seinem Werk Das Sein und das Nichts als die Form des Seins, die das Nichts in die Wirklichkeit bringt und sich dadurch von allem anderen (bewusstlosen) Sein unterscheidet. Aus der Bewusstheit, die der Mensch über die Möglichkeit des Nicht-Seins hat, leitet er die Fähigkeit der „Negation“ ab. Damit ist die Fähigkeit gemeint, sich von bestimmten Zukunfts- und Vergangenheitsbildern zu distanzieren. Durch diese Fähigkeit der Negation hat der Mensch die Freiheit, sich in die Zukunft zu entwerfen und aus der Vergangenheit zu lösen. Diese Freiheit verstärkt sich noch, da der Mensch auch die Form der eigenen Gegenwart negieren kann („ich bin das, was ich sein werde“) und somit auch nicht von dieser „abhängig“ ist, bzw. „festgelegt“ wird. Das Nichts ist nach Sartre die Freiheit, die dem Menschen gegeben ist und die nicht abgelehnt werden kann.

Sartre verweist in seinem Werk Das Sein und das Nichts außerdem darauf, dass das Nichts eigentlich nicht durch Seinsbegriffe zu erfassen ist. Der transzendente Begriff des Nichts kann laut Sartre aufgrund der Nichtexistenz eines Inhaltes nur annähernd verdeutlicht werden, z.B. in der Grenzziehung zwischen einem Moment und dem folgendem. Versuchen wir uns hier eine Grenze vorzustellen, sind wir dazu nicht in der Lage und genau hier finden wir das „Nichts“.

Blochs Philosophie des Noch-Nicht-Seins

Eine differenzierte Philosophie des Nichts findet sich auch bei Ernst Bloch. Unter der Kategorie des 'Noch-Nicht-Seins' fasst Bloch die verschiedenen Formen der menschlichen Erfahrung des Mangels als Ausdruck einer fundamentalen 'Nichtigkeit' einer Gegenwart, in der allerdings Tendenzen auf ein mögliches, volles Sein angelegt sind.

Derridas Bestimmung vom „Nichts“ als Schweigen

In seiner Kritik an Foucaults Deutung des descartschenCogito“ entwickelt Jacques Derrida (Cogito und die Geschichte des Wahnsinns, in: Die Schrift und die Differenz) auch eine Bestimmung von „Nichts“. „Nichts“ ist die wahnsinnige Unbestimmtheit jenseits der von ihr befreiten „cogito-Erfahrung“, welche als feste Basis Gewissheit über unsere eigene Existenz gibt, jedoch nicht über selbige hinaus. Aufgrund des Wesens des „Nichts“ kann über es nicht gesprochen werden, da die Sprache Ausdruck der Vernunft ist, welche dem „Nichts“ gegenübersteht und es in Schach hält. „Nichts“ offenbart sich also ausschließlich im Schweigen.

„Nichts“ im Buddhismus

Der buddhistische Begriff Shunyata (Sanskrit, jap. , ) bedeutet Leere oder Leerheit. Eine Gleichsetzung von Shunyata (Mahayana) und Nichts (Nihilismus) wird üblicherweise vermieden. Der japanische Philosoph Nishitani bildet eine Ausnahme: Durch genaue Kenntnis der westlichen und östlichen Philosophie gelingt eine Paralleldarstellung von Nihil und Shunyata in existentialistischer Sprache. In der Übersetzung von Büchern, die Übungen im Zen-Buddhismus beschreiben, wird insofern auch vom Nichts gesprochen. Im Ideal ist dies die Praxis einer nicht vorhandenen Anhaftung.

Siehe auch: Mu (Philosophie), Das absolute Nichts der Kyōto-Schule

Rudolf Carnaps logische Syntax der Sprache

In diesem Werk versuchte der logische Positivist Rudolf Carnap, der Leiter des sog. Wiener Kreises war, aufzuzeigen, dass sämtliche Sätze über das Nichts auf sprachlicher Verwirrung beruhen und dass die Bildung des Substantivs „das Nichts“ zwar syntaktisch korrekt ist, jedoch den Satz, welcher den Ausdruck beinhaltet, zu einem sogenannten sinnlosen Satz macht. Carnap begründet dies mit der Unmöglichkeit zur Verifikation, was jedoch ein problematisches Konzept darstellt. Dennoch besteht in der heutigen Epistemologie und Sprachphilosophie ein weit reichender Konsens über die Leere des Begriffs „das Nichts“.

Nihil privativum

Das nihil privativum definiert das Nichts als eine Abwesenheit von Etwas im Gegensatz zu einem autosemantischem Begriff.

Beispiele hierfür:

  • Schatten, Finsternis als Abwesenheit von Licht
  • Kälte als Abwesenheit von Hitze

Werke

Literatur

  • Artikel „Nichts“ in: Walter Brugger, Harald Schöndorf (Hrsg.): Philosophisches Wörterbuch. Alber, Freiburg im Breisgau 2007, ISBN 3-495-48213-X
  • Joji Yorikawa: Das System der Philosophie und das Nichts. Studien zu Hegel, Schelling und Heidegger. Alber, Freiburg im Breisgau 2005, ISBN 3-495-48159-1
  • Hisaki Hashi: Die Dynamik von Sein und Nichts. Dimensionen der vergleichenden Philosophie. Lang, Frankfurt am Main 2004, ISBN 3-631-50561-2
  • Keiji Nishitani: Was ist Religion? Insel, Frankfurt am Main 1982; als Taschenbuch: ebd. 2001, ISBN 3-458-34429-2
  • Ludger Lütkehaus: Nichts. Abschied vom Sein – Ende der Angst. Haffmans, Zürich 1999; 6. A. Haffmans bei Zweitausendeins, Frankfurt am Main 2004, ISBN 3-86150-544-4
  • Walter G. Neumann: Die Philosophie des Nichts in der Moderne. Sein und Nichts bei Hegel, Marx, Heidegger und Sartre. Die Blaue Eule, Essen 1989, ISBN 3-89206-330-3
  • Rudolf Carnap: Logische Syntax der Sprache. Springer, Wien 1934; 2. A. ebd. 1968

Siehe auch


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