Nivellierte Mittelstandsgesellschaft

Nivellierte Mittelstandsgesellschaft

Die Bezeichnung Nivellierte Mittelstandsgesellschaft für die Sozialstruktur der Bundesrepublik Deutschland wurde 1953 von dem Soziologen Helmut Schelsky geprägt.

Inhaltsverzeichnis

These

Schelsky stellte die These auf, dass sich die Soziale Schichtung in der Bundesrepublik durch eine steigende Mobilität stark verändere. Immer mehr Menschen aus den Unterschichten stiegen demnach in die Mittelschicht auf- und aus der Oberschicht wiederum in die Mittelschicht ab, so dass letztere erheblich an Bedeutung gewinne. Immer breitere Bevölkerungskreise verstünden sich selbst als zum „Mittelstand“ gehörig. Sozialprestige und Standesbewusstsein, etwa in Bezug auf Ansehen und Stellung eines Professors, deutete er als Übergangsrelikt zur „Nivellierten Mittelstandsgesellschaft“. Seine Position eines Schichtenmodells war insbesondere gegen ältere und laufende Vorstellungen einer Klassengesellschaft gerichtet.

Vornehmlich beruhten Schelskys Beispiele auf den spezifischen sozioökonomischen Gegebenheiten der deutschen Nachkriegszeit, die ab Mitte der 1950er Jahren in das sogenannte Wirtschaftswunder mündeten. Politische Maxime des die Soziale Marktwirtschaft prägenden Wirtschaftsministers und späteren Bundeskanzlers Ludwig Erhard (CDU) war „Wohlstand für Alle“.

Herleitung

Die Entwicklung hin zu einer „Nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ hat sich, so Schelsky, in Deutschland bereits seit der Zeit des Nationalsozialismus abgezeichnet. Sie ist aber generell in den „industriell-bürokratischen Gesellschaften“ der westlichen Welt und wahrscheinlich auch in den „sozialistischen“ Gesellschaften des „Ostblocks“ festzustellen. Schelsky stützte sich bei dieser Argumentation z. T. auf die damals viel rezipierten Nivellierungsannahmen des US-amerikanischen politischen Theoretikers James Burnham, die dieser bereits 1941 in seinem Werk Das Regime der Manager dargelegt hatte.

Rezeption

Die Ergebnisse des „Wirtschaftswunders“ wirkten sich auf die Einstellungen großer Teile der Bevölkerung aus, so dass Schelskys Begriff in der Soziologie, in den Massenmedien und in der sonstigen Öffentlichkeit vielfach diskutiert und häufig übernommen wurde. Schelsky war damals wohl der bekannteste lebende deutsche Soziologe (ähnlich wie Ulrich Beck in den 1990er Jahren), was allerdings nicht nur mit seinem Blick für aufkommende Themen, sondern auch mit seinem Organisationstalent und seiner Podiumspräsenz erklärbar ist.

Seiner Aussage widersprachen u.a. Vertreter einer Klassentheorie, insbesondere marxistische Wissenschaftler. Zum Beispiel kritisierte der Sozialphilosoph Leo Kofler Schelskys Theorie stark. Der liberale Soziologe Ralph Dahrendorf lehnte bereits 1957 in seinem Werk Soziale Klassen und Klassenkonflikt in der industriellen Gesellschaft Schelskys Auffassung ab und betonte die empirisch feststellbaren sozialen Ungleichgewichte. Die Vorstellung einer nivellierten (vereinheitlichten) Gesellschaft hielt er für eine Variante des nationalsozialistischen Konzeptes der Volksgemeinschaft, das ebenfalls von einer quasi-harmonischen Einheit der Gesellschaft ausging und deren soziale Spaltung in Klassen oder Subgruppen leugnete. Auch René König wandte sich entschieden gegen den Begriff.

Als die bundesrepublikanischen Medien Mitte der 1960er Jahre über Schelskys nationalsozialistische Vergangenheit berichteten, wurden seine Aussagen damit in Verbindung gebracht. Die Einwände hatten jedoch – auch wegen des Kalten Krieges – bis zum Auftritt der „68er“ relativ wenig Resonanz in der Öffentlichkeit.

Sobald in den 1970er Jahren der normale wirtschaftliche Krisenzyklus auch in der Bundesrepublik Deutschland für größere soziale Unterschiede sorgte, verlor die zeitbezogene Wendung von der „Nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ an Überzeugungskraft und Bedeutung. Im Laufe der Globalisierung und auf Grund der Verteilungskonflikte einer schwach wachsenden Wirtschaft verschwand er ab den 1970er Jahren fast vollends aus der Öffentlichkeit. Zur Charakterisierung der Sozialstruktur in Deutschland entstand nun z. B. der Begriff Zwei-Drittel-Gesellschaft.

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