- Parteiensystem
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Das Parteiensystem eines Staates umfasst die einzelnen politischen Parteien, ihre Eigenschaften und das Beziehungsgeflecht zwischen ihnen. Schon zur Entstehungszeit der ersten Parteien wurden Erklärungen dafür gesucht, weshalb es (unterschiedliche) Parteien gibt und weshalb sich gerade ein spezifisches Parteiensystem in einem Land zu einer gewissen Zeitperiode ausgebildet hat.
In den modernen demokratischen Systemen geschieht die Wählermobilisierung und Konfliktverarbeitung über den Parteienwettbewerb. Das Parteiensystem ist Teil des intermediären Systems, in dem Vermittlungsleistungen zwischen Wählern und Regierungssystem erbracht werden müssen. Die Systemfunktion des Parteiensystems ist daher zuvorderst die Stabilität des politischen Systems zu gewährleisten, insbesondere durch die Bewerkstelligung notwendigen politischen Wandels, zur Anpassung an sich ändernde Rahmenbedingungen.
Das augenfälligste Kennzeichen und Unterscheidungsmerkmal zwischen Parteiensystemen ist die Anzahl der (relevanten) Parteien. Danach wurden unterschieden: Ein-, Zwei-, Mehr- und Vielparteiensysteme, und noch weitere Konstruktionen, wie z. B. das so genannte Zwei-Einhalb-Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland zwischen etwa Ende der 1950er Jahre bis zum Aufkommen der Grünen Anfang der 1980er Jahre.
Die ideologische Distanz zwischen den Parteien, und damit die (Un-) Möglichkeit eine gemeinsame Regierungskoalition zu bilden, ist ein weitere wichtige Eigenschaft eines Parteiensystems. Es herrscht zwar noch keine Einigkeit über alle relevanten Eigenschaften, doch kann man mindestens sieben unterscheiden: Fragmentierung (Parteienanzahl), Asymmetrie (Größenverhältnisse), Volatilität (Größenänderungen zwischen Wahlen), Polarisierung (ideologische Distanz), Legitimität (Akzeptanz durch Bevölkerung), Segmentierung (Abschottung der Parteien bezüglich Koalitionsbildung) und Regierungsstabilität (Dauer der Regierungskoalitionen).
Die Frage, weshalb sich gerade ein bestimmtes Parteiensystem entwickelt hat, wurde in der älteren institutionalistischen Parteienforschung mechanistisch durch das existierende Wahlsystem erklärt. So besagt etwa Duvergers Gesetz konsequent gedacht, dass es unter einem relativen Mehrheitswahlrecht zur Ausbildung eines Zweiparteiensystems kommt (Westminster-System). Dies ist allerdings selbst für das namensgebende Beispiel Großbritannien kaum jemals erfüllt gewesen (heute z. B. Liberal Democrats und Scottish National Party). Die institutionelle Sicht ist allerdings für Diktaturen und Länder, in denen das Ausmaß der Repression eine freie Parteienbildung und -entwicklung behindert, ausschlaggebend.
Unter den Bedingungen moderner liberal-demokratischer Systeme, wie sie heute vorwiegend und vor allem in den westlichen Industrieländern vorherrschen, ist die Bildung von Parteien und ihre Teilnahme an Wahlen in der Regel sogar verfassungsrechtlich garantiert. Dabei hat sich gezeigt, dass mehr noch als das Wahlsystem, die Sozialstruktur mit ihren gesellschaftlichen Konfliktlinien, die existierenden Gesellschaftsmilieus und die dominierenden Interessenkonstellationen der Bürger für die Herausbildung und Erklärung von Parteiensystemen bestimmend sind.
Inhaltsverzeichnis
Eigenschaften von Parteiensystemen
Parteiensysteme lassen sich grob nach zwei Unterscheidungsmerkmalen unterscheiden: Strukturell, d. h. nach der Zahl der Parteien, oder nach den Verhaltensmustern, insbesondere den angewandten Konfliktstrategien und den ideologischen Distanzen. Um zu einer genaueren Beschreibung zu gelangen, kann man die Parteien als Teil des intermediären Systems und ihre Aufgaben darin, bezüglich Wahlen und Regierung, betrachten. Damit lassen sich auch in den Eigenschaften von Parteiensystemen eine elektorale und eine gouvernementale Dimension unterscheiden. Zu den Eigenschaften gehören Fragmentierung, Asymmetrie, Volatilität, Polarisierung und Legitimität (elektoral) bzw. Segmentierung und Regierungsstabilität (gouvernemental) innerhalb des Parteiensystems.
Fragmentierung
Die Fragmentierung, d. h. der Grad der Zersplitterung oder Konzentration der Parteienlandschaft, war einer der ersten benutzten Typologisierungsmerkmale. Ein reines Abzählen der existierenden Parteien wirft aber zwei Probleme auf.
- Kleinstparteien, die nur wenige Mitglieder haben oder nur wenige Wahlstimmen auf sich versammeln können, sind für die Beurteilung der Funktion eines Parteiensystems irrelevant, sollten beim Abzählen also nicht berücksichtigt werden (Deutschland hätte sonst nicht 5 relevante Parteien, sondern viele Dutzende). Aber wo ist die Grenze zu ziehen? Häufig wird sie bei 2 % der Wählerstimmen angesetzt. Diese genaue Größe bleibt aber trotz gewisser Plausibilität letztlich willkürlich.
- Auch nach der Wahl einer Relevanzuntergrenze bleibt das Problem, dass in ihrer Größe sehr unterschiedlich Parteien gleich gezählt und gewichtet würden. Die Parteienfragmentierung eines Landes mit zwei etwa gleichstarken Parteien (Zweiparteiensystem) würde ebenso mit „2“ gezählt wie das Parteiensystems einer Schein-Demokratie mit einer Partei mit zum Beispiel über 90 % und einer zweiten gerade um die 5 %. Das wäre aber ein nichts sagender Indikator.
Deshalb wird neben der reinen Anzahl der Parteien auch ihr unterschiedliches Gewicht berücksichtigt. Oft geschieht dies mittels der so genannten „effektiven Parteienanzahl“. Diese ist gleich der tatsächlichen Anzahl, wenn alle Parteien gleich groß sind (z. B. jede von 2 Parteien besitzt 50 % oder von dreien 33 %), wird aber nahezu 1, wenn die Dominanz einer Partei sehr groß ist (z. B. eine Partei über 90 %). Damit kann auch vermieden werden, dass eine notwendige, aber letztlich immer willkürlich bleibende, Parteimindestgröße das Ergebnis verfälscht.
Asymmetrie
Hiermit beschreibt man das Größenverhältnis der beiden größten Parteien. Diese sind in der Regel auch die Hauptkonkurrenten um die Stellung der Regierungsmehrheit, und stellen damit auch die wichtigsten Exponenten ihres jeweiligen politischen Lagers dar (z. B. SPD für das ‚linke‘ Lager und CDU für das konservative Lager in Deutschland). Hiermit kann auch geklärt werden, ob eine Partei wegen ihres größeren längerfristigen Wählerpotentials, über strukturelle Vorteile bei der Erlangung der Regierungsmacht verfügt.
Polarisierung
Für die Stabilität eines Regierungssystems ist gerade auch die prinzipielle Einigungsmöglichkeit und Kompromissfähigkeit der politischen Gruppen nötig. Um dies zu erfassen wurde von Sartori der Grad der Polarisierung der Parteien erfasst, der die ideologische Distanz zwischen ihnen zum Ausdruck bringt. Dazu werden die einzelnen Parteien durch Dokumentenauswertung, Expertenbefragung oder Bevölkerungseinschätzungen (welche erstaunlicherweise meist identische Ergebnisse zeitigen) ideologisch positioniert, meist entlang einer Rechts-Links-Skala. Als aussagekräftige Größe kann dann die Distanz zwischen den beiden ‚extremsten‘ Parteien dienen, oder eine mittlere Distanz unter Einbeziehung aller Parteien.
Sartoris Klassifizierung von Parteiensystemen nach der ideologischen Polarisierung
- Zweiparteiensysteme sind ein Idealtypus der kaum je in der Realität vorkommt. Selbst Großbritannien, Kanada oder Neuseeland, als klassische Beispiele des Westminstermodells (mit eigentlich nur 2 Parteien), waren nur insofern Zweiparteiensysteme, als sie versuchten an der abwechselnden Regierungsstellung, durch eine der beiden großen Parteien, ohne Koalition festzuhalten.
- Im gemäßigten Pluralismus haben die relevanten Parteien oft nur eine geringe ideologische Distanz, neigen zur polaren Koalitionsbildung und bevorzugen den zentripetalen Wettbewerb. Man kann dabei aber drei Untertypen unterscheiden:
a) alternierende Regierung ohne Koalition möglich (GB, Kanada, Österreich bis in 1990er);
b) Regierung nur mit Koalition möglich (Australien, BRD);
c) Koalitionen der Mitte oder große Koalitionen, oft als tolerierte Minderheitsregierung (Benelux-Staaten, nordische Länder außer Finnland, Schweiz). - Der polarisierte Pluralismus, welcher sich durch eine hohe Parteienzahl und einer großen ideologischen Distanz untereinander und zum politischen System selbst auszeichnet, ist heute kaum mehr vom gemäßigten Pluralismus zu scheiden. Die Grenze wurde von Sartori noch zwischen fünf bis sechs Parteien verortet. Heute sind aber vor allem echte Antisystemparteien kaum mehr aufzufinden. Daher sollte auch dieser Typ unterteilt werden:
a) polarisierter Pluralismus mit Fundamentalopposition von rechts und links (Weimarer Republik, Zweite Spanische Republik);
b) mit regierungsfähigen Mitteparteien (Frankreich, Israel, Finnland, Italien, Spanien) - Systeme mit einer dominanten Partei, die meist die Regierung bildet und nur durch eine Koalition (fast) aller anderen Parteien abgelöst werden kann/könnte (viele Entwicklungsländer, Mexiko, Bayern)
Volatilität
Ein Parteiensystem kann relativ statisch, oder sehr veränderbar und wandlungsfähig sein. Mit der Volatilität versucht man die Stärke der Veränderungen der Parteigrößen, über ihre Wählerstimmen zwischen z. B. zwei aufeinander folgenden Wahlen zu erfassen. In der vergleichenden Analyse werden nach dem sog. „Pedersen-Index“ die Gewinne aller Parteien bei einer Wahl im Vergleich zur vorangegangenen Wahl summiert. Somit sind zwar keine Aussagen über den individuellen Wechselwähler möglich, wohl aber eine Bewertung der Veränderungsdynamik des Systems insgesamt.
Legitimität
Eine weitere wichtige Systemeigenschaft ist die Legitimität des Parteiensystems in den Augen der Bürger. Nach systemtheoretischen Überlegungen im Anschluss an Easton, dürfen dabei nicht die Verhaltensweisen der Bürger, wie z. B. die Wahlbeteiligung, als Maßstab genommen werden, sondern nur die Orientierungen und Einstellungen der Menschen zum gesamten Parteiensystem. Die Messung dieser so genannten diffusen Systemunterstützung geschieht daher über repräsentative Bevölkerungsumfragen. „Diffus“ ist dabei besser als eine nur „spezielle“ Systemunterstützung, die sich nur auf einzelne Elemente bezieht, wie z. B. nur Zustimmung zu einzelnen Gesetzesinitiativen, bei gleichzeitig möglicher Ablehnung des (Parteien-) Systems als Ganzem.
Segmentierung
Die Segmentierung des Parteiensystems beschreibt eine der zwei Eigenschaften, die zur regierungsbildenden Funktion und Dimension des Parteiensystems gehören. Damit ist das Ausmaß der Abschottung der Parteien untereinander bezüglich möglicher Koalitionsbildungen gemeint. Eine Erfassungsmöglichkeit ist, die politisch nicht möglichen Koalitionen gegen die theoretisch vorhandenen Möglichkeiten zu gewichten.
Regierungsstabilität
Viele politische Entscheidungen müssen lange vorbereitet werden, gerade innerhalb von Koalitionsregierungen. Daher ist zur Stabilität des politischen Systems als Ganzem auch ein gewisses Mindestmaß an Stabilität der einzelnen (Koalitions-)Regierungen notwendig. Dies kann erfasst werden durch die durchschnittliche Dauer von Regierungskonstellationen.
Erklärung der Entwicklung von Parteiensystemen
Auf die Entwicklung politischer Parteien wirken zum einen politisch-institutionelle Rahmenbedingungen, wie die Art des Regierungssystems (parlamentarisch vs. präsidentiell, föderativ vs. unitarisch) und besonders des Wahlrechts. Zum anderen wird die historische Entwicklung und die sozialstrukturelle Basis zur Erklärung herangezogen.
Institutionelle Ansätze (Wahlsystem)
Hierunter fallen Ansätze die das Parteiensystem in einem Land aus den bestehenden Regelungen zum Wahlsystem zu erklären versuchen. Eine zentrale Rolle spielt dabei die Unterscheidung zwischen Staaten mit Mehrheitswahlrecht und solchen mit Verhältniswahlrecht. Das Mehrheitswahlrecht begünstigt danach die Konzentration der Wählerstimmen auf zwei Parteien, wohingegen das Verhältniswahlrecht eine Vielzahl von Parteien unterstützt. In der Regel gewinnt eine Partei oder eine vor der Wahl bestimmte Koalition eine regierungsfähige Mehrheit. Die relative Mehrheitswahl hemmt die Zersplitterung des Parteisystems und belohnt Zusammenschlüsse von Wählergruppen. Neue Parteien können sich unter dem Mehrheitswahlrecht nur äußerst mühsam etablieren. Es bilde sich tendenziell ein Zweiparteiensystem heraus.
Empirisch ist die Lage zwar komplizierter, als theoretische Annahme kann sie aber plausibel begründet werden. Nach Duvergers Gesetz wird in einem Wahlsystem mit relativem Mehrheitswahlrecht (z. B. Großbritannien, USA) ein Zweiparteiensystem entstehen, weil unter diesen Bedingungen die Stimmen innerhalb eines Wahlkreises, die für die Verlierer (alle übrigen, außer dem mit den meisten Stimmen) abgegeben werden, die Sitzverteilung im Parlament nicht beeinflussen, mithin verloren sind. Um seine Position überhaupt im Parlament vertreten zu sehen, ist es aus Wählersicht also rational einer größeren Partei, die zumindest gewisse Aussichten hat den Wahlkreis zu gewinnen, seine Stimme zu geben. Durch diese Bevorzugung größerer Parteien durch den Wähler, besteht auch ein Anreiz für die sich zu Wahl stellenden politischen Gruppierungen sich zu verbinden und Wählerallianzen zu schließen. Nur so haben dann auch Minderheitenpositionen eine Chance im Parlament vertreten zu sein. Dieses Verbinden dauert, konsequent zu Ende gedacht, so lange an, bis sich in einem solchen Wahlsystem nur noch zwei Parteien zur Wahl stellen. Diese können durchaus wechselnde Wählerallianzen umfassen, womit dann auch die notwendige Anpassungsfähigkeit an sich verändernde gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, gewährleistet werden kann.
Mit der Einordnung nach Zwei- und Vielparteiensystemen sind auch Vorstellungen verbunden, wonach erstere nach dem englischen Westminster-Modell stabile Regierungen und häufige Regierungswechsel hervorbringen würden. Es bestehe ein intensiver, konfliktreicher Wettbewerb und ein klares ideologisches und soziales Profil zwischen der „linken“ und der „rechten“ Partei. In dem sich unter Verhältniswahlrecht ergebenden Vielparteiensystem, existiere dagegen ein heilsamer Zwang zu Kooperation und Kompromiss. Die politischen Systeme der Schweiz, der Niederlande oder Österreichs sind deshalb durch ein Konkordanzsystem gekennzeichnet. Politik wird dort weniger durch Mehrheits-, sondern mehr nach Einstimmigkeitsregeln entschieden.
Die real existierende Vielfalt von Parteien zeigt allerdings, dass das Wahlsystem als alleinige Variable zur Erklärung der Parteienkonstellation nicht ausreicht. Auch in Ländern mit Mehrheitswahlrecht bilden sich häufig mehr als zwei bedeutsame Parteien (z. B. Scottish National Party und Liberals im Ursprungsland des Westminster-Modells). Die Konzentration ist dabei umso ausgeprägter, je niedriger das gesellschaftspolitische Konfliktniveau eines Landes ist. Lediglich die meist tatsächlich höhere durchschnittliche Parteienzahl in Wahlsystemen mit Verhältniswahlrecht kann durch diesen Mechanismus erklärt werden.
Sozialstrukturelle Ansätze
In den gegenwärtig existierenden Parteien haben sich nach diesen Ansätzen, die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und sozio-politischen Konfliktlinien um die Bildung moderner Staaten niedergeschlagen und erhalten. Abhängig von der Rolle, die die gesellschaftliche Spaltung zwischen Kapital und Arbeit, die Spannungen zwischen industriellem und agrarischem Sektor oder die religiösen und ethnischen Konflikte spielten, haben sich auch verschiedene Parteiensysteme und soziale Milieus herausgebildet.
Konfliktlinien (cleavages)
Martin Lipset und Stein Rokkan haben in den 1950er/60er Jahren mit der Cleavage-Theorie ein einflussreiches Entwicklungsmodell für Parteien entworfen. Dabei sind Parteien der Ausdruck von sozialstrukturellen Konfliktlagen (cleavages). Neben dem Klassenkonflikt (cleavage „Arbeit versus Kapital“) existieren auch noch historische Konflikte wie „Stadt vs. Land“, „Zentrum vs. Peripherie“ und „Kirche vs. Staat“ sowie als Weiterentwicklung, insbesondere durch Ronald Inglehart, der cleavage „Postmaterialismus vs Materialismus“.
Bei geschichtlich frühzeitiger Lösung dieser Konflikte gibt es keine Notwendigkeit für das Entstehen eigener Parteien (z. B. England). Dauern aber Konflikte länger an und überkreuzen sich, so ist eine vermehrte Parteibildung wahrscheinlich (z. B. Weimarer Republik). Solche zersplitterten Parteisysteme erschweren die Kompromiss- und Mehrheitsbildung.
Für das westeuropäische Parteiensystem diagnostizierten Lipset und Rokkan ein Einfrieren der Parteiensysteme von den 1920er bis in die 1960er Jahre. Eine erklärbare Ausnahme bildete u. a. die Bundesrepublik. Doch auch hier war die cleavage-Theorie anwendbar: „Stadt vs Land“ war zwar durch die Nachkriegsmobilität verwischt, aber „Arbeit vs Kapital“ blieb brisant zwischen dem bürgerlichen Lager aus CDU/CSU und FDP gegenüber der SPD. „Religiös vs Säkular“ war hingegen aktuell zwischen CDU/CSU gegenüber SPD und FDP. Die treuesten Stammwähler, ebenso wie die aktiven Parteimitglieder, kamen aus gut beschreibbaren sozialen Gruppen (SPD-gewerkschaftlich, nicht kirchlich orientiert; CDU/CSU-kirchlich gebunden aus dem Mittelstand; FDP-kirchlich ungebunden, aus bürgerlichem, altem Mittelstand).
Das Aufbrechen der Berufsstruktur seit den 1960er Jahren (weniger Arbeiter, mehr Dienstleistungen, Angestellte und Beamte) und das Erstarken postmaterialistischer Orientierungen durch den Wertewandel und die Neuen sozialen Bewegungen seit den 1970er Jahren macht die Zuordnung von Konfliktlinien und Parteien immer fragwürdiger. Für die 1990er Jahre in der BRD haben Flanagan und Kitschelt als neue bedeutsame Konfliktlinien diagnostiziert: „Marktfreiheit vs Soziale Gerechtigkeit“ und „autoritärer vs libertärer“ Gesellschaftsauffassung. Zudem vermutete Kitschelt, dass sich die gesamtdeutsche Parteienkonkurrenz entlang einer Diagonale von Sozial-libertärer Politik bis hin zu Neoliberal-autoritärer Politik sortieren lasse. Tatsächlich konnten Neugebauer und Stöss empirisch diese Bündelung der beiden Konfliktdimensionen zeigen (siehe Grafik). Knapp 90 Prozent der Befragten ließen sich so einordnen. Die restlichen 11,5 Prozent äußerten sich politikverdrossen und nicht entlang weiterer Konfliktlinien. Die so zusammengefasste Konfliktlinie bezeichnen sie als „sozial-libertär vs neoliberal-autoritär“. Trotz erheblicher Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland (zum Teil innerhalb der Parteien größer als zwischen den Parteien innerhalb eines Landesteils), kann man entlang dieser neuen Achse, die Einstellungen der Parteianhänger ordnen.
Sozial-moralische Milieus
M. Rainer Lepsius schlug 1966 eine Theorie vor, welche speziell auf das deutsche Parteiensystem von der Reichsgründung 1871 bis zur Weimarer Republik zielte. Die besondere Stabilität des deutschen Parteiensystems beruhte danach auf der engen Verbindung von Parteien mit geschlossenen Sozialmilieus. Die Parteien sind dabei auf ihre traditionellen Milieus fixiert und außer Stande neue Wählergruppen anzusprechen. Dadurch werden die bestehenden Konfliktlinien auch immer wieder aufs Neue durch die Wählermobilisierung der Parteien stabilisiert. Lepsius unterschied für die von ihm untersuchte Zeitspanne vier sozialmoralische Milieus: das katholische (Zentrum), das konservativ-protestantische auf dem Land (Konservativ), das protestantisch-bürgerliche in den Städten (Liberale) und das sozialdemokratische Sozialmilieu unter den Arbeitern und Handwerkern (Sozialisten und Kommunisten).
Wichtiger als die konkrete Differenzierung ist dabei Lepsius’ Idee, dass diese Milieus auf vorpolitische soziale Ordnungsgebilde zurückgehen und so eine eigene politisch-soziale Subkultur entwickelten. Erst die Schlussphase der Weimarer Republik führte zur Auflösung des über 60 Jahre stabilen Parteiensystems. Insbesondere die NSDAP, gewissermaßen die erste „Volkspartei“ im folgenden Sinne, sammelte ehemals verschiedenste soziale Gruppen unter einem Dach (dennoch ist das Wort Volkspartei denkbar unangemessen, da wohl nie eine Partei deutlicher gemacht hat, dass sie weder gedenkt für das Wohl des ganzen Volkes da zu sein, noch nach dem geäußerten Willen des Volkes sich richten wolle, da das vermeintliche Wohl ja in der nationalsozialistischen Ideologie beinhaltet sei).
Trotz weitgehender Auflösung dieser starken Verbindungen zwischen Milieu und Partei, wurde doch immer wieder nachgewiesen, dass in einigen Regionen auch weiterhin mit einigem Recht von sozialmoralischen Milieus gesprochen werden kann. So überdauerte etwa in bestimmten starken Hochburgen des Ruhrgebietes ein gewerkschaftsnahes, sozialdemokratisches Milieu (zumindest bis in die 1990er Jahre) und auch in so manchen ländlichen Diasporagebieten Süddeutschlands existieren bis heute starke katholische Sozialmilieus mit Hang zur CDU/CSU.
Die Parteiidentifikation in Deutschland nimmt dabei insgesamt weiter ab, wobei in den 1990er Jahren im Westen eine Stagnation bei der CDU/CSU und ein langsamer Rückgang unter den SPD-Wählern zu verzeichnen ist. Im Osten gibt es neben dem leichten Rückgang bei der SPD, eine deutliche Zunahme der Parteiidentifikation unter Anhängern der PDS und vor allem der CDU. Ursache ist die schwächer werdende Identifikation von Wählern aus dem Arbeitermilieu, bei gleichzeitiger Stabilisierung der Identifikation mit christdemokratischer Politik innerhalb der katholischen, bzw. allgemein, der „Kirchgänger-“ Milieus in Ost wie West. Das niedrigere Niveau der Parteiidentifikation in Ostdeutschland, erklärt dabei die geringere Wahlbeteiligung und die höhere Volatilität der Wahlergebnisse. Außerdem ist in Ostdeutschland die Parteibindung auch weniger sozialstrukturell vermittelt. Eine höhere Identifikation hat einen erheblichen Einfluss auf die Wahl (erklärt 80–95 % der Wahlentscheidungen). Bei Ostdeutschen ohne Parteibindung hat die Einstellung zum Sozialismus einen großen Einfluss auf die Wahlentscheidung. Hierin sind PDS und CDU-Wähler stark polarisiert, wogegen die SPD für alle wählbar war (in den Wahlen 1998/2002).[1]
Die acht Sozialmilieus der sinus-Studie von 1984 haben sich zwar in der Soziologie etabliert, sind aber für die Erklärung von Parteien nur schlecht geeignet, da diese Milieus weder trennscharf sind, noch überhaupt traditionelle „Milieus“ im Sinne Lepsius sind, in denen gemeinschaftlich agiert oder, mindestens ansatzweise, miteinander kommuniziert wird. Die sozialen Gruppen sind hier nur über sozioökonomische und ideologische Merkmale definiert. Eine intensivere Koppelung sei aber in der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ auch immer weniger zu erwarten, erwidern die Befürworter dieser Sozialmilieukonstruktion.
Akteurszentrierte Ansätze (Interessen)
Die theoretische Grundlage dieser Ansätze ist die „Ökonomische Theorie der Demokratie“ von Anthony Downs, welche Parteien als Organisationen zur Stimmenmaximierung auf dem Wählermarkt auffasst. Dabei handeln sowohl die Mandatssucher, als auch die Wähler ganz unideologisch und versuchen nur ihre je eigenen Interessen durchzusetzen (ihren Nutzen zu maximieren).
Otto Kirchheimer hat bereits 1965 erkannt, dass durch den wachsenden Wohlstand die traditionellen Bindungen und Beschränkungen immer lockerer wurden und so die „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ zu einer Entideologisierung (und Entpolitisierung) der Wähler und somit auch der Parteienlandschaft führe. Die herkömmliche Massenintegrationspartei, die eine lebenslange („von der Wiege bis zur Bahre“) politische Heimat war, wurde zunehmend von dem auch in den USA vorherrschenden Typus der catch-all-party abgelöst. Solche Allerweltsparteien bieten Politik für jeden an, wie ein großes Warenhaus, und nennen sich auch oft, diesen Anspruch untermauernd, „Volksparteien“.
Unter den Voraussetzungen, dass Wähler gemäß Downs ihren Nutzen maximieren wollen, und dass eine entideologisierte, nivellierte Mittelstandsgesellschaft vorliegt (also die meisten Wähler sich mit ihren politischen Vorstellungen „in der Mitte“ befinden), führt der Stimmenwettbewerb tendenziell zu zwei großen Partien, die um die Wählerstimmen in der Mitte kämpfen (zentripetaler Wettbewerb). Nur durch ein unideologisches Wahlprogramm kann dieser Kampf um die Mitte der Gesellschaft, nicht zu verwechseln mit gemäßigten Ansichten, gewonnen werden.
Auch dieses Erklärungsmuster ist offenbar allzu einfach. Im Gegensatz zur cleavage-Theorie vermag es weder zu erklären, weshalb beispielsweise die FDP sich vom Anspruch eine „Volkspartei“ zu sein verabschiedet hat, noch kann es das Entstehen der Grünen erklären, die nie den Anspruch erhoben haben, eine solche Allerweltspartei zu sein.
Ausblick und Kritik
Aus systemkritischer Sicht wird bemerkt, dass die in der Politikwissenschaft zur Zeit vorherrschenden Erklärungsmodelle für die Parteiensysteme, massive Defizite bezüglich der Berücksichtigung von Werten und Interessen haben. Und auch die behauptete Folgenlosigkeit des Parteienwettbewerbs und der Erhalt des Status quo (d. h. des Kapitalismus) durch die Struktur der Parteiensysteme, zu wenig thematisiert werde. Es müsse vielmehr nach den eigentümlichen Selektivitätsmustern und Schließungsprozessen von Parteiensystemen gefragt werden. Allerdings setzt eine solche Kritik ein Wissenschaftsverständnis voraus, welches nicht rein deskripitv, sondern auch wertend sein will.
Gerade die Entwicklung der Parteiensysteme in den erst jüngst zu liberal-demokratischen Systemen gewechselten osteuropäischen Transformationsstaaten wird bezüglich der Herausbildung und Entwicklung von Parteien neue Fragen aufwerfen. Aber auch in den alteingesessenen Demokratien der westlichen Industrieländer, bleibt abzuwarten, ob sich der Trend zur entideologisierten und nivellierten Gesellschaft fortsetzt. Oder ob durch die zunehmend auseinandergehende Schere zwischen Arm und Reich – u. a. durch die immer weniger sozial abgefederte wirtschaftliche Globalisierung – und durch die sich möglicherweise selbst erfüllende Prophezeiung des „Kampfes der Kulturen“, vor dem Hintergrund des Nahostkonflikts, sich nicht doch wieder eine Re-Ideologisierung innerhalb der westlichen Gesellschaften anbahnt. Das Wiedererstarken nationalistischer Parteien in Europa und die deutlichen Wahl- und Agenda-Setting-Erfolge der Republikaner in den USA, durch Bündelung der neokonservativen Ideologie mit dem vereinfachenden Weltbild religiöser Gruppen (so genannte Evangelikale), lassen zumindest einen gegenläufigen Trend erkennen.
Siehe auch
Einzelnachweise
Literatur
- Ulrich von Alemann: Das Parteiensystem der BRD, Bonn 2000.
- Klaus von Beyme: Parteien in westlichen Demokratien, München 1982, S. 309–316.
- Ulrich H. Brümmer: Parteiensystem und Wahlen, Wiesbaden 2006.
- Klaus Detterbeck: Parteien und Parteiensystem, Konstanz 2011
- Maurice Duverger: Die politischen Parteien, Tübingen 1959, S. 215–266.
- Ronald Inglehart: Traditionelle politische Trennungslinien und die Entwicklung der neuen Politik in westlichen Gesellschaften, in: Politische Vierteljahresschrift 24/1983, S. 139–165.
- Ronald Inglehart: The Changing Structure of Political Cleavages in Western Society, in: Russell J. Dalton / Scott C. Flanagan / Paul Allen Beck (Hrsg.): Electoral Change in Advanced Industrial Democracies: Re-alignment or Dealignment?, Princeton 1984, S. 25–69.
- Otto Kirchheimer: Der Wandel des westeuropäischen Parteiensystems, in: Politische Vierteljahresschrift 6/1965, S. 20–41.
- Herbert Kitschelt: Politische Konfliktlinien in westlichen Demokratien: Ethnisch-kulturelle und wirtschaftliche Verteilungskonflikte, in: Dietmar Loch / Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.): Schattenseiten der Globalisierung, Frankfurt am Main 2001, S. 418–442.
- Seymour Martin Lipset / Stein Rokkan: Cleavage Structures, Party Systems and Voter Alignments: An Introduction, in: Lipset / Rokkan (Hrsg.): Party Systems and Voter Alignments. New York 1967, S. 1–64.
- Johan A. Lybeck: Is the Lipset-Rokkan Hypothesis Testable?, in: Scandinavian Political Studies 8/1985, S. 105–113.
- Karlheinz Niclauß: Das Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland. Eine Einführung. 2. Aufl. Paderborn: UTB Schöningh 2002.
- Oskar Niedermayer: Das gesamtdeutsche Parteiensystem, in: Oscar Gabriel / Oskar Niedermayer / Richard Stöss (Hrsg.): Parteiendemokratie in Deutschland, Bonn 1997.
- William H. Riker: Duverger’s Law Revisited, in: Bernard Grofman / Arend Lijphart (eds.), Electoral Laws and Their Political Consequences. New York 1986, S. 19–42.
- Stein Rokkan: Staat, Nation und Demokratie in Europa, Frankfurt am Main 2000, S. 332–412.
- Giovanni Sartori: Parties and Party Systems. A Framework for Analysis, Cambridge 1976, S. 119–216.
- Steven B. Wolinetz: The Transformation of Western European Party Systems Revisited, in: West European Politics 2/1979, S. 4–28.
Weblinks
- Lijphart Elections Archive
- Elections and elctoral Systems around the world
- [1] Diversification and Reconfiguration ofParty Systems in Postindustrial Democracies (PDF-Datei; 143 kB)
- Kai Arzheimer: Wie entwickelt sich die Parteiidentfikation seit 1990? (PDF-Datei; 424 kB)
- Franz Urban Pappi / Susumu Shikano: Ideologische Signale in den Wahlprogrammen der deutschen Bundestagsparteien 1980 bis 2002 (Working paper)
- Zwischenauswertung der Bundestagsabgeordentenbefragung 2003/04 (PDF-Datei; 4,27 MB)
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