Personenrede

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Die Erzähltheorie oder Erzählforschung ist eine interdisziplinäre Methode der Geisteswissenschaften, Kulturwissenschaften und Sozialwissenschaften. Die internationale Bezeichnung lautet „narratology“ (im Englischen) oder „narratologie“ (im Französischen). Deshalb hat sich im Deutschen auch der Begriff Narratologie eingebürgert. Die eingedeutschte Bezeichnung „Narrativik“ hat sich dagegen nicht allgemein durchgesetzt.

Ihr Gegenstand ist jede Art des erzählenden Textes, von der erzählenden Literatur (Epik) über Geschichtsschreibung bis hin zu Interviews, Zeitungsartikeln oder Witzen. Fächer, in denen die Erzähltheorie eine wichtige Rolle spielt, sind Literaturwissenschaft, Medienwissenschaft, Geschichtswissenschaft und Soziologie.

Die neuere Erzähltheorie wurde ab 1915 in Ansätzen vom Russischen Formalismus entwickelt und vom Strukturalismus seit den 1950er Jahren weiter ausgearbeitet. Der strukturalistische Ansatz – mit späteren Ergänzungen – ist bis heute maßgeblich.

Wichtige Theoretiker der Narratologie sind Gérard Genette, Claude Lévi-Strauss, Roland Barthes, Roman Jakobson, Juri Lotman und Paul Ricoeur. Teilweise wird die Narratologie durch die Semiotik ergänzt. Kritisiert, aber auch entscheidend erweitert wurde die Erzähltheorie durch den Poststrukturalismus.

Inhaltsverzeichnis

Analysekategorien nach Genette

Die strukturalistische Erzähltheorie nach Genette wurde an literarischen Texten entwickelt. Ihre Analysekategorien sind daher auch hauptsächlich auf die Epik bezogen. Ein erzählender Text kann nach folgenden Kategorien analysiert werden: Zeit, Modus der Erzählung, Stimme des Erzählers.

Zeit

Die Zeitebene einer Erzählung kann nach Genette in drei Kategorien analysiert werden: Ordnung, Dauer und Frequenz.

Ordnung

In vielen erzählenden Texten ist die chronologische Reihenfolge der erzählten Ereignisse (Zeit der Geschichte) nicht identisch mit dem sprachlichen Ablauf der Erzählung selbst (Zeit der Erzählung). Es gibt etwa Fälle, in denen der eigentliche Schluss der Handlung ganz am Anfang des Textes steht (das wäre eine Prolepse) oder wo zum Schluss noch einmal zu einer dramatischen Situation rückgeblendet wird (Analepse). Generell spricht man in allen Fällen von einer Anachronie. Es gibt verschiedene Formen von Anachronien:

  • Analepse ist eine Rückblende, ein Zeitsprung in die Vergangenheit, für Genette sogar jede nachträgliche Erwähnung eines vergangenen Ereignisses (auch Retrospektion)
    • Ellipse nennt man eine Auslassung, bei der ohne weiteren Kommentar Begebenheiten von der Erzählung übersprungen werden
    • wird absichtlich ausgeblendet oder etwas beiseite gelassen, spricht man von einer Paralipse
  • Prolepse: Vorausschau, Zeitsprung in die Zukunft (auch Antizipation)
    • überschneidet sie sich nicht mit der erzählten Zeit, ist es eine externe Prolepse
    • verbleibt sie innerhalb der erzählten Zeit, spricht man von einer internen Prolepse
    • füllt sie im Voraus eine Lücke aus, ist es eine kompletive Prolepse
    • wird das gleiche Ereignis später noch einmal erzählt, ist es eine repetitive Prolepse („Vorgriff“)
  • Achronie ist ein Extremfall der Anachronie; die chronologische Reihenfolge ist nicht rekonstruierbar (auch Syllepse).

Dauer

Die Dauer bezieht sich auf das Verhältnis zwischen der Zeitspanne, die das Erzählen im Verhältnis zum Erzählten einnimmt, also das Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit. Die Beschreibung eines Blitzes, der nur Sekundenbruchteile andauert, kann in einer Erzählung mehrere Seiten einnehmen. Man spricht dann von einer zeitdehnenden Erzählweise, da hier der Vorgang viel länger dauert als das erzählte Ereignis. Umgekehrt können in einer Erzählung Jahrhunderte in knappen Worten erledigt werden. Dies wäre ein Fall von starker Zeitraffung.

Wenn das Geschehen und die Erzählung in etwa den gleichen Zeitraum einnehmen, spricht man von zeitdeckendem Erzählen. Dies kommt beispielsweise oft bei Dialogen vor; man spricht auch von einer Szene.

Extreme Formen sind die Ellipse und die Pause. Bei der Ellipse wird - meist Unwichtiges - im Erzählen weggelassen: die Erzählung steht still während das Geschehen weiter geht, so dass der Eindruck eines „Zeitsprungs“ entsteht. Die Pause hingegen bezeichnet den Stillstand der Handlung, während die Erzählung fortläuft, indem beispielsweise Abschweifungen oder nicht für die Handlung relevante Betrachtungen vorgenommen werden.

Frequenz

  • Singulativ: Was einmal geschieht, wird einmal erzählt.
  • Repetitiv: Was einmal geschieht, wird mehrmals erzählt. Z. B. wenn ein Geschehen aus der Sicht verschiedener Personen dargestellt wird oder bei Wiederholungen.
  • Iterativ: Was mehrmals geschieht, wird einmal erzählt. Z. B. „Wie jeden Morgen um sechs stellte er sich nach dem Aufstehen unter die Dusche...“

Modus

Der Grad an Mittelbarkeit und der Perspektivierung des Erzählten.

Distanz / Mittelbarkeit

  • Narrativ: Mit Distanz (mittelbar, haple diegesis, telling)
    • Erzählte Rede (Bewusstseinsbericht, erzählte Rede)
  • Transponierte Rede: steht, was den Grad an Distanz bzw. Mittelbarkeit betrifft, zwischen der dramatischen und der narrativen Rede. Die transponierte Rede umfasst die indirekte Rede und die erlebte Rede.
  • Dramatisch: Ohne Distanz (unmittelbar, mimesis, showing)
    • direkte autonome Figurenrede (ohne verbum dicendi)
    • direkte Figurenrede (mit verbum dicendi, z. B. „sagte er...“)
    • Bewusstseinsstrom
    • Gedankenzitat (mit verbum credendi, z. B. „dachte ich...“)
    • Innerer Monolog

Fokalisierung (nach Genette)

Hauptartikel: Fokalisierung

  • Nullfokalisierung: Der Erzähler weiß mehr als die Figur. (Erzähler > Figur)
  • Interne Fokalisierung: Der Erzähler weiß genauso viel wie die Figur. (Erzähler = Figur)
  • Externe Fokalisierung: Der Erzähler weiß weniger als die Figur. (Erzähler < Figur)

Stimme / Erzähler

Frage: Wer spricht eigentlich?

Homodiegetisch / Heterodiegetisch (nach Genette)

  • Homodiegetisch: Der Erzähler ist Teil der Diegese (der erzählten Welt). Autor ≠ Erzähler = Figur
  • Heterodiegetisch: Der Erzähler ist kein Teil der Diegese. Autor ≠ Erzähler ≠ Figur
  • Autodiegetisch: Der (homodiegetische) Erzähler ist zugleich die Hauptfigur, der Erzähler erzählt gewissermaßen seine eigene Geschichte. Autor = Erzähler = Figur

Diegetisch / Extradiegetisch

Der extradiegetische Erzähler ist der Erzähler, der die äußerste Handlung (Rahmenerzählung, wenn es eine Binnenerzählung gibt; diegetische bzw. intradiegetische Erzählung bei Genette) erzählt. Kommt in dieser Erzählung wieder ein Erzähler vor, so handelt es sich um einen intradiegetischen Erzähler, das, was er erzählt, ist eine metadiegetische Erzählung (Binnenerzählung). Ein metadiegetischer Erzähler erzählt eine metametadiegetische Erzählung usw.

Weitere Ansätze

Es gibt einige weitere Ansätze der Erzähltheorie, die mehr oder weniger in sich geschlossene Modelle bilden.

Weitere Ansätze ergeben sich durch eine Kombination der klassischen Narratologie mit anderen Disziplinen, Medien und Genres, sowie der Beeinflussung durch post-strukuralistisches Gedankengut. Beispiele hierfür sind die feministische Narratologie, die kognitive Narratologie oder die linguistische Narratologie. Die neuen Ansätze sind nur zum Teil gut ausgearbeitet, bieten aber ein weites Feld für weitere Theorien.

Erzählschema

Unter dem Erzählschema versteht man allgemein die Struktur der linearen Abfolge (oder sequenzielle Struktur) der Elemente einer Erzählung auf der Ebene der Ereignisse und Handlungen (histoire). Neben der histoire-Ebene gibt es die Ebene des discours, das ist die konkrete sprachliche Ausgestaltung des Textes (z. B. durch rhetorische Stilmittel). Bei der Analyse des Erzählschemas wird sie nicht berücksichtigt.

Wenn man ein Erzählschema analysiert, geht man folgendermaßen vor. Zunächst untersucht man, in welcher Abfolge die Ereignisse in der Erzählung (discours) erzählt werden und ordnet sie linear abstrahiert von da zu einem Schema.

  • Ein Mord geschieht – die Polizei untersucht den Fall und steht vor einem Rätsel – der Detektiv wird beauftragt – die Hauptverdächtige flirtet mit dem Detektiv – ein weiterer Verdächtiger wird befragt – usw.

Diese Abfolge kann man weiter abstrahieren:

  • Verbrechen – Suche nach dem Täter – (mehrfache Fehlschläge) – Verhaftung.

Damit erhält man – ein sehr simples Schema des Kriminalromans.

Vergleicht man beispielsweise mehrere Erzählungen eines Autors (oder auch mehrerer Autoren), kann man feststellen, ob der Aufbau der Erzählung auf der Ebene des discours immer gleich verläuft, ob die Abfolge variiert etc. In der Literatur sind bestimmte Erzählschemata so erfolgreich, dass sie von vielen Autoren übernommen werden, z. B. der Bildungsroman, die Kurzgeschichte, die Novelle. Natürlich gibt es hier im Einzelfall wiederum Abweichungen vom Schema, oder es werden neue Schemata entwickelt.

Das konventionellste Schema eines erzählenden Textes wird im Schulunterricht gelehrt: Es besteht aus einer Exposition, in der die handelnden Figuren vorgestellt werden, einem Hauptteil, in dem die Handlung entwickelt wird und der mit einem dramatischen Höhepunkt (Klimax, bei komischen Erzählungen Pointe) endet, gefolgt von einem Schluss. Das Schema stammt eigentlich aus der Dramenanalyse, geht in Ansätzen auf Aristoteles zurück und findet sich ausformuliert erst bei Gustav Freytag (1863).

siehe Funktion (Systemtheorie), Fabel, Plot, Aktant (Literaturwissenschaft) und Motiv (Literatur)

Raummodell nach Juri M. Lotman

Siehe: Juri Michailowitsch Lotman

Fiktionalität/Faktizität

Es ist schwierig eine klare Unterscheidung zwischen fiktionalen und faktualen Texten zu finden. Einerseits wird in vielen faktualen Textsorten mit Techniken gearbeitet, die als charakteristisch für fiktionale Literatur gelten (z. B. in Reportagen, Geschichtsschreibung). Andererseits beziehen sich die meisten fiktionalen Texte auf Orte, Zeiten und Sachverhalte der Wirklichkeit, d.h. die Fiktion besteht fast ausschließlich aus fiktionalisiertem Realem.

Mögliche Unterscheidungsmerkmale:

  1. Fiktionssignale: Fiktionssignale sind alle Merkmale, die die Fiktionalität eines Werkes anzeigen, sprich alle Merkmale, durch die sich fiktionale Texte als solche zu erkennen geben. Der Gebrauch von Fiktionssignalen unterliegt historischem Wandel und ist durch Konventionen bedingt (Kontrakt des inszenierten Diskurses).
  • Formale Fiktionssignale beschreiben das Wissen des Lesers um die Hintergründe der Entstehungssituation der Erzählung, der Rezeption und der Kommunikationssituation, sie sind daher kontextuell. Durch die Gattungsangabe (z. B. Roman) kann ein Fiktionsvertrag mit dem Leser entstehen.
  • Textinterne Fiktionssignale betreffen die innere Ordnung und Organisation des Textes, beispielsweise Zeit, Erzählsituation, das A-N-P Verhältnis (Autor - Narrateur/Erzähler - Protagonist).

Der Autobiographische Pakt (nach Philippe Lejeune): In der Autobiographie gibt es eine spezifische Übereinkunft zwischen Verfasser und Leser. Die Identität von Autor, Erzähler und Protagonist (A=N=P) garantiert dem Leser den faktualen Status des Textes. Der Autor bürgt mit seinem Eigennamen, nicht für Exaktheit, sondern für aufrichtiges Bemühen („Bitte glaube mir!“).

Soziokulturelle Funktion des Erzählens

In der Biosoziologie, einem Teilbereich der Soziologie, wird von manchen Forschern die These vertreten, dass die Geschichte des Menschen mit der Erfindung des Erzählens beginnt. Es gibt keine Möglichkeit, diese Hypothese empirisch zu belegen; vielmehr ist damit gemeint, dass das Menschsein sich zentral über die Fähigkeit des Erzählens definiert (siehe Anthropologie).

So geht man in der Soziologie davon aus, dass in vielen Völkern der Urzeit - ebenso wie bei manchen noch heute existierenden Stämmen, die keine Schrift kennen - der Erzähler eine wichtige soziale Funktion hat. Ein Erzähler trägt die Mythen, Genealogien, Märchen und Sagen eines Volkes mündlich weiter. Dadurch bildet er das soziale Gedächtnis seines Stammes.

Weiterführende Artikel hierzu: Mündliche Überlieferung, Erzählkultur, Oralität

Siehe auch

Literatur

  • Roland Barthes: Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen, in: ders., Das semiologische Abenteuer. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1988. ISBN 3-518-11441-7.
  • Monika Fludernik: Einführung in die Erzähltheorie. Darmstadt: WBG 2006. ISBN 3-534-16330-3.
  • Gérard Genette: Die Erzählung. München: Fink 1998. (= UTB. 8083.) ISBN 3-8252-8083-7.
  • Matias Martinez, Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. München: C.H.Beck ²2003. ISBN 3-406-47130-7.
  • Jürgen H. Petersen: Erzählsysteme. Eine Poetik epischer Texte. Stuttgart, Weimar: Metzler 1993. ISBN 3-476-00896-7.
  • Paul Ricoeur: Zeit und Erzählung. Band II. Zeit und literarische Erzählung. München: 1989.
  • Schlomith Rimmon-Kenan: Narrative Fiction. Contemporary Poetics. London and New York: Routledge 2007. Taylor & Francis Group. ISBN 978-0-415-28022-8.
  • Franz K. Stanzel: Theorie des Erzählens. Göttingen: Vandenhoeck 1995 (1979). (= UTB. 904.) ISBN 3-8252-0904-0.
  • Jochen Vogt: Aspekte erzählender Prosa. Wiesbaden: VS Verlag 2005. ISBN 3-531-22145-0.

Weblinks


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