Rugier

Rugier
Karte der Germanischen Stämme um 100 n. Chr. (ohne Skandinavien)

Die Rugier waren ein zwischen Weichsel und Oder ansässiger ostgermanischer („Weichselgermanen“) Stamm. Während der Völkerwanderung schlossen sich Teile der Rugier den Hunnen an, errichteten anschließend ein Reich im heutigen Niederösterreich und zogen schließlich mit den Ostgoten nach Italien.

Inhaltsverzeichnis

Herkunft

Tacitus erwähnte in seinen Germania (44,1) die „Rugii“, die zusammen mit den Goten und Lugiern an der Südküste der Ostsee wohnten. Laut Tacitus zeichneten sich die drei Stämme durch runde Schilde, kurze Schwerter und Gehorsam gegenüber ihren Königen aus. Bei Ptolemaios wird der Ort „Rougion“ erwähnt. Der Name Rugier, „Rugini“ oder „Rugen“ bedeutet Roggenbauer oder Roggenesser.[1]

Ein Stamm gleichen Namens (rygir) ist auch im südwestlichen Norwegen (Rogaland/Rugaland) nachweisbar. Da es unwahrscheinlich ist, dass es zwei germanische Stämme gleichen Namens gab, geht die Forschung oft davon aus, dass es sich um einen Teil der Rugier handelt. Da aber Roggenfunde in dieser Zeit in Südnorwegen nicht bezeugt sind, ist das Ursprungsgebiet des Stammes bis heute unbekannt. Ebenso ist es möglich, dass nur der Name (im Sinne eines „Traditionskerns“) „wanderte“. Ebenso fehlen archäologische Beweise für einen Ursprung der Rugier aus Skandinavien.[1] Auch ob sie die Insel Rügen, deren Name sich von den Rugiern ableiten soll, was heute höchst umstritten ist,[2] vor dem Festland besiedelten, ist nicht geklärt.

Im 15. Jahrhundert leitete Enea Silvio in seinem Werk De situ et origine Pruthenorum spekulativ die Ulmigeri (in Ulmigeria = Kulmerland) von den bei Jordanes beschriebenen Ulmerugi ab.[3] Matthäus Merian vertrat wiederum 1632 die Meinung, die Rugier seien aus östlicher Richtung eingewandert und hätten erst danach auf Rügen Siedlungen gegründet.

Völkerwanderung

Im Zuge der Völkerwanderung bewegten sich die Rugier mit den Goten nach Süden. Sie nahmen wie die Goten den Arianischen Glauben an. Im Gebiet der nördlichen mittleren Donau setzten sie sich fest, tauschten Bernstein, Pelze und Sklaven gegen Lebensmittel und andere Waren aus dem Römischen Reich, ehe sie vom Hunnenkönig Attila besiegt wurden und dessen Vasallen wurden. Die Rugier begleiteten, wie viele andere germanische Stämme, Attila auf seinen Feldzügen, zuletzt 451 nach Gallien.

Reichsbildung

Die rugisch-römische Allianz in Noricum Ripense kam wesentlich durch Severin von Noricum zustande (Abbildung im Wappen des Wiener Stadtteils Sievering)

Nach dem Tod Attilas 453 siedelten sich die Rugier als Foederaten im heutigen Niederösterreich an, wo sie nördlich der Donau im Wald- und Weinviertel ein Reich („Rugiland“) mit dem Zentrum gegenüber von Mautern bei Krems begründeten.[4] Rugier waren 455 an der Schlacht am Nedao beteiligt, als eine Koalition unter den Gepiden die Hunnen und Ostgoten besiegte. Im Jahr 469 unterlagen sie an der Bolia gemeinsam mit anderen Stämmen den Ostgoten.[1]

Mit den südlich der Donau lebenden Romanen unter Führung des Heiligen Severin hatten sie, obwohl es anfangs unter König Flaccitheus (467–472/75) häufig Plünderungszüge südlich der Donau auf römischem Gebiet gab, letztlich ein gutes Verhältnis. Severin hatte bereits vor seiner Übersiedlung nach Norikum Kontakt mit Flaccitheus aufgenommen und wurde dessen politischer Ratgeber.[5] Auch Wochenmärkte, in denen die romanische Bevölkerung mit den Rugiern handelte wurden unter Schutz des rugischen Königs abgehalten.[1] Die Vita Severini des Eugippius schildert die Rugier als kriegerisches Volk mit ausgeprägtem Stammesbewusstsein, das von Viehzucht, primitivem Ackerbau und Raubzügen lebte.[6]

König Feletheus (Feva), der 472 Flaccitheus nachfolgte, heiratete die Gotin Giso, möglicherweise eine amalische Cousine von Theoderich dem Großen, was das Bündnis mit den Ostgoten einleitete. Wegen der Bedrohung von Lauriacum durch Thüringer und Alamannen nahm Feletheus die bedeutende Stadt schließlich selbst ein.[7] Er zwang die romanische Bevölkerung der Stadt sich in ihm tributspflichtigen Orten anzusiedeln. Diese Ereignisse stellten die größte politische Niederlage Severins dar.[8]

476 unterstützten rugische Krieger die Heruler und Skiren unter Odoaker beim Sturz des letzten weströmischen Kaisers. In den Augen römischer Beobachter galt Odoakar daher als herulischer oder rugischer König.[9] Das „rugische Regnum“ fungierte daraufhin als einigermaßen berechenbare Schutzmacht über Norikum Ripense etwa zwischen Wienerwald und Enns.[1]

Als die Rugier vom oströmischen Kaiser Zenon zum Kampf gegen Odoaker angestiftet wurden, kam es zum Konflikt zwischen Feletheus und seinem Bruder Ferderuchus. Da letzterer Odoakar unterstützte, wurde er durch seinen Neffen Friderich (Fredericus) getötet.[10][11]

Odoaker kam daraufhin selbst einem möglichen Angriff von dieser Seite zuvor und schlug ein rugisches Heer in der Nähe des Wienerwaldes. Das Reich der Rugier wurde, trotz Unterstützung durch die römischen Provinzialen, 487/488 in zwei Kriegen durch Odoaker zerstört. Feletheus und seine Frau wurden gefangen genommen und in Ravenna 487 hingerichtet.[12][11]

Ihr Sohn Friderich entkam mit der rugischen Reiterei und versuchte das Rugierreich wiederherzustellen. Hunulf, der Bruder Odoakars verhinderte das durch Zwangsevakuierung der römischen Bevölkerung im Osten Ufernoricums nach Italien, wodurch er den Rugiern die wirtschaftliche Basis dauerhaft entzog.[11]

Teil der Ostgoten

Friderich schloss sich mit den überlebenden Rugiern 488 Theoderich an und zog vorerst ins Ostgotenreich nach Novae in Mösien.[13] Von dort folgte ein Großteil der Rugier den Ostgoten nach Italien und stürzten wieder im Auftrag Zenos Odoaker.[14] Die Rugier konnten auch in Italien noch eine gewisse Selbständigkeit bewahren, stellten mit Erarich 541 sogar kurze Zeit den König des Ostgotenreiches, gingen aber mit dem Ostgotenreich 553 unter.[15]

Nachleben

Nach der Gisolegende, von der auch Eugippius berichtet, soll Königin Giso zwei Goldschmiede gefangengehalten haben, die für sie Schmuck anfertigen mussten. Es gelang den Schmieden, den Sohn der Königin zu fangen und gegen dessen Freilassung zu entkommen.[1] Aus diesem Stoff und unter Hinzunahme griechisch-römischer Sagen (Vulcanus bzw. Hephaistos, Dädalus) soll die Wielandsage entstanden sein, was aber in der Wissenschaft umstritten ist oder gänzlich abgelehnt wird.[16]

Einzelnachweise

  1. a b c d e f Heinrich Beck u.a. (Hrsg.): Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. Band 25, Verlag de Gruyter, Berlin 2003, ISBN 3-11017-733-1, S. 452ff.
  2. Heinrich Beck u.a. (Hrsg.): Reallexikon der germanischen Altertumskunde. Verlag de Gruyter, Berlin 2003, Band 25, ISBN 3-11017-733-1, S. 419.
  3. Eneo Silvio Piccolomino: S 148, 149 Ulmigeri (Ulmerugi) Preussen
  4. Rugier. In: Österreich-Lexikon, online auf aeiou.
  5. Anton Scharer, Georg Scheibelreiter (Hrsg.): Historiographie im frühen Mittelalter. Verlag Oldenbourg, München 1995, ISBN 3-486-64832-2, S. 248.
  6. Lexikon des Mittelalters: Band VII Sp. 1092.
  7. Herwig Wolfram (Hrsg.): Die Geburt Mitteleuropas. Verlag Kremayr und Scheriau, Wien 1987, ISBN 3-218-00451-9, S. 41f.
  8. Edward A. Thompson: Romans and Barbarians. The decline of the Western Empire. The University of Wisconsin Press, Madison/Wis. 1982, S. 131f.
  9. Herwig Wolfram (Hrsg.): Die Geburt Mitteleuropas. Verlag Kremayr und Scheriau, Wien 1987, ISBN 3-218-00451-9, S. 40.
  10. Patrick J Geary: Die Merowinger. Europa vor Karl dem Großen. Verlag Beck, München 2003, ISBN 3-406-49426-9, S. 14.
  11. a b c Friedrich Lotter: Völkerverschiebungen im Ostalpen-Mitteldonau-Raum zwischen Antike und Mittelalter (375–600). Ergänzungsbände zum Reallexikon der germanischen Altertumskunde. 39, Verlag de Gruyter, Berlin 2003, ISBN 3-11-017855-9, S. 25f. und 114.
  12. Arnulf Krause: Die Geschichte der Germanen. Campus-Verlag, Frankfurt am Main 2005, ISBN 978-3-593-37800-8, S. 173.
  13. Wilhelm Enßlin: Theoderich der Grosse. 2. Aufl. München 1959, S. 62.
  14. Walter Pohl: Die Germanen. Verlag Oldenbourg, München 2004 (= Enzyklopädie deutscher Geschichte 57), ISBN 3-486-56755-1, S. 42.
  15. Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 17. Leipzig 1909, S. 242.
  16. Alfred Becker: Franks Casket. Zu den Bildern und Inschriften des Runenkästchens von Auzon. Verlag Carl, Regensburg 1973, ISBN 3-418-00205-6, S. 167 und Fußnoten.

Literatur


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