Schuldunfähigkeit

Schuldunfähigkeit

Schuldunfähigkeit (früher Zurechnungsunfähigkeit oder volkstümlich Unzurechnungsfähigkeit genannt) ist ein Schuldausschließungsgrund im Strafrecht.

Inhaltsverzeichnis

Deutschland

Das deutsche Strafrecht beruht in Übereinstimmung mit dem Menschenbild des Grundgesetzes auf dem Schuld- und Verantwortungsprinzip. Wer ohne Schuld handelt, kann deshalb nicht bestraft werden („nulla poena sine culpa“). Im deutschen Strafgesetzbuch wird die Schuldunfähigkeit in den § 19, § 20 und § 21 geregelt. Der frühere § 51 StGB a. F., der von den genannten drei Paragraphen abgelöst wurde, wurde im öffentlichen und privaten Diskurs in Deutschland verbreitet zur Bezeichnung der angenommenen Zurechnungsunfähigkeit einer Person verwendet.

Schuldunfähigkeit ist nicht mit Deliktsunfähigkeit aus dem Zivilrecht gleichzusetzen, obwohl häufig beide Tatbestände zugleich vorliegen.

Strafgesetzbuch

Nach § 19 StGB ist schuldunfähig, wer zur Tatzeit noch nicht 14 Jahre alt und deshalb im Rechtssinne Kind ist. Hierbei handelt es sich um eine unwiderlegliche gesetzliche Vermutung der Schuldunfähigkeit. Ein Jugendlicher, also gemäß § 1 Abs. 2 Jugendgerichtsgesetz (JGG) eine Person, die zur Zeit der Tat mindestens vierzehn, aber noch nicht achtzehn Jahre alt ist, ist gemäß § 3 JGG strafrechtlich verantwortlich, wenn er zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung reif genug ist, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln.

Nach § 20 StGB handelt ohne Schuld, "wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln." Schuldunfähig kann also sein, wer im Moment der Tat nicht das Schuldhafte seines Handelns erkennt oder nicht in der Lage ist, sich zu steuern.

Die aufgezählten psychischen Ursachen (sogenannte Eingangskriterien oder -merkmale) einer geminderten oder nicht vorhandenen Steuerungs- oder Einsichtsfähigkeit stellen Kategorien dar, die in der Psychologie und Medizin ungebräuchlich sind und im Grunde nur im Rahmen der Forensik verwendet werden.

  • Unter einer krankhaften seelischen Störung werden hirnorganisch bedingte Zustände - auch verursacht durch psychotrope Substanzen wie Alkohol (Vollrausch) - oder Psychosen verstanden.
  • Als tiefgreifende Bewußtseinsstörung gelten Erscheinungen, die Bewusstseinsveränderungen oder -einengungen darstellen, die keine Störung von psychopathologischer Relevanz konstituieren, etwa Erschöpfung, Ermüdung, Schlaftrunkenheit und vor allem emotionale Verwirrtheitszustände, die dazu führen können, dass eine Tat „im Affekt“ begangen wird (zum Beispiel unter Verlust der Steuerungsfähigkeit). Ein Versuch, derartige Zustände dennoch psychiatrisch diagnostizierbar zu machen, besteht in der Klassifizierung als akute Belastungsreaktion.
  • Als Schwachsinn werden Stufen angeborener Intelligenzschwäche ohne nachweisbare Ursache bezeichnet (Intelligenzminderung). Intelligenzschwächen, die im Zuge einer Demenz entstehen, werden indessen dem ersten Eingangskriterium zugeordnet.

Grundsätzlich wird bei erwachsenen Tätern die Schuldfähigkeit vermutet. Anhaltspunkte für die Schuldunfähigkeit lassen sich oft nur mit medizinischen bzw. psychiatrischen Gutachten bestimmen. So ist zum Beispiel die Blutalkoholkonzentration (BAK) zum Tatzeitpunkt ein wichtiger Anhaltspunkt für das vorliegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung. Ab 2,0 Promille wird im allgemeinen eine verminderte Schuldfähigkeit angenommen, bei Tötungsdelikten ab 2,2 Promille. Ab 3,0 Promille wird im allgemeinen eine Schuldunfähigkeit angenommen, bei Tötungsdelikten wegen der höheren Hemmschwelle im allgemeinen erst ab 3,3 Promille.

Für die Feststellung einer geistigen Behinderung wird unter anderem auf den Intelligenzquotienten (IQ) abgestellt. Dabei wird zwischen leichter geistiger Behinderung (IQ 50 bis 70), einer mäßigen geistige Behinderung (IQ von 35 bis 49), einer schweren geistigen Behinderung (IQ 20 bis 35) und einer schwersten geistigen Behinderung (IQ unter 20) unterschieden.

Wenn die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit nicht fehlt, aber erheblich vermindert ist, kann eine Strafmilderung nach § 21 StGB stattfinden.

Rechtsfolgen

Der schuldunfähige Täter kann zwar nicht bestraft werden. Psychisch kranke oder suchtkranke Rechtsbrecher, die i.S.V. § 20 oder § 21 StGB als schuldunfähig oder vermindert schuldfähig gelten und bei denen zugleich unter Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat eine weitere Gefährlichkeit zu erwarten ist, können nach § 63 und § 64 StGB aber im Maßregelvollzug untergebracht werden. Diese Rechtsfolgen sind auch für Jugendliche ab 14 Jahren anwendbar, wenn § 3 JGG bejaht wird. In diesen Fällen erfolgt die Unterbringung im Jugendmaßregelvollzug, der allerdings noch nicht in allen Bundesländern eingerichtet ist.

Zivilrechtlichen Schadensersatz (§ 823 BGB) muss auch ein Schuldunfähiger leisten, wenn er nicht zugleich deliktsunfähig ist.

„actio libera in causa“

Ein juristisches Sonderproblem stellen die Fälle dar, in denen der Täter sich vor Begehung der Tat vorsätzlich in einen Zustand der Schuldunfähigkeit versetzt hat (etwa durch die Herbeiführung eines Vollrausches), oder schon beim Berauschen den später in schuldunfähigem Zustand herbeigeführten Erfolg hätte voraussehen können und müssen. Diese Problematik wird als actio libera in causa bezeichnet. Ob und mit welcher Begründung der Täter dann trotz eigentlich fehlender Schuld zur Tatzeit bestraft werden kann, ist in der Rechtswissenschaft umstritten.

Erkenntnisse der Hirnforschung

In jüngster Zeit bestreiten renommierte Hirnforscher und Handlungspsychologen wie Gerhard Roth und Wolf Singer die Existenz der menschlichen Willensfreiheit und stützen sich dabei auf neuere neurowissenschaftliche und handlungspsychologische Erkenntnisse der Hirnforschung. Ihrer Einschätzung nach werden die handlungsauslösenden Impulse weitgehend von Hirnarealen gesteuert, die dem Bewusstsein nicht zugänglich sind und folglich von ihm auch nicht kontrolliert werden können.

Da die Existenz der Willensfreiheit aber dem deutschen Schuldstrafrecht zugrunde liegt, fordern sie nunmehr eine Änderung des Strafrechts.

Verarbeitung in der Literatur

Die Frage nach der Willensfreiheit, der Schuldunfähigkeit und dem Umgang mit Verbrechern hat der Journalist Markus C. Schulte von Drach in seinem Roman Der fremde Wille (2009) verarbeitet.

Siehe auch

Literatur

  • Michael Brünger, Wolfgang Weissbeck (Hrsg.): Psychisch kranke Straftäter im Jugendalter. MWV, Berlin 2008, ISBN 978-3-939069-46-1.
  • Frank Czerner: “Minderjährige hinter Schloß und Riegel?“ Freiheitsbeschränkende bzw. -entziehende Maßnahmen gegenüber Kindern, und Jugendlichen, Pdf-Dokument.
  • Klaus Förster, Ulrich Venzlaff: Psychiatrische Begutachtung. Ein praktisches Handbuch für Ärzte und Juristen. 4. neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Elsevier, Urban & Fischer, München 2004, ISBN 3-437-22900-1.
  • Adrian Schmidt-Recla: Theorien zur Schuldfähigkeit. Psychowissenschaftliche Konzepte zur Beurteilung strafrechtlicher Verantwortlichkeit im 19. und 20. Jahrhundert. Eine Anleitung zur juristischen Verwertbarkeit. Leipziger Universitäts-Verlag, Leipzig 2000, ISBN 3-933240-76-X (Leipziger juristische Studien - Strafrechtliche Abteilung 4; Zugleich: Leipzig, Univ., Diss., 1999).
  • Markus C. Schulte von Drach: Der fremde Wille. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2009, ISBN 978-3-462-04114-9 (Als Taschenbuch: Der Parasit. Droemer/Knaur, München 2010, ISBN 978-3-426-50443-7).
  • Wolfgang Weissbeck: Jugendmaßregelvollzug in Deutschland. Basisdokumentation. MWV, Berlin 2009, ISBN 978-3-939069-94-2.
  • Yuri Yamanaka: Maßnahmen bei psychisch kranken Straftätern. Herbert Utz Verlag, München 2008, ISBN 978-3-8316-0829-4.

Weblinks

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