- Strukturalismus (Architektur)
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Der Strukturalismus ist eine Mitte des 20. Jahrhunderts aufgekommene Strömung in Architektur und Städtebau, die die gebauten und zu bauenden Strukturen als Ausdruck sozialer und funktionaler Zusammenhänge begreift und hierbei bestimmte ästhetische und konfigurative Entwurfsschemata der Multiplikation von Modulen und geometrischen Grundformen anwendet. Oft werden aus diesem theoretischen Ansatz heraus eine Grundstruktur, ein Modul oder ein Raster entwickelt, die dazu bestimmt sind, unter Mitwirkung oder nach Belieben der Nutzer einem ständigen Wachstums- oder Umbauprozess zu unterliegen. Der Strukturalismus ist eine Reaktion auf den CIAM-Funktionalismus (Rationalismus), der zu einem sterilen Städtebau ohne Identität der Bewohner und der gebauten Formen geführt hatte.
Beim Strukturalismus bestehen zwei verschiedene Erscheinungsbilder, die manchmal in Kombination auftreten. Einerseits ist es die Ästhetik der Anzahl, die Aldo van Eyck 1959 formulierte. Dieses Erscheinungsbild kann mit Zellgeweben verglichen werden. Die Ästhetik der Anzahl wird auch als Konfigurative Architektur oder Architektur der Konfigurationen bezeichnet.
Anderseits ist es die Architektur der munteren Vielfalt (auch: Struktur und Zufall), die John Habraken 1961 einführte. Dieses zweite Erscheinungsbild entsteht aus der Benutzerpartizipation im Wohnungsbau. Die Architektur der munteren Vielfalt wird auch als Pluralistische Architektur bezeichnet.
Die Baugestalt ist nicht eindeutig vorbestimmt, Architektur wird als Prozess mit offenem Ausgang begriffen. Dadurch verlieren konventionelle Gestaltungsregeln ihre Bedeutung.
Strukturalismus im allgemeinen Sinn ist eine Denkart des 20. Jahrhunderts, die an verschiedenen Orten, zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Fachgebieten entstanden ist. Sie kommt unter anderem in der Linguistik, Anthropologie, Philosophie, Kunst und Architektur vor.
Inhaltsverzeichnis
Entstehung
Der Strukturalismus in Architektur und Städtebau entstand in der Architektenvereinigung CIAM (Congrès Internationaux d'Architecture Moderne) nach dem Zweiten Weltkrieg. Von 1928–59 war die CIAM eine der bedeutendsten Diskussionsplattformen für Architektur und Städtebau. In dieser Organisation operierten verschiedene Gruppierungen mit teils widersprüchlichen Auffassungen: Anhänger einer wissenschaftlichen Architektur ohne ästhetische Prämissen (Rationalisten), Anhänger einer Architektur als Baukunst (Le Corbusier), Anhänger von Hoch- oder von Niedrigbau (Ernst May), Anhänger eines Reformkurses nach dem Zweiten Weltkrieg (Team Ten), Anhänger der alten Lehre und weitere.
»Stadtbau kann niemals durch ästhetische Überlegungen bestimmt werden, sondern ausschließlich durch funktionelle Folgerungen.« Diese Formulierung in der CIAM-Erklärung von 1928 stammt von Architekten des Rationalismus. Einer der ersten, der gegen diese Auffassung rebellierte, war Aldo van Eyck mit seinem Statement Against Rationalism beim sechsten CIAM-Kongress von 1947.
Es waren einzelne Mitglieder der kleinen Splittergruppe Team Ten, die die Basis für den Strukturalismus legten. Später interpretierte Herman Hertzberger, ein Hauptvertreter der zweiten Generation, den Einfluss dieses Teams wie folgt: »Ich bin ein Produkt des Team Ten.« Das Team Ten als Gruppe war seit 1953 aktiv, wobei zwei verschiedene Architekturströmungen aus diesem Team hervorgingen. Einerseits war es der Brutalismus der englischen Vertreter (Alison und Peter Smithson) und anderseits der Strukturalismus der holländischen Vertreter (Aldo van Eyck und Jacob Bakema).
Auch von außerhalb des Team Ten kamen wichtige Impulse für den Strukturalismus wie zum Beispiel von Louis Kahn in Amerika, Kenzō Tange in Japan und dem Niederländer John Habraken mit seiner Theorie der Benutzerpartizipation. Für die Mitbestimmung im Wohnungsbau leisteten Herman Hertzberger und Lucien Kroll bedeutende architektonische Beiträge. Dabei geht Herman Hertzberger vom folgenden Grundsatz aus: »Beim Strukturalismus wird ein Unterschied gemacht zwischen einer Struktur mit langem Lebenszyklus und Einfüllungen mit weniger langem Zyklus.«
Der japanische Architekt Kenzo Tange entwarf 1960 den bekannten Masterplan für die Tokyo Bay. Später berichtete er über die Entstehungsphase dieses Projektes: »Ich glaube, es war rund 1959 oder anfangs der 1960er Jahre, dass ich mich mit einer Strömung beschäftigte, die ich später Strukturalismus nannte«, (zitiert in Plan 2/1982, Amsterdam). Im weiteren schrieb Tange den Artikel Funktion, Struktur und Symbol, 1966, der den Übergang von der funktionalistischen zur strukturalistischen Denkweise beschreibt. Für Tange stand die Zeit von 1920–60 unter dem Zeichen des Funktionalismus und die Zeit ab 1960 unter dem Zeichen des Strukturalismus.
Von Le Corbusier stammen verschiedene frühe Projekte und gebaute Prototypen für den Strukturalismus, einzelne selbst aus den 1920er Jahren. Obwohl die Mitglieder des Team Ten in den 1950er Jahren gewisse Aspekte im Werk von Le Corbusier kritisierten – wie die städtebauliche Grundkonzeption ohne Sinn für den Ort (Sense of Place) und die dunklen Innenstraßen der Unité – so sahen sie ihn trotzdem als großes Vorbild mit einer kreativen Architektenpersönlichkeit.
Manifest
Eines der einflussreichsten Manifeste für die strukturalistische Bewegung wurde durch Aldo van Eyck zusammengestellt (Forum 7/1959). Es war gleichzeitig das Programm für den internationalen Architektenkongress CIAM XI 1959 in Otterlo, den elften und letzten dieser Konferenzen. Der Kern des Manifestes ist ein frontaler Angriff gegen die holländischen Vertreter des CIAM-Rationalismus, die für den Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg verantwortlich waren (die Planer van Tijen, van Eesteren, Merkelbach und andere wurden aus taktischen Gründen nicht genannt). Das Manifest enthält viele Statements und Vorbilder für einen humaneren Städtebau. Der Otterlo-Kongress wird offiziell als Beginn der Architekturströmung Strukturalismus gesehen, obwohl schon frühere Projekte und Bauten der neuen Bewegung bestanden. Der Begriff Strukturalismus in der Architektur wird in der Fachliteratur erst seit 1969 verwendet.
Otterlo-Kongress und seine Teilnehmer
Einzelne Präsentationen und Diskussionen beim Otterlo-Kongress von 1959 werden als Beginn des Strukturalismus in Architektur und Städtebau gesehen. Diese Präsentationen waren international einflussreich. Im Buch von Oscar Newman mit dem Titel CIAM '59 in Otterlo sind die 43 teilnehmenden Architekten genannt (geordnet nach Herkunft):
- L. Miquel, Alger
- Aldo van Eyck, Amsterdam
- José A. Coderch, Barcelona
- Wendell H. Lovett, Bellevue-Washington
- Werner Rausch, Berlin
- W. van der Meeren, Bruxelles
- Ch. Polonyi, Budapest
- M. Siegler, Genf
- P. Waltenspuhl, Genf
- Hubert Hoffmann, Graz
- Chr. Fahrenholz, Hamburg
- Alison Smithson, London
- Peter Smithson, London
- Giancarlo De Carlo, Milano
- Ignazio Gardella, Milano
- Vico Magistretti, Milano
- Ernesto Rogers, Milano
- Blanche Lemco van Ginkel, Montreal
- Daniel van Ginkel, Montreal
- Callebout, Nieuport
- Geir Grung, Oslo
- A. Korsmo, Oslo
- Georges Candilis, Paris
- Alexis Josic, Paris
- André Wogenscky, Paris
- Shadrach Woods, Paris
- Louis Kahn, Philadelphia
- Viana de Lima, Porto
- F. Tavora, Porto
- Jacob Bakema, Rotterdam
- Herman Haan, Rotterdam
- J. M. Stokla, Rotterdam
- John Voelcker, Staplehurst
- Ralph Erskine, Stockholm
- Kenzo Tange, Tokyo
- T. Moe, Trondheim
- Oskar Hansen, Warszawa
- Zofia Hansen, Warszawa
- Jerzy Soltan, Warszawa
- Fred Freyler, Wien
- Eduard F. Sekler, Wien
- Radovan Niksic, Zagreb
- Alfred Roth, Zürich.
Theoretische Ausgangspunkte
- Gebaute Strukturen als Kontraform der sozialen Strukturen laut Team Ten, das sich als Arbeitsgruppe für die Untersuchung der »Beziehungen zwischen sozialen und gebauten Strukturen« bezeichnete.
- Archetypisches Verhalten des Menschen als Ausgangspunkt für die Architektur (vergleiche Anthropologie, Claude Lévi-Strauss). Im Gegensatz zu dieser Auffassung glaubten verschiedene Rationalisten, die durch Gruppen der russischen Avantgarde beeinflusst waren, an einen machbaren Menschen in einer manipulierbaren Gesellschaft.
- Zusammenhang, Wachstum und Veränderung auf allen Stufen des Städtebaus. Gliederung der Baumasse mit Gestaltqualität. Sinn-für-Orte-Konzeption (Sense-of-Place). Erkennungszeichen.
- Polyvalente Form und individuelle Interpretation (vergleiche Langue et Parole, Ferdinand de Saussure); Benutzerpartizipation; Integration von professioneller und alltäglicher Baukultur mit dem Resultat der Pluralistischen Architektur.
Anwendung der Prinzipien
Das Prinzip Struktur und Zufall ist bis heute aktuell geblieben, sowohl für die Architektur des Wohnungsbaus als auch für den Städtebau. Für den Wohnungsbau waren die folgenden Bilder einflussreich: die Perspektivzeichnung des Projektes Fort l'Empereur in Algier von Le Corbusier (1934) und die Isometriezeichnung der veränderbaren Wohnsiedlung Diagoon in Delft von Herman Hertzberger (1971). Auf Stadtniveau waren die folgenden Bilder einflussreich: der Tokyo-Bay-Plan von Kenzo Tange (1960) und die faszinierenden Modellfotos der zur Ausführung bestimmten Freien Universität Berlin von Candilis Josic & Woods (1963). Erwähnenswert sind auch die Utopien von u.a. Archigram und Yona Friedman. Das Prinzip Struktur und Zufall kommt auch bei früheren Städten vor. (Siehe auch: Planstadt)
Das Prinzip Ästhetik der Anzahl hat sich für die Strukturierung einer ganzen Stadt als wenig geeignet erwiesen, in der Architektur und im Siedlungsbau fand es jedoch Anwendung. Die ersten einflussreichen Bilder dieser Richtung lieferte 1960 Aldo van Eyck mit Luftfotos seines Waisenhauses in Amsterdam. Später verwirklichte er das Raumfahrtzentrum Estec in Noordwijk (1989).
Siehe auch
Projekte und gebaute Beispiele
- Ottokar Uhl: Strukturalistische, demontable Strukturen mittels S.A.R.-Methode, wobei sich Uhl auf John Habraken bezieht. Umsetzung vorrangig im Kirchen- und Wohnungsbau von 1957-1996 (geordnet nach Entstehungszeitraum)
- Kirchenzentrum Siemensstraße, Wien, 1960-64
- Kirchenzentrum Taegu, 1964-66
- Kirchenzentrum Kundratstraße, Wien 1966-67
- Wohnen morgen, Hollabrunn I, 1971-76
- Gemeindebau Feßtgasse, Wien, 1983
- Wohnheim B.R.O.T., Wien, 1985-90
- Van den Broek & Bakema und andere:
- Wohnbezirke bei Rotterdam,
- Pendrecht Projekt 1949
- Alexanderpolder Projekte 1953 und 1956
Einzelne Gebäude
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Landtagsgebäude Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf, 1979–1988
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Universitätsklinikum Aachen, 1971–1985
- Aldo van Eyck:
- Waisenhaus Amsterdam, 1960
- Europäisches Weltraumforschungs- und Technologiezentrum in Noordwijk (Restaurant, Kongresssäle, Bibliothek), 1989
- Schmela-Haus in Düsseldorf, 1967–1971
- Le Corbusier:
- Wochenendhaus in La Celle-Saint-Cloud bei Paris, 1935
- Louis I. Kahn:
- Trenton Bath House in Ewing, New Jersey, 1954
- Salk Institute for Biological Studies in La Jolla, Kalifornien, 1965
- Kimbell Art Museum in Fort Worth, Texas, 1972
- Candilis, Josic & Woods:
- Kenzō Tange:
- Yamanashi Kulturzentrum in Kofu, 1967
- Fuji Television Building in Odaiba, Tokio, 1996
- Fritz Haller:
- Lehr- und Forschungszentrum Dorigny (ETH Lausanne), Wettbewerbsprojekt 1970
- George Tschachawa und Zurab Djalagania:
- Verwaltungsgebäude des Ministeriums für Straßenbau, Tiflis, Georgien, 1975
mit Benutzerpartizipation
- Herman Hertzberger:
- Bürogebäude Centraal Beheer in Apeldoorn, 1972 (Mitbestimmung beim Interieur)
Wohnsiedlungen
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Habitat 67, Weltausstellung in Montréal, 1967 (Moshe Safdie)
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Kubushäuser in Rotterdam, 1985 (Piet Blom)
- Alison und Peter Smithson:
- Wohnbezirk Golden Lane London, Projekt 1952
- Atelier 5:
- Wohnsiedlung Halen bei Bern, 1961
- Stefan Wewerka:
- Wohnbezirk Ruhwald in Berlin, Projekt 1965
- Giancarlo De Carlo:
- Wohnsiedlung für Studenten des Collegio del Colle Urbino, 1966
- Mosche Safdie:
- Wohnbezirk Habitat 67, Weltausstellung Montréal, 1967
- Verhoeven Klunder Witstok & Brinkman:
- Wohnsiedlung in Berkel-Rodenrijs, 1973
- Piet Blom:
- Wohnsiedlung Kasbah Hengelo, 1973
- Kubushäuser in Helmond und Rotterdam, 1985
mit Benutzerpartizipation
- Le Corbusier:
- Perspektivzeichnung Wohnbezirk Fort l'Empereur Algier, Projekt 1934
- Herman Hertzberger:
- Wohnsiedlung Diagoon in Delft, 8 Experimentierhäuser, 1971
- Lucien Kroll:
- Studentenzentrum St. Lambrechts-Woluwe Brussel, 1976 (Mitbestimmung)
- Adriaan Geuze und andere:
- Wohnbezirk Borneo-Sporenburg Scheepstimmermanstraat Amsterdam, 2000 (Mitbestimmung)
Städtebau
- Alison und Peter Smithson:
- Städtebauschema Hierarchy of Association, 1953
- Kenzō Tange:
- Tokyo-Bay-Plan, Projekt 1960
Kunstwerke
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Denkmal für die ermordeten Juden Europas, 2005 (Peter Eisenman)
- Peter Eisenman: Denkmal für die ermordeten Juden Europas, 2005
- Moshe Safdie: Neue Holocaust-Gedenkstätte in Yad Vashem, 2005
Literatur
Primärliteratur
- Aldo van Eyck: Het Verhaal van een Andere Gedachte. (Die Geschichte eines anderen Gedankens.) In: Forum 7/1959, mit holländischen, englischen und französischen Texten, Amsterdam und Hilversum. Für die Zeitschriften Forum 7/1959–3/1963 sowie die Extranummer Juli/1967 bestand die Redaktion aus Aldo van Eyck, Herman Hertzberger, Jaap Bakema und anderen.
- John Habraken: Die Träger und die Menschen. Den Haag 2000. (De Dragers en de Mensen. Amsterdam 1961).
- Kenzo Tange: Funktion, Struktur und Symbol, 1966. In: Udo Kultermann (Hrsg.): Kenzo Tange. Zürich 1970. (Paralleltexte englisch/deutsch/französisch).
- Herman Hertzberger: Vom Bauen. München 1995. (Lessons in Architecture. No. 1, Rotterdam 1991; No. 2, Rotterdam 1999).
Sekundärliteratur
- Oscar Newman: CIAM '59 in Otterlo. Stuttgart 1961. (Englisch mit deutscher Textbeilage).
- Arnulf Lüchinger: Strukturalismus in Architektur und Städtebau. Stuttgart 1980. (Paralleltexte deutsch/englisch/französisch).
- Wim van Heuvel: Structuralism in Dutch Architecture. Rotterdam 1992. (Structuralisme in de Nederlandse Architectuur. Rotterdam 1992).
- Francis Strauven: Aldo van Eyck – The Shape of Relativity. Amsterdam 1998. ("Relativiteit en Verbeelding", Amsterdam 1994).
- Max Risselada und Dirk van den Heuvel: Team 10 – In Search of a Utopia of the Present. Rotterdam 2005.
- Michael Hecker: Structurel-Structural. Einfluss strukturalistischer Theorien auf die Entwicklung architektonischer und städtebaulicher Ordnungs- und Gestaltungsprinzipien in West-Deutschland… 1959–75. Dissertation an der TU Stuttgart 2007.
Weblinks
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