Strukturelle Gewalt

Strukturelle Gewalt

Strukturelle Gewalt bezeichnet ein Konzept, das den klassischen Gewaltbegriff umfassend erweitert und 1969 vom norwegischen Friedensforscher Johan Galtung formuliert wurde. [1]

Inhaltsverzeichnis

Der Ansatz von Galtung

Johan Galtung ergänzte den traditionellen Begriff der Gewalt, der vorsätzlich destruktives Handeln eines Täters oder einer Tätergruppe bezeichnet, um die Dimension einer diffusen, nicht zurechenbaren strukturellen Gewalt:

„Strukturelle Gewalt ist die vermeidbare Beeinträchtigung grundlegender menschlicher Bedürfnisse oder, allgemeiner ausgedrückt, des Lebens, die den realen Grad der Bedürfnisbefriedigung unter das herabsetzt, was potentiell möglich ist“.

Diesem erweiterten Gewaltbegriff zufolge ist alles, was Individuen daran hindert, ihre Anlagen und Möglichkeiten voll zu entfalten, eine Form von Gewalt. Hierunter fallen nicht nur alle Formen der Diskriminierung, sondern auch die ungleiche Verteilung von Einkommen, Bildungschancen und Lebenserwartungen, sowie das Wohlstandsgefälle zwischen der ersten und der Dritten Welt. Selbst eingeschränkte Lebenschancen auf Grund von Umweltverschmutzung oder die Behinderung emanzipatorischer Bestrebungen werden hierunter subsumiert.

In dieser umfassenden Definition kann Gewalt nicht mehr konkreten, personalen Akteuren zugerechnet werden, sondern sie basiert nurmehr auf Strukturen einer bestehenden Gesellschaftsformation, insbesondere auf gesellschaftliche Strukturen wie Werten, Normen, Institutionen oder Diskursen sowie Machtverhältnissen. Diese Begriffsbestimmung verzichtet auch auf die Voraussetzung, dass, um von Gewalt sprechen zu können, eine Person oder Gruppe subjektiv Gewalt empfinden muss. Strukturelle Gewalt werde von den Opfern oft nicht einmal wahrgenommen, da die eingeschränkten Lebensnormen bereits internalisiert seien. Da es nicht möglich ist allgemein zu bestimmen, was für ein Individuum potentiell möglich wäre, weil jedes Individuum schon dem Begriff nach in seinen Anlagen unterschiedlich ist, hat die Definition der strukturellen Gewalt keinen objektivierbaren Gegenstand.

Vorgeschichte

Der Gedanke, dass den gesellschaftlichen Systemen und Subsystemen Gewalt inhärent sei, ist dabei keineswegs neu. Heinrich Zille hat ihn in dem Diktum zugespitzt, man könne mit einer Wohnung einen Menschen genauso erschlagen wie mit einer Axt. Eine klassische Formulierung findet sich in Bertolt Brechts Me-Ti. Buch der Wendungen:

Es gibt viele Arten zu töten. Man kann einem ein Messer in den Bauch stechen, einem das Brot entziehen, einen von einer Krankheit nicht heilen, einen in eine schlechte Wohnung stecken, einen durch Arbeit zu Tode schinden, einen zum Suizid treiben, einen in den Krieg führen usw. Nur weniges davon ist in unserem Staat verboten.“

Theoretisch ausformuliert wurde diese Vorstellung von Karl Marx. Dieser machte in der Diskussion des Gewaltbegriffs darauf aufmerksam, dass Gewalt auch in den gesellschaftlichen Verhältnissen selbst begründet sein kann, dass sie in manifester oder latenter Form alle politischen und sozialen Beziehungen durchdringt.[Quelle? Beleg?] Der Gewaltbegriff wandelte sich hier von einem Handlungsbegriff zu einem (gesellschaftlichen) Strukturprinzip. Auch die Post-Marxisten Michael Hardt und Antonio Negri schreiben in ihrem globalisierungskritischen Manifest Multitude das Konzept der strukturellen Gewalt Karl Marx zu:

Die Theorie der Ausbeutung muss die tägliche strukturelle Gewalt des Kapitals gegen die Arbeiter erkennen lassen, die diesen Antagonismus hervorbringen, und dient umgekehrt den Arbeitern als Grundlage, um sich zu organisieren und sich der kapitalistischen Kontrolle zu verweigern.[2]

Die Kritische Theorie steht ebenfalls in dieser marxistischen Denktradition. Dabei ist vor allem Herbert Marcuse und sein 1964 erschienenes Werk Der eindimensionale Mensch zu nennen. Hier werden die pluralistischen Demokratien der westlichen Welt als repressive, ja „totalitäre“ Gesellschaften beschrieben, die sich auf Indoktrination, Manipulation, Ausbeutung und Krieg gründeten. Kritik bleibe fruchtlos, da sie in das „eindimensionale“ System von Politik, Wirtschaft und Kulturindustrie integriert würde.

Zu einer ähnlichen Sicht kommt auch der französische Philosoph und Historiker Michel Foucault, dessen Anfang der 1970er Jahre entstandene Diskurs-Theorie strukturalistisch und apersonal geprägt ist. Auf dessen Theorie der Gouvernementalität beziehen sich heute zahlreiche Philosophen, so auch Giorgio Agamben.

Strukturelle Gewalt als Legitimation für Gegengewalt

Der umfassende, nicht trennscharfe und personal nicht zurechenbare Gewaltbegriff wurde zu einem klassischen Topos, um insbesondere gewalttätigen politischen Widerstand theoretisch zu legitimieren. So urteilt etwa Albert Fuchs, Mitglied des Instituts für Friedensarbeit und gewaltfreie Konfliktaustragung:

„Bei Galtung geht es um die Skandalisierung herrschender Verhältnisse, Diskreditierung ihrer Repräsentation und Agenten und Rechtfertigung von Widerstand gegen diese Verhältnisse.“[3]

So argumentierte auch Herbert Marcuse, wenn er betonte, dass es für unterdrückte Minderheiten ein Naturrecht auf Widerstand gebe: Wenn diese Minderheiten Gewalt anwendeten, so begönnen sie keine neue Kette von Gewalttaten, sondern zerbrächen die etablierte. Hierin wird deutlich, dass der Begriff der institutionalisierten Gewalt impliziert, dass eine Überwindung der beschriebenen Zustände im Wege der inneren Reform nicht möglich ist. Wenn die strukturelle Gewalt den kritisierten Gesellschaftsformen wesenshaft inhärent ist, so bedarf es eines revolutionären Prozesses, um sie aufzubrechen.

Dies war beispielsweise auch eine zentrale Legitimationsstrategie der RAF, die revolutionäre Gewalttaten stets mit der vorgängigen „Gewalt des Systems“ rechtfertigten, wobei sie selbst definierte, was als „Gewalt des Systems“ zu gelten habe.

Ulrike Meinhof hatte in dem Gründungsmanifest der RAF, Das Konzept Stadtguerilla, 1971 geschrieben:

„Stadtguerilla ist bewaffneter Kampf […]. Stadtguerillla heißt, sich von der Gewalt des Systems nicht demoralisieren zu lassen. […] Stadtguerilla setzt die Organisierung eines illegalen Apparates voraus, das sind Wohnungen, Waffen, Munition, Autos, Papiere. Was dabei im einzelnen zu beachten ist, hat Marighela in seinem 'Minihandbuch der Stadtguerilla' beschrieben. […] Die Parole der Anarchisten ‚Macht kaputt, was Euch kaputt macht‘ zielt auf die direkte Mobilisierung der Basis […], ist die Aufforderung zum direkten Widerstand. […] Die Parole geht von der Einsicht aus, daß es im Kapitalismus nichts, aber auch nichts gibt, das einen bedrückt, quält, hindert, belastet, was seinen Ursprung nicht in den kapitalistischen Produktionsverhältnissen hätte, daß jeder Unterdrücker, in welcher Gestalt auch immer er auftritt, ein Vertreter des Klasseninteresses des Kapitals ist, das heißt: Klassenfeind.“[4]

Illegale Gewalt wurde also mit dem Verweis auf die vorgängige „Gewalt des Systems“ gerechtfertigt, worunter im Wesentlichen die „kapitalistischen Produktionsverhältnisse“ verstanden wurden. Die Parole „Macht kaputt, was Euch kaputt macht“ (populär geworden durch ein gleichnamiges Musikstück von Ton Steine Scherben, 1971), verweist auf die Vorstellung einer strukturellen, dem „System“ inhärenten Gewaltanwendung. Auch der Vordenker der Studentenbewegung Rudi Dutschke hatte erklärt:

„Alles politische Handeln hier steht und fällt jetzt im Kontext der internationalen revolutionären Bewegungen. […] Der Staat hat gezeigt, zu welchen Mitteln er greift, wenn eine Bewegung auf ihr Recht, das Recht auf Widerstand pocht. Da haben wir da die richtige Antwort nicht gefunden, wir dürfen aber von vornherein nicht auf eigene Gewalt verzichten, denn das würde nur ein Freibrief für die organisierte Gewalt des Systems bedeuten.“[5].

Kritik

Dass viele Richtungen der Soziologie und Politikwissenschaft zögerten, den Begriff zu übernehmen, kann einerseits auf den Verdacht seiner ideologischen Verwendung zurückgeführt werden, andererseits darauf, dass man fürchtet, dass er von dem eingeführten und wohldefinierten Begriff „Herrschaft“ fast ununterscheidbar sei.

Der Staatsrechtler Josef Isensee sah in der „Lehre von struktureller Gewalt, die von der neomarxistischen Richtung der sog. Friedensforschung vertreten wird“, ein „Legitimationsschema zum Bürgerkrieg gegen das ‚kapitalistische‘ System“:

„‚Frieden‘ und (sozialistisch verstandene) soziale Gerechtigkeit werden in eins gesetzt. Soziale Ungerechtigkeit gilt als (strukturelle) Gewalt, gegen die (physische) Gegengewalt gerechtfertigt wird (vgl. J. Galtung, Strukturelle Gewalt, dt. Ausgabe 1975). Die begriffliche Identifikation verschiedener staatsethischer Ziele liefert das Legitimationsschema zum Bürgerkrieg gegen das ‚kapitalistische‘ System.“[6]

Die Soziologin Nina Degele urteilt:

„Ohne Zweifel stellten die Aktionen der RAF einen gewaltsamen Angriff auf die bestehende Ordnung dar, mit dem Ziel diese umzuwerfen, als notwendiger Schritt auf dem Weg zur befreiten Gesellschaft. Dem Verständnis der RAF nach stellte diese Gewalt eine legitime Gegenwehr gegen die direkte und strukturelle Gewalt des kapitalistischen Systems dar. Nicht von der RAF ging die Gewalt aus, sondern von Staat und Ökonomie. Der Kampf gegen ein System, das täglich das Leben unzähliger Menschen kostet, legitimierte auch den Tod derjenigen, die in diesem Kampf ums Leben kamen.“[7].

Gustav Däniker, ehemaliger Stellvertretender Chef des Generalstabs der Schweizer Armee, schrieb in einer Analyse des Terrorismus im Jahrbuch für internationale Sicherheitspolitik:

„Nährboden waren insbesondere auch die Theorien systemkritischer Denker betreffend die sogenannte strukturelle Gewalt innerhalb demokratisch verfaßter Staaten, die es zu brechen gelte. Vom Schlachtruf: Macht kaputt, was Euch kaputt macht bis zum Slogan: Wenn Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht übten Kampfparolen eine Faszination aus, die durch den verbleibenden neomarxistischen und neotrotzkistischen harten Kern der 68-er Generation als Freipaß für die letzte befreiende Tat interpretiert wurden.“[8]

Auch heute werden laut dem Soziologen Helmut Willems[9]linksextremistisch motivierte Gewalttaten“ mit Verweis auf eine „strukturelle Gewalt des Systems“ gerechtfertigt:

„Das Bundesamt für Verfassungsschutz schätzt das Gewaltpotential der Linksextremisten als erheblich ein. Die Mehrzahl aller gewalttätigen militanten Aktionen im linken Spektrum geht weiterhin von den ‚anarchistisch orientierten autonomen Szenen‘ aus. […] Sie orientieren sich an oftmals diffusen kommunistischen oder anarchistischen Ideologiebestandteilen, stellen jedoch keine einheitliche Bewegung mit einem gemeinsamen ideologischen oder strategischen Konzept dar. […] Konsens und Gemeinsamkeit gibt es lediglich hinsichtlich der ‚antifaschistischen, antikapitalistischen und antipatriarchalen Grundhaltung‘ (in der Tradition der Protestbewegungen der sechziger und siebziger Jahre) sowie im Hinblick auf die grundsätzliche Akzeptanz von Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele. Dabei wird die eigene Gewalthandlung häufig als legitime Gegengewalt gegen die strukturelle Gewaltdes Systems gerechtfertigt.“[10].

Siehe auch

Überwachen und Strafen, Gewaltmonopol, Positiver Frieden

Literatur

  • Johan Galtung: Gewalt, Frieden und Friedensforschung. in: Dieter Senghaas (Hrsg.), Kritische Friedensforschung, Frankfurt 1971 (auch in: Johan Galtung, Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung, Reinbek bei Hamburg 1975)
  • Dieter Senghaas (Hrsg.), Imperialismus und strukturelle Gewalt. Analysen über abhängige Reproduktion, 1976, ISBN 3-518-10563-9
  • Michael Roth, Strukturelle und personale Gewalt. Probleme der Operationalisierung des Gewaltbegriffs von Johan Galtung, 1988, ISBN 3-926197-36-6
  • Klaus Horn, Sozialisation und strukturelle Gewalt. Schriften zur kritischen Theorie des Subjekts, 1998, ISBN 3-930096-59-5
  • Josef Isensee, Grundrecht auf Sicherheit - Zu den Schutzpflichten des freiheitlichen Verfassungsstaates, 1983, ISBN 3-11-009816-4

Einzelnachweise

  1. vgl. Johan Galtung: „Violence, peace and peace research“ in: Journal of Peace Research, Vol. 6, No. 3 (1969), pp. 167-191
  2. Negri/Hardt: Multitude, 2004, S. 270 [1].
  3. Albert Fuchs: Wider die Entwertung des Gewaltbegriffes.
  4. (BRD - RAF) Das Konzept Stadtguerilla
  5. DIE LINSE - Projekte und Reihen: Filme zu RAF und Terrorismus
  6. Isensee: Grundrecht Auf Sicherheit, 1983, [2]
  7. [3]
  8. Däniker: Die 'neue' Dimension des Terrorismus - Ein strategisches Problem, in: Erich Reiter (Hrsg.), Jahrbuch für internationale Sicherheitspolitik 1999, S. 79 [4]
  9. Wissensaustausch
  10. Strukturen und Entwicklungen politisch motivierter Kriminalität in Deutschland, 2001, [5]

Weblinks


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