Synagoge Seitenstettengasse

Synagoge Seitenstettengasse
Seitenstettengasse 4, in dem sich der Stadttempel befindet

Der Stadttempel ist die Hauptsynagoge von Wien. Sie befindet sich im 1. Wiener Gemeindebezirk Innere Stadt in der Seitenstettengasse 4. Der Tempel wird auch Seitenstettentempel nach seiner Adresse genannt. Es war vor 1938 auf Grund der hohen Zahl von Synagogen und Tempeln in Wien gebräuchlich, die Einrichtungen nach den Straßen oder Gassen zu benennen.

Inhaltsverzeichnis

Geschichte

Baupläne nach Joseph Kornhäusel

Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung einiger jüdischer Familien am Ende des 18. Jahrhunderts und den durch das Toleranzpatent Kaiser Joseph II. ermöglichten Emanzipationsbestrebungen der Juden entstand auch der Plan zur Errichtung einer repräsentativen Synagoge in der Innenstadt. Dieses Vorhaben wurde vom Vorstand der Israelitischen Gemeinde unterstützt und 1819 in einem Schreiben allen Mitgliedern bekannt gegeben. Zwei der in Aussicht genommenen Bauplätze wurden vom Magistrat nicht genehmigt, 1811 kauften Michael Lazar Biedermann und Isaak Löw Hofmann um 90.000 Gulden den Pempflingerhof (vulgo Dempfingerhof) in der heutigen Seitenstettengasse. 1823 musste das Gebäude aber wegen Baufälligkeit abgerissen werden und Joseph Kornhäusel, einer der bekanntesten Wiener Architekten seiner Epoche, erhielt den Auftrag zum Neubau. Die Grundsteinlegung für den im klassizistischen Stil errichteten Bau fand am 12. Dezember 1825 statt, die feierliche Eröffnung war dann am 9. April 1826.

Das Eingangstor (Erklärung zur Inschrift im Text)

Entsprechend den damals geltenden Vorschriften mussten nichtkatholische Gotteshäuser verborgen werden und durften nicht unmittelbar von der Straße aus sichtbar sein. Der Kunsthistoriker Max Eisler (1881–1937, ein orthodoxer Jude), sprach daher von der Synagoge als einem „Denkmal seiner zwiespältigen Zeit. [...] Draußen – da die Juden ihre Gotteshäuser nicht an der Straße kenntlich machen durften – wie ein Zinshaus, drinnen wie ein Theater. Nur kein Tempel“.[1] Die Synagoge selbst befindet sich daher hinter einem fünfgeschoßigen Miethaus mit 14 Fensterachsen und klassizistischer Fassade, in dem Einrichtungen der Israelitischen Kultusgemeinde untergebracht sind. Durch dieses erfolgt der Zugang zum Tempel, der als selbständiger Bau errichtet ist.

Über dem Eingangstor befindet sich die Inschrift (aus Psalm 100, Vers 4): „bo'u sche'araw betoda chatzerotaw bitehilla“. In Übersetzung etwa: „Kommet zu seinen Toren mit Dank, zu seinen Vorhöfen [des Tempels] mit Lobgesang!“. Die durch ihre Größe hervorgehobenen Buchstaben von schearaw (1. Zeile von rechts beginnend ab dem vierten Buchstaben) ergeben eine Zahl, die dem Errichtungsjahr entspricht, nämlich schin/300 + ajin/70 + resch/200 + jod/10 + waw/6 = 586 - man denke sich die 5000 davor und kommt dann auf 5586 nach dem jüdischen Kalender = 1825/26.

Blick in den Innenraum

Der ovale Gebetsraum mit einem umlaufenden Kranz von zwölf ionischen Säulen, auf dem die Frauengalerie ruht, wird von einer Kuppel und zwei Laternen überwölbt, das Parterre ist den Männern vorbehalten. Zusammen hat der Tempel etwa 500 Sitzplätze. Die Toraschreinnische wird im Kuppelbereich von den in einem Strahlenkranz eingebetteten Gesetzestafeln bekrönt. Die heutige Raum- und Lichtgestaltung entspricht nicht mehr dem ursprünglichen Zustand, schon anlässlich der ersten Renovierung durch Wilhelm Stiassny ab 1895 gab es Veränderungen an der Frauengalerie, der Ausschmückung der Kuppel und der Beleuchtung, nachdem schon 1867 die Gasbeleuchtung eingeführten worden war. 1923 gab es dann eine zweite Renovierung, der heutige Zustand ist das Ergebnis der 1963 vorgenommen Generalrenovierung. 1934 wurde im Vorraum vom Bund jüdischer Frontsoldaten eine Gedenktafel für die vielen gefallenen jüdischen Soldaten des Ersten Weltkrieges angebracht.

Inschrift über dem Schrein

Als erster Rabbiner amtierte hier Isaak Mannheimer bis zu seinem Tod im Jahre 1865, auf seinen Vorschlag wurde 1826 Salomon Sulzer als Kantor nach Wien berufen.

Während in der Pogromnacht des 9./10. November 1938 alle anderen 94[2] Wiener Synagogen und Bethäuser in Brand gesteckt wurden, entging der Stadttempel durch dessen enge Verbauung im Wohngebiet als einziger der Vernichtung. Der Tempel wurde aber entweiht, verwüstet und als Lager- und Sammelraum für Juden missbraucht, die dann deportiert und anschließend ermordet wurden; daran erinnert eine im September 1988 enthüllte Gedenktafel in der Eingangshalle. Auch im Vorraum befinden sich mehrere Gedenktafeln, so eine für die verewigten, im Stadttempel tätig gewesenen Oberrabbiner. Die Inschrift „Dem Gedenken der jüdischen Männer, Frauen und Kinder, die in den schicksalsschweren Jahren 1938–1945 ihr Leben ließen“ befindet sich zusammen mit dem Vers aus dem „Awinu Malkenu“-Gebet: „Unser Vater, unser König, tue es um derentwillen, die für deinen Heiligen Namen ermordet wurden“ auf einer anderen, bald nach 1945 angebrachten Gedenktafel.

Die 2002 errichtete Shoah-Gedenkstätte im Eingangsbereich

Ein weiteres Ehrenmal gilt den ehemaligen österreichischen Juden, die im Israelischen Befreiungskrieg 1948 fielen. Ebenfalls im Vorraum befindet sich eine am 3. Juni 1993 eingeweihte Gedenkstätte für Aron Menczer, Leiter der Einwanderungsbewegung für Jugendliche nach Palästina, und die zionistische Jugend Wiens. Am 9. November 2002 wurde hier eine Gedenkstätte für die 65.000 ermordeten österreichischen Juden enthüllt.[3] Inmitten von drehbaren Schiefertafeln, auf denen alle erfassten Namen der Toten eingraviert sind, steht eine abgebrochene Granitsäule als Zeichen für das von den Nazis vernichtete Gemeinwesen, das bis 1938 zu den ganz großen Zentren des Judentums gezählt hatte. In der Synagoge erinnern noch zahlreiche von Angehörigen gestiftete Gedenktafeln an Opfer der nationalsozialistischen Judenverfolgung.

Ab Herbst 1945 konnten in der vorerst provisorisch renovierten Synagoge wieder Gottesdienste gehalten werden. Am 2. April 1946 fand ein feierlicher Gottesdienst in Anwesenheit des Bundespräsidenten Theodor Körner zur Erinnerung an das 120jährige Jubiläum der Einweihung statt, der über Rundfunk auch in die USA, nach Großbritannien und nach Palästina gesendet wurde; aber erst im September 1947 wurden auch die Bänke wieder errichtet.

Am 14. August 1949 wurden hier die Särge von Theodor Herzl und seinen Eltern sowie seiner Schwester unter der blau-weißen Fahne Israels vor ihrer Überführung nach Israel aufgebahrt. Der damalige Oberrabbiner Akiba Eisenberg sprach während dieser Zeremonie unter anderem: „Der Geist Herzls, der immer wieder stolz verkündete und uns allen verkünden ließ: Ich bin Jude!, der Geist jenes Mannes, der wie Joseph an die Erlösung geglaubt hat, der Geist Herzls lebt, das Land und das Volk leben.“

Vor der Überführung nach Israel wurden hier im November 1950 auch die Gebeine des ehemaligen Oberrabbiners Zwi Perez Chajes aufgebahrt.

Wahrend eines seiner Gastspiele an der Wiener Staatsoper sang der berühmte Tenor Richard Tucker 1958 als Kantor im Tempel, um seine Hochachtung für Salomon Sulzer zu zeigen; laut seiner Biographie war es „eine seiner größten Erfahrungen“.

Im Jahre 1963 konnte der Stadttempel nach 9 Monate dauernden Renovierungsarbeiten nach Plänen von Otto Niedermoser neu eröffnet werden.

1976 wurde zum Gedenken an das 150jährige Jubiläum des Stadttempel ein Festgottesdienst gefeiert, der in Anwesenheit der österreichischen Politiker Bruno Kreisky, Otto Rösch, Christian Broda, Hannes Androsch und Karl Lütgendorf stattfand.

1984 ließ Oberrabbiner Paul Chaim Eisenberg das Vorlesepult, die Bima, um einige Meter mehr in die Raummitte versetzen, um den Ansprüchen der Halacha und damit der orthodoxen Tradition zu entsprechen.

1988 wurde die Synagoge abermals durch den Bauunternehmer Richard Lugner generalrenoviert, wobei die Vorräume großzügiger gestaltet wurden.

2001 wurde das 175. Jubiläum des Stadttempels unter Mitwirkung des berühmten Tenors Neil Shicoff und im Beisein von Bundespräsident Thomas Klestil gefeiert.

Terroranschläge

Am 22. April 1979 explodierte im Hof der Synagoge ein halbes Kilo Plastiksprengstoff. Verletzt wurde niemand, aber alle Glasfenster zersplitterten und es entstand großer Sachschaden. Die Attentäter konnten völlig ungehindert in den Tempel eindringen; in der Folge übernahm die palästinensische Extremistengruppe Adler der Revolution (As-Saika) dafür die Verantwortung.

Am 29. August 1981 verübten zwei schwer bewaffnete Terroristen der palästinensischen Extremistengruppe Fatah Revolutionärer Rat einen Anschlag auf den Stadttempel mit zwei Toten und 21 teils Schwerverletzten. Die Attentäter, von denen einer bereits den Anschlag auf Heinz Nittel verübt hatte, drangen am Sabbat um 11:30 Uhr während des Gottesdienstes in die Synagoge ein, warfen Handgranaten und feuerten in die Menge. Zur Sicherung eingesetzte Polizisten sowie zwei private Wachposten wurden im Kugelhagel schwer verletzt. Einer der Attentäter wurde durch einen zufällig anwesenden Privatdetektiv angeschossen und konnte im Zuge der anschließenden Großfahndung in der Nähe festgenommen werden. Auch der zweite Terrorist wurde nach einer Verfolgungsjagd, während der er noch zwei Passanten getötet und Handgranaten auf einen Funkstreifenwagen geworfen hatte, gestellt.[4] [5]

Noch heute muss der Stadttempel, wie viele andere jüdische Einrichtungen in Wien, von der Polizei bewacht und beschützt werden.

Organisation

Der Rabbiner des Stadttempels ist immer auch der Oberrabbiner von Wien; seit 1983 ist es Paul Chaim Eisenberg.

Kantorenkonzert

Seit 1978 gibt es in Zusammenarbeit mit dem Jüdischen Museum Wien die Möglichkeit zur Besichtigung des Tempels; seit 1990 werden auf Anregung von Paul Chaim Eisenberg hier auch alljährliche Kantorenkonzerte unter Mitwirkung berühmter Kantoren aus aller Welt, wie etwa Naftali Herstik, veranstaltet.

Siehe auch

Literatur

  • Pierre Genée: Wiener Synagogen 1825–1938. Löcker, Wien 1987, S. 47-52, ISBN 3-85409-113-3.
  • Felix Czeike: Historisches Lexikon Wien. Band 5. Kremayr & Scheriau, Wien 1997, ISBN 3-218-00547-7, S. 304f.
  • Evelyn Adunka: Der Stadttempel Wien. Geschichte - Rabbiner - Kantoren. Hentrich & Hentrich, Berlin 2008, ISBN 3-93848-555-8.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Max Eisler: Der Seitenstetten Tempel. In: Menorah. Heft 3, Wien 1926, S. 157.
  2. Nach dieser Auflistung gab es in Wien vor 1938 insgesamt 95 Synagogen und Bethäuser.
  3. Gedenkstätte für jüdische Opfer der Shoa im Stadttempel Wien
  4. „Der Terroranschlag auf eine Wiener Synagoge“ In: „Die Gemeinde“ vom September 2001, online auf HaGalil.com (abgerufen am 18. August 2008)
  5. siehe dazu auch: Karl Pfeifer: „Kreisky, Arafat und der Terror“ (abgerufen am 18. August 2008)

48.21166666666716.3744444444447Koordinaten: 48° 12′ 42″ N, 16° 22′ 28″ O


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