Tierverhalten

Tierverhalten

Verhalten ist ein Zentralbegriff der Verhaltensbiologie. Er bezieht sich auf alle äußerlich wahrnehmbaren und daher auch mit technischen Hilfsmitteln erfassbaren, aktiven Veränderungen, Bewegungen, Stellungen, Körperhaltungen, Gesten und Lautäußerungen eines Menschen oder Tieres sowie auf jene mehr oder weniger kurzfristigen, umkehrbaren Farb- und Formänderungen oder Absonderungen von Substanzen, die in irgend einer Form der Verständigung dienen (zum Beispiel Pheromone). Als Verhalten kann einerseits die Gesamtheit solcher Lebensvorgänge bezeichnet werden, andererseits können als Verhalten aber auch einzelne Merkmale in einer bestimmten Zeitspanne bezeichnet werden.

Verhalten wird von der Verhaltensbiologie verstanden als eine durch Gene und Lernen beeinflusste Anpassungsleistung eines intakten Organismus an seine Umwelt. Mit dem Tod eines Individuums endet daher auch sein Verhalten.

Inhaltsverzeichnis

Der Begriff „Verhalten“

Der Begriff Verhalten ist nicht aus den Naturwissenschaften heraus entwickelt worden, er entstammt vielmehr der Alltagssprache. Ähnlich wie beispielsweise die Begriffe Leben und Art kann auch Verhalten daher nicht durch eine knappe Definition abschließend erklärt werden; zu komplex sind die im Verlauf der Stammesgeschichte durch den Prozess der Evolution hervorgebrachten Lebensvorgänge.

Auch wenn die im obersten Absatz wiedergegebene, unter Verhaltensforschern übliche Definition von Verhalten als wissenschaftlich begründet und einleuchtend erscheint, bedarf sie daher doch zusätzlicher Erläuterungen und Einschränkungen.

Verhaltensweise und Verhaltensmuster

In der Verhaltensbiologie bezeichnet der Begriff Verhaltensweise jede beobachtbare Bewegungsabfolge eines Tieres oder eines Einzellers, die von einer anderen Bewegungsabfolge unterscheidbar und daher in ein Ethogramm der betreffenden Art aufgenommen werden kann.

Als Verhaltensmuster wird – weitergehend – eine Abfolge von Verhaltensweisen bezeichnet, die in bestimmten Situationen regelmäßig zu beobachten ist.

Diese Unterscheidung gilt sowohl für verhaltensbiologische Analysen als auch für solche der Psychologie und der Soziologie.

Verhalten heißt: aktiv sein

Verhalten ist stets an lebende Individuen oder Gruppen gebunden – auch Steine können von einer Klippe abbrechen und sich so abwärts bewegen; diese Bewegung wurde aber vollständig von äußeren Einflüssen verursacht. Sie ist keine „Eigenleistung“ eines aktiv agierenden oder reagierenden Subjekts, für das die als Verhalten bezeichnete Veränderung, Bewegung, Haltung oder Äußerung eine bestimmte Funktion (einen Zweck, eine Bedeutung) hat. Für eine Zecke, die sich von einem Strauch auf ein warmblütiges Tier fallen lässt, hat das Fallen hingegen zweifelsfrei eine Funktion. Der Begriff Verhalten wird daher in aller Regel nur auf Lebewesen mit einer Möglichkeit zur Informationsverarbeitung, z.B. einem Nervensystem, angewandt, die zur aktiven Fortbewegung (zumindest zeitweise) fähig sind. Allerdings können auch die Bewegungen von fest sitzenden Nesseltieren als Verhalten eingeordnet werden.

Auch Angststarre ist „Verhalten“

Verhalten ist nicht nur an sichtbare Bewegungen oder Veränderungen eines Organismus gebunden. Verhalten äußert sich auch in Erscheinungen wie Ruhe, Schlaf, Tragestarre, Angststarre oder Lauerstellung, die über eine bestimmte Zeitspanne hinweg stationäre Zustände sind. Ein still sitzendes Schmetterlingsweibchen, das Duftstoffe aussendet oder ein bewegungslos ins Leere starrender Mensch (ein „Denker“) verhalten sich auch ohne erkennbare Bewegung.

Man kann sich nicht nicht-verhalten

Man kann in einem Gedankenexperiment versuchen, Situationen zu finden, in denen man sich nicht verhält – selbst extrem passive Zustände wie tiefer Schlaf wird man dieser Kategorie des „Nicht-Verhaltens“ kaum zurechnen mögen. Auch Verhaltensbiologen stimmen daher dem von Paul Watzlawick in seinem Buch Menschliche Kommunikation formulierten Satz zu: „Man kann sich nicht nicht-verhalten.“ Extremsituationen, die die Selbständigkeit und Unabhängigkeit des Individuums vollständig in Frage stellen (beispielsweise der Prozess des Sterbens und tiefe Bewusstlosigkeit), können als Ausnahme von Watzlawicks Formulierung verstanden werden.

Gibt es „Verhalten“ im Körperinneren?

Gelegentlich wird der Begriff Verhalten auch von Biologen in einem sehr weitgehenden Sinne verwendet: dass sich nämlich jede Körperzelle und jedes Organ in einem Organismus auf eine definierte Art und Weise „verhält“ oder verhalten sollte. Die Nesselzellen von Medusen beispielsweise können noch relativ lange ihre Funktion erfüllen, nachdem ein Tier an den Strand gespült wurde und an ihm keine weiteren Lebenszeichen mehr zu beobachten sind. Im Allgemeinen wird diese Art des Verhaltens innerhalb eines Lebewesens jedoch unter dem Begriff Physiologie zusammengefasst (siehe auch: Pathophysiologie). Die Wechselbeziehungen zwischen der Physiologie und dem Verhalten im ethologischen Sinne sind allerdings umfangreich und sind Forschungsgegenstand vieler Disziplinen in der Verhaltensbiologie.

Sind Darmbewegungen „Verhalten“?

Eine Einschränkung der Definition von Verhalten bezieht sich schließlich auf sichtbare und für das Individuum bedeutungsvolle Bewegungen, die gleichwohl als rein passiv gedeutet werden können: Die Bewegungen des Darms oder die bloße Absonderung von Schweiß aus den Hautdrüsen bei Hitze wird man im allgemeinen nicht als „Verhalten“ bezeichnen. Hingegen fallen Tätigkeiten wie das Absetzen von Kot und Urin eindeutig unter diese Kategorie.

Pflanzen: ein Sonderfall

Auch Pflanzen, Pilze, Protisten und Bakterien reagieren auf Reize der Umwelt, und diese Reaktionen können ähnliche Formen wie bei Tieren annehmen:

Dennoch sprechen die Verhaltensforscher (und auch die Botaniker) hier traditionell nicht von Verhalten, sondern allgemein von Reaktion. Das umfasst dann alle biochemischen und biophysikalischen Vorgänge. Mit diesen Reaktionsformen beschäftigen sich u.a. die Physiologie und die Ökologie.

Vergleich von Verhaltensweisen über Artgrenzen hinweg

Forscher aus dem Umfeld der zunächst vergleichende Verhaltensforschung und später Ethologie genannten Richtung der Verhaltensbiologie waren die ersten, die systematisch das Verhalten unterschiedlicher Arten miteinander verglichen haben. Konrad Lorenz beispielsweise wurde in Fachkreisen vor allem wegen seiner bereits in den 1930er-Jahren publizierten vergleichenden Studien an Enten- und Gänsevögeln geschätzt: Er hatte Verhaltensweisen in ähnlicher Weise zu einander in Beziehung gesetzt, wie dies in der vergleichenden Anatomie schon lange der Fall war. So konnte in einigen Fällen auch die Stammesgeschichte von Verhaltensweisen nachvollzogen werden.

Während das Vergleichen von Verhaltensweisen nahe verwandter Arten als Methode der biologischen Forschung heute allseits akzeptiert ist, lehnen die meisten Verhaltensbiologen – im Unterschied zu Laien – Analogieschlüsse von einer Art zu einer nur entfernt verwandten Art ab. Dies gilt insbesondere für eine Übertragung von menschlichem Verhalten auf Tiere. Auch gibt es kaum experimentelle Untersuchungen, die es beispielsweise zuließen, Stimmungen wie Trauer, Wut, Depressionen u. ä., die dem Menschen eigen sind, auch Tieren zuzusprechen. Dennoch haben zum Beispiel die Experimente von Harry Harlow gezeigt, dass zumindest viele Primaten in Stimmungen versetzt werden können, die denen des Menschen außerordentlich ähnlich sind.

Auch bei domestizierten Tieren, zumal bei solchen, die in natürlicher Umgebung im Rudel leben, lassen sich beim Verlust der Bezugsperson Verhaltensänderungen feststellen, die denen eines trauernden Menschen vergleichbar sind. Dies gilt auch für einige Tierarten, bei denen die ausgewachsenen Individuen in langjähriger sexueller Partnerschaft leben. Durch Konrad Lorenz bekannt geworden ist vor allem das intensive Suchverhalten von weiblichen Graugänsen, die ihren Partner verloren haben.

Die Suche nach den Ursachen von Verhalten

Ein bestimmtes Verhalten kann sowohl durch einfache innere, physiologische Reize (zum Beispiel: Hungergefühl) als auch durch komplexere, aber gleichfalls angeborene Komponenten ("Instinktverhalten"; ein Beispiel ist die Suche nach Futter) ausgelöst werden. Verhalten kann ferner als Reaktion auf Veränderungen in der Umwelt ausgelöst werden; in diesem Fall wird es durch exogene Reize ausgelöst. Eine klare Aussage, in welchem Maße innere und äußere Ursachen für ein bestimmtes Verhalten verantwortlich sind, ist für den Beobachter häufig nicht möglich.

Der Suche nach den Ursachen von Verhalten widmet sich nahezu jede heute entstehende Studie auf dem Gebiet der Verhaltensbiologie; nur noch sehr selten sind rein beschreibende Studien, wie sie die klassische vergleichende Verhaltensforschung und den Behaviorismus auszeichneten. Gleichwohl ist auch heute noch eine klare Beschreibung von Verhaltensweisen stets die Voraussetzung für eine weitergehende Analyse.

Generell lassen sich zwei Arten von Ursachen gegeneinander abgrenzen: die proximaten und die ultimaten Ursachen von Verhalten:

  • proximate Ursachen sind die unmittelbaren Ursachen: Welche inneren (physiologischen, neurologischen, hormonellen) und äußeren (von der Umwelt verursachten) Faktoren erzeugen ein gerade beobachtbares Verhalten?
  • ultimate Ursachen sind die im Verlauf der Stammesgeschichte entstandenen Eigenschaften: Auf der Grundlage welcher Gene und welcher ererbten Verhaltensprogramme vollzieht sich das beobachtbare Verhalten?

Häufig muss zudem eine dritte Ursache berücksichtigt werden:

  • die Einflüsse früher gezeigter Verhaltensweisen: Welche individuellen Erfahrungen (Lernen, Prägung) beeinflussen den Ablauf des beobachtbaren Verhaltens.

Zur Erforschung des Phänomens Verhalten tragen demzufolge viele Forschungsgebiete bei. Neben den diversen Richtungen der Verhaltensbiologie sind dies vor allem:

Beispiele für komplexe Verhaltensweisen

Weblinks


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