- Todestrieb
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Mit dem Todestrieb führte Sigmund Freud einen seiner umstrittensten Begriffe in die Theorie der Psychoanalyse ein. Später wurde dieser Trieb oft auch als Thanatos bezeichnet, wobei hier als Namensgeber der Todesgott Thanatos der griechischen Mythologie fungierte. Der Todestrieb – oft auch im Plural die Todestriebe – bildet den Gegenpol zu den Lebenstrieben (Eros). Freud selbst betonte, dass es sich bei seinen Überlegungen zum Todestrieb um „weitausholende Spekulation“ handelte.
Inhaltsverzeichnis
Allgemein
Der Todestrieb steht, wie der Titel der 1920 verfassten Schrift andeutet, in dem Freud seine Überlegungen zum Todestrieb ausführt, „Jenseits des Lustprinzips“. Der Todestrieb strebt nach Zurückführung des Lebens in den anorganischen Zustand des Unbelebten, der Starre und des Todes. So begreift Freud auch den Wiederholungszwang als Äußerung des Todestriebs, überhaupt das Bestreben des Subjekts nach Erhaltung und Stillstand, wie es unter anderem im ritualisierten Handeln der Zwangsneurose zum Ausdruck kommt.
Regression
Der Wunsch nach Vernichtung des Lebendigen kann sowohl auf das Subjekt selbst als auch auf andere Personen gerichtet sein. Im ersten Fall nimmt der Todestrieb die Form der Autoaggression oder der Regression an, idealtypisch als Wunsch nach einer Rückkehr in den Mutterleib, also einen pränatalen (vorgeburtlichen) Zustand. Regression kann sich aber auch in der fetischistischen Faszination für unbelebte Dinge ausdrücken, in extremen Fällen bis hin zur Nekrophilie und Koprophilie. Freud bringt den Todestrieb schließlich auch mit dem analen Charakter in Verbindung.
Aggression
Richtet sich der Todestrieb auf andere Menschen, äußert er sich in einem Destruktionstrieb, dem Wunsch zur Zerstörung und Verletzung Anderer, in abgeschwächter Form etwa in der sexuellen Spielart des Sado-Masochismus. Doch Aggression muss nicht immer zerstörerisch sein – oft dient sie gerade der Erhaltung des Lebens, dem Tod also entgegengewirkt. Zudem kann destruktive Triebenergie – über den Umweg der Sublimierung – auch in produktive, etwa künstlerische Tätigkeiten umgewandelt werden.
Im psychoanalytischen Konzept der „Psyche“ handelt es sich beim Todestrieb um einen dem Lebenstrieb bzw. der Libido entgegengesetzten Trieb. Während der Eros nach Zusammenhalt und Vereinigung tendiert, strebt der Todestrieb nach Auflösung dieser Einheit, nach Verstreuung und Auflösung von Bindung. Im Normalfall gehen Todes- und Lebenstrieb jedoch eine Vermischung ein, sofern etwa zu einer gesunden sexuellen Beziehung immer auch eine aggressive Beimischung gehört, um den Partner zu „erobern“. Die Störung des Gleichgewichts der beiden Tendenzen führt zu psychischer Erkrankung.
Krieg und destruktiver Charakter
Eine besondere Rolle bei der Entwicklung der Konzeption des Todestriebs spielte für Freud dabei die Erfahrung des Ersten Weltkriegs, der ein bis dahin noch nie erlebtes Ausmaß an menschlicher Zerstörungslust offenbarte. Erich Fromm analysierte in seiner Schrift Anatomie der menschlichen Destruktivität (1973) unter anderem Adolf Hitler und Heinrich Himmler als „destruktive“, auf pathologische Weise vom Todestrieb beherrschte Charaktere.
Rezeption
Freuds Konzeption eines Todestriebs, an der er bis zu seinem Tod festhielt, blieb auch unter orthodoxen Vertretern der Psychoanalyse heftig umstritten. Viele Analytiker verneinten die Hypothese eines ursprünglichen Todestriebs, und versuchten stattdessen, Aggression als Reaktion auf Entsagungen und Frustrationen zu verstehen. Auch verleite das Todestriebmodell dazu, die produktiven Aspekte der Aggression zu übersehen.
Dennoch dauerte es über ein Jahrzehnt, bis sich innerhalb der Freud-Schule öffentliche Kritik artikulierte. Wilhelm Reich, in den 1920er Jahren eines der angesehensten Mitglieder der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV), schrieb 1931 einen Artikel, in dem er behauptete, die Todestriebtheorie widerlegt zu haben. [1] Freud fasste nach der Lektüre des Manuskripts laut seinem Tagebuch den Entschluss, „Schritte gegen Reich“ zu unternehmen. [2] Er ließ den Artikel zwar passieren, bewirkte aber, dass Reich 1934 aus der IPV ausgeschlossen wurde. [3]
Die Debatte über den Todestrieb wurde innerhalb der Psychoanalyse sehr heftig geführt, da sie z. T. auch ideologische Ebenen berührte. Kommunistisch und marxistisch orientierte Psychoanalytiker wie Wilhelm Reich oder Otto Fenichel wandten sich entschieden gegen das Postulat eines Todestriebes jenseits des Lustprinzips. Auch, so wurde kritisiert, lasse sich mit einer solchen Theorie viel Missbrauch betreiben. Krieg, Völkermord, Kriegsverbrechen, ebenso auch soziale und ökonomische Ausbeutung etc. würden auf eine biologische Ebene zurückgeführt und damit als unabänderlich legitimiert. Die kritische Analyse der konkreten Ursachen für Aggression und Zerstörungswut werde damit hinfällig. Für Reich sind diese Phänomene nicht jenseits, sondern innerhalb des Lustprinzips zu verstehen: Erst die durch die gesellschaftlichen Institutionen (Familie bis Staat) vermittelte Unterdrückung und Entfremdung von den libidinösen Grundbedürfnissen forme freiheitsunfähige und die Freiheit, hiermit auch die Sexualität hassende Menschen mit einer sado-masochistischen Grundstruktur.
Andere Nachfolger Freuds, vor allem aus der Richtung Melanie Kleins und Jacques Lacans, verteidigten die Idee des Todestriebs ausdrücklich. So schreibt Lacan: „Wer […] den Todestrieb aus seiner Lehre weglässt, verkennt diese total.“ (Lacan: Subversion des Subjekts, S. 177)
Lacan weicht jedoch von Freuds Konzeption entscheidend ab, wenn er den Todestrieb nicht als einzelnen Trieb versteht, sondern als Aspekt, der jedem Trieb innewohnt. Auch identifiziert er den Todestrieb nicht mit der Rückkehr zum Anorganischen, also einen vorkulturellen Zustand der Natur, sondern als Bestandteil von Kultur selbst: Der Todestrieb ist für ihn kein biologischer Begriff, sondern gehört der „symbolischen Ordnung“ an. (vgl. Evans: Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse, S. 307 f.)
Literatur
- Sigmund Freud: Jenseits des Lustprinzips (1920), in: Studienausgabe, Band III: Psychologie des Unbewußten, Fischer, Frankfurt am Main 1975, ISBN 3-10-822703-3, S. 213-272.
- Jacques Lacan: Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freudschen Unbewussten (1960), in: Schriften II, 3., korrigierte Auflage, Quadriga, Berlin / Weinheim 1991, ISBN 3-88679-901-8, S. 165-204.
- Erich Fromm: Anatomie der menschlichen Destruktivität (Originaltitel: The Anatomy of Human Destructiveness 1973, übersetzt von Liselotte und Ernst Mickel), Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1977 (Erstausgabe DVA, Stuttgart 1974), ISBN 3-499-17052-3.
- Peter Zagermann: Eros und Thanatos. Psychoanalytische Untersuchungen zu einer Objektbeziehungstheorie der Triebe, : WBG, Darmstadt 1988, ISBN 3-534-03055-9.
- Dylan Evans: Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse, Turia und Kant, Wien 2002, S. 306-308 ISBN 3-85132-190-1.
- Wilhelm Reich: Charakteranalyse. Technik und Grundlagen für studierende und praktizierende Analytiker. Selbstverlag, s.l. 1933; erweiterte Ausgabe: Kiepenheuer & Witsch, Köln 1970 (in beiden: Kap. Der masochistische Charakter).
Weblinks
- Literatur zum Schlagwort Todestrieb im Katalog der DNB und in den Bibliotheksverbünden GBV und SWB
- Jochen Ehlers: Zum Schicksal des Todestriebes in der Psychoanalyse. Diplomarbeit, Universität Bremen, 1995.
- Carl Nedelmann: Turning a blind eye: Ein Auge zudrücken (…) Artikel aus: Wissenschaft & Frieden. Heft 1/1986.
Einzelnachweise
- ↑ Wilhelm Reich: Der masochistische Charakter. Eine sexualökonomische Widerlegung des Todestriebes und des Wiederholungszwanges. In: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, Band 18, 1932, S. 303-351; später aufgenommen als Kapitel in Reichs Buch Charakteranalyse (1933; erw. Fassung 1970ff)
- ↑ Sigmund Freud: Kürzeste Chronik. Tagebuch 1929-1939. Hg. v. Michael Molnar. Frankfurt/M.: Stroemfeld 1996; Eintrag vom 1. Januar 1932
- ↑ Vgl. dazu anonym (=Reich): Der Ausschluss Wilhelm Reichs aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung sowie Karl Fallend / Bernd Nitzschke (Hg.): Der 'Fall' Wilhelm Reich. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997
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